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Ausgabe:

1893 Nr. 10

Spalte:

255-256

Autor/Hrsg.:

Le Conte, Jos.

Titel/Untertitel:

Evolution: Its Nature, its Evidences, and its Relation to Religious Thought. Revised edition 1893

Rezensent:

Clemen, Carl

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255

Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 10.

256

Gottesbeweife als Elemente einer umfaffenden Argumentation
erkennt, indem der kosmologifche auf einen unendlichen
Willen führt und der teleologifche diefen
Willen mit Hilfe der Entwicklungslehre, die, wie von
zahlreichen frühern englifchen Theologen, fo auch von
L. with a truth-loving readiness anerkannt wird, ganz
anders als früher als zweckfetzend erkennen lehrt. —
Die Erbfünde wird verworfen; aber eine fich fortpflanzende
böfe Luft und eine Menfchheitsfchuld angenommen
. — Die Gottheit Chrifti nebft der Präexiftenz
und Kenofe bleibt beftehen; aber feine Incarnation war
eine kosmifche Nothwendigkeit und wurde durch die
Sünde nur ihrer Form nach beftimmt. Die Verföhnung
foll zwar von Bufse und Glaube abhängig gemacht
werden, gilt aber doch vermöge der Zufammengehörig-
keit der Menfchheit mit Chrifto als ihrem Haupt und
Repräfentanten als im Augenblick feines Todes objectiv
vollzogen. Der rechtfertigende Glaube erfcheint als die
rechte Herzensftellung in der Nachfolge Chrifti (lieart-
righteousness evinced in discipleship of Christ); die
Rechtfertigung felbft als Vorausnahme unferer wirklichen
Gerechtigkeit {anticipative deed dependent on our most
real renunciation of sin in soul and purpose). Die Kirche
endlich ift die fichtbare Repräfentantin des abwefenden
Herrn, geftiftet zur Ausbreitung der Incarnation vom
Haupt nach den Gliedern: alles wefentlich dem englifchen
Highchurchism eigentümliche Gedankenreihen, die offenbar
zu jenen frühern methodifchen Grundfätzen nicht
durchaus ftimmen.

Ebenfo widerfpricht es wenigftens der freiem Stellung
zur Schrift, von der oben die Rede war, wenn das letzte,
efchatologifche Lehrftück im wefentlichen doch auf fie
aufgebaut wird. Indefs wird eine Entwicklung nach dem
Tode angenommen, der Univerfalismus aber abgelehnt,
wie das in der That jetzt durchgehende Anfchauung der
englifchen Kirchen ift (vgl. a. a. O. 616 ff.).

Man fleht, das ,moderne chriftliche Denken' ift bei
unferm Verf. naturgemäfs wefentlich englifch gefärbt.
Doch ift er, wie überhaupt in bewunderswerther Weife
mit der Weltliteratur vertraut, fo auch bis auf ihre
jüngften Erzeugnifse in der deutfchen Theologie zu
Haus. Vielleicht erklärt fich dadurch fein manchmal
etwas fchwerfälliger Stil, den wir fonft in englifchen und
franzöfifchen Werken fo gern vermiffen. Sachliche Ver-
fehen find mir nur auf S. 143, 1 bezüglich eines Citats
aus Weifs' biblifcher Theologie, ftiliftifche und ortho-
graphifche Fehler ebenfalls nur in deutfchen Citaten
aufgefallen. Zum Schlufs fpreche ich den Wunfeh aus,
dafs wir bald eine ebenfo handliche Darfteilung des
gegenwärtigen Zuftands der modernen Theologie in
Deutfchland bekommen möchten, die man jenen eingangs
erwähnten Kritikern zunächft einmal entgegenhalten
könnte.

Halle a. S. Carl Clemen.

Le Conte, Jos., Evolution: Its Nature, its Evidences, and
its Relation to Religious Thought. Revised edition;
London, Chapman and Hall, 1892.

Principal Gore, der Herausgeber des bekannten
hochkirchlich-liberalen Sammelwerks LuxMundi, bezeichnete
vor kurzem das vorliegende Buch als die befte
Darftellung der Entwicklungslehre. Für deutfehe Lefer
dürfte an ihr noch befonders die Statuirung eines
Unterfchieds zwifchen der menfehlichen und der fonftigen
organifchen Entwicklung und in diefer die Anerkennung
noch anderer Faktoren als der von Darwin angenommenen
werthvoll fein.

Und doch würden wir deshalb allein das Buch hier
nicht zur Anzeige bringen. Der Verf. felbft bezeichnet
als feinen Hauptzweck die Unterfuchung der religiös-
fittlichen Confequenzen des Evolutionarismus (276).

Freilich ift nun feine eigene Löfung des Widerfpruchs
zwifchen Glauben und YViffen — fo formulirt er von
vornherein fein Problem — weder neu noch befriedigend
. Die Naturkräfte gelten als die verfchiedenen
Formen der einen, allgegenwärtigen, immer mehr fich
individualifirenden göttlichen Energie, die wir nur deshalb
zugleich perfönlich nennen, weil auch hinter den
phyfifchen Veränderungen unferes Gehirns pfychifche
Vorgänge liegen! (301. 318f. 339. 349. 353k Immerhin
kommt der Verfaffer hier wieder auf die Teleologie in
der Natur zu fprechen, die man fo oft thörichterweife
durch die Entwicklungslehre ohne weiteres befeitigt
wähnt (346. 357).

Und in der entfprechenden vorangehenden Darlegung
der Bedeutung des Evolutionarismus für den religiöfen
Glauben fehe ich nun allerdings ein hervorragendes
Verdienft des Buchs. Wie jetzt von jenem, fo befürchtete
man früher von dem kopernikanifchen Weltfyftem, dann
dem Gravitationsgefetz, endlich den Entdeckungen der
Geologie den Ruin des Chriftenthums (280 ff.). Aber es
ift bisher aus all diefen Kämpfen nur gereinigt und ge-
ftärkt hervorgegangen (284). Freilich jetzt wird die
Entwicklungslehre meift materialiftifch dargeftellt (28of.).
Aber an fich kann fowohl ,die Natur', als Gott auf jene
Weife wirken (289). Ja, man mufs hier Leconte nach
anderen englifchen Naturforfchern dahin ergänzen, dafs
jene .Faktoren' allein den Fortfehritt noch nicht erklären
, dafs es dazu vielmehr der Annahme eines zweckfetzenden
Willens bedarf, der durch diefelben wirkt.
Auch die Bedeutung des Evolutionarismus für die Theo-
