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Ausgabe:

1893 Nr. 16

Spalte:

405-408

Autor/Hrsg.:

Rieker, Karl

Titel/Untertitel:

Die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands in ihrer geschichtlichen Entwickelung bis zur Gegenwart 1893

Rezensent:

Köhler, Karl

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405 Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 16. 406

keit für die Vergleichung wäre vielleicht nach die Hervorhebung
des Umftandes gewefen, dafs auch die im Grunde
wirkende Tendenz bei beiden Autoren die gleiche ift,
der ausgeprägte Gegenfatz nämlich zu dem Standpunkte
der ,zweifachen Wahrheit', die Ueberzeugung von der
Vereinbarkeit natürlicher und geoffenbarter Erkenntnifs.

Als die Unterfchiede beider Theorien weifs der
Verf. hervorzuheben, dafs bei L. die metaphyfifche Betrachtung
weniger ftark in der abftract-logifchen als in
der dynamifchen Richtung liegt, in der äffhetifchcn Beweisführung
aber bei Th. das Univerfum mehr objectiv
(als befeeltes Kunftwerk) erfcheint, während bei L. mehr
feine fubjective Wirkung auf den Betrachter heraustritt.
Wichtiger wäre es betreffs diefes Punktes gewefen, eine
Frage ins Auge zu faffen, der die Unterfuchung geflif-
fentlich aus dem Wege geht, ob und inwieweit nämlich
eine hiftorifche Bedingtheit der Anficht Leibnizens von
Seiten derScholaftik, mit der er bekanntlich wohl vertraut
war, fich geltend macht. Diefe Frage erhebt fich namentlich
angefichts der unverkennbaren Thatfache, dafs in
der L.'fchen Theodicee innerhalb des augenfeheinlich
.thomiftifchen'Gedankengewebes ein entfehieden ,fcoti(ti-
fcher' Einfchlag fich nachweifen läfst. Gerade hinficht-
lich des ausfchlaggebenden Arguments hat neuerdings
bereits Windelband (Gefch. d. Philof. Freib. 1892, S. 335,
387) darauf hingewiefen, dafs darin eine eigenthümliche
Mifchung fcotiftifcher und thomiffifcher Metaphyfik zu
Tage trete. Im Sinne der erfteren ift es, wenn bei L.
die ,Contingenz' der Dinge und der Welt überhaupt auf
den Willen Gottes zurückgeführt wird; in der Richtung
der letzteren dagegen liegt die Beftimmung, dafs in der
Wahl unter den verfchiedenen möglichen Welten der
göttliche Wille an den göttlichen Verftand d. h. an die
in ihm liegenden ,ewigen Wahrheiten' gebunden und mithin
auch in Gott der Wille nicht über, fondern unter
dem Intellect ift.

Giefsen. H. Sieb eck.

Rieker, Privatdoz. Lic. Dr. Karl, Die rechtliche Stellung
der evangelischen Kirche Deutschlands in ihrer gefchicht-
lichen Entwickelung bis zur Gegenwart. Leipzig, Hirfch-
feld, 1893. (XV, 488 S. gr. 8.) M. 10.—
Der Verf., welcher fich bereits durch zwei tüchtige
Monographien (Die ev. Kirche Württembergs in ihrem
Verhältnifs zum Staat 1887, und Die rechtliche Natur des
ev. Pfarramts 1891) auf dem Gebiete der Kirchenrechts-
wiffenfehaft rühmlich bekannt gemacht hat, tritt hier zum
erftenmal mit einem umfaffenden Werke auf den Plan.
Ref. fleht nicht an, dasfelbe als eine bedeutfame und werthvolle
Erfcheinung zu begrüfsen. Das Buch ift erfichtlich
die Frucht eines eingehenden und umfaffenden Studiums,
es zeugt von ficherem gefchichtlichem Blick und gutem,
felbffftändigem Urtheil. Zu der verbreiteten Auffaffung
des behandelten Problems tritt der Verf. in entfehiedenen
Widerfpruch. Die communis opinio geht dahin, dafs die
Entwickelung, welche die rechtliche Stellung der ev.
Kirche in Deutfchland bis zur neueren Zeit erfahren hat,
den Grundfätzen und den Idealen der Reformation keineswegs
entfpreche. Statt dafs es zu einer auf dem Grunde
des Gemeindeprincips fich felbft regierenden, dem Staate
felbftändig gegenüber flehenden ev. Kirche gekommen
wäre, fei diefelbe infolge eines Zufammentreffens von
widrigen Umftänden aller Art im Staate untergegangen
und ringe fich erft jetzt aus der für fie tödlichen Ver-
fchlingung mit dem Staate zu gebührender Selbftändig-
keit hervor. Statt deffen behauptet der Verf.: das urfprüng-
liche Ideal des Proteftantismus war nicht eine neben dem
Staate und in irgend einem Verhältnifs zu ihm flehende
evangelifche Kirche, fondern ein, Kirche und Staat in
Einem zufammenfaffendes chriftliches Gemeinwefen. Die
Abftracta Kirche und Staat kennt das reformatorifche

Bewufstfein nicht, fondern nur die beiden Functionen
des geiftlichen Amtes und der weltlichen Obrigkeit in
derfelben Chriftenheit, beide auf dasfelbe Ziel gerichtet,
verfchieden nur in ihren Mitteln und der Art und Weife
j ihrer Wirkfamkeit. Die Reformatoren haben ein neues
1 Syftem in diefer Richtung nicht aufgeftellt; das Syftcm,
das fich bei ihnen findet, namentlich bei Luther, ilt kein
anderes, als das fich fchon in der letzten Zeit des Mittelalters
entwickelt hatte. Die Reformatoren haben es von
dort herübergenommen nur mit dem Unterfchiede, dafs
fie dem geiftlichen (bifchöflichen) Amte alle Zwangsgewalt
abfprachen und es lediglich auf den Gebrauch
von Wort und Sacrament anwiefen. Von da aus haben
fich die Verhältnifse normal entwickelt. Eine Störung
ift nur eingetreten, als im Zufammenhang mit dem Nach-
laffen des religiöfen Intereffes das Naturrecht aufkam und
mit ihm die Betrachtung der Kirche als eines Collegiums,
| eines durch die Willkür feiner Mitglieder beftehenden
Vereins. Auf dem naturrechtlichen Kirchenbegriff ruht
der Territorialismus wie der Collegialismus, beide qualitativ
nicht von einander verfchieden. Das Territorial-
fyftem, weit entfernt, wie die gewöhnliche Annahme ift,
das volle Aufgehen der Kirche im Staat zu bedeuten,
ift vielmehr der erfte Schritt zur Löfung des Einheitsbandes
zwifchen beiden. Hier zuerft erfcheint die Kirche
als ein von dem Staate wenigftens begrifflich verfchie-
denes Wefen, ein Verein mit anderen Zwecken als der
Staatsverein; der letztere erkennt beftimmte Schranken
feiner auf die Kirche gerichteten Thätigkeit. Das Col-
legialfyftem, welches den Territorialismus ablöfte, hat
nachmals den Verfuch gemacht, für die ev. Kirche ein
eigenes Vereinsregiment zu conftruiren, wenn dasfelbe
auch zunächft mit dem Staatsregiment zufammenfiel,
worüber man fich durch die bekannte Uebertragungs-
theorie hinwegzuhelfen fuchte. Auf demfelben Weg bewegen
fich die neueren Verfaffungsreformen weiter. Zu
Grunde liegt überall der naturrechtliche Begriff derKirche,
doch hat derfelbe die durch die Reformation gefchaffene
Ineinsbildung von Staat und Kirche noch nicht löfen können
. Das Staatsregiment in der ev. Kirche währt unter
dem Namen des landesherrlichen Kirchenregimentes fort,
die übliche Auffaffung dcsfelben als blofses Annexum
der Staatsgewalt, die Unterfcheidung zwifchen dem jus
circa sacra und dem jus in sacra, für welches letztere,
fofern es fich im Befitz des Staatsoberhauptes befindet,
nach einem eigenen Rechtstitel gefucht wird, verhüllen
nur unvollkommen den Thatbeftand.

Das Bild des kirchenpolitifchen Zuftandes, wie ihn
die Reformatoren gedacht haben, hat der Verf. unzweifelhaft
richtig gezeichnet. Er hat vollko mmen Recht, wenn
er fagt, dafs die Frage nach dem Verhältnifs zwifchen
Kirche und Staat vom Standpunkte der Reformatoren
gar nicht zu beantworten fei, weil Kirche und Staat für
diefe nicht zwei unterfchiedene, neben einander beftchende
Einheiten find. Aber ob man berechtigt ift, in jenem Bilde
das kirchenpolitifche Ideal der Reformation zu fehen, fragt
fich doch fehr. Der Verf. fcheint oft zu vergeffen, dafs
jenes Syftem, wie es Luther in feiner Schrift an den
chriftl. Adel vor Augen gehabt, und wie es nachmals in
der Lehre von den drei chriftlichen Ständen feine Darfteilung
gefunden hat, feinem eigenen richtigen Urtheil
nach ein mittelalterliches ift. Es ift aus der vorreforma-
torifchen Zeit herübergenommen, nicht aus den eigen-
thümlichen Grundgedanken der Reformation frei herausgebildet
. Der Einwand, dafs es den unverlierbaren
proteftantifchen Gedanken der Gewiffensfreiheit nicht zu
feinem vollen Recht kommen laffe, ift doch nicht fo leicht
zu befeitigen, wie der Verf. anzunehmen fcheint. Er beruft
fich darauf, dafs die Proteftanten im 16. Jahrhundert
gar nicht Gewiffensfreiheit in heutigen Sinne des Wortes,
d. h. das gleiche Recht zur Aeufserung jeder, auch fal-
fchen religiöfen Ueberzeugung für Alle, gefordert haben,
fondern nur Freiheit für den rechten, fchriftmäfsigen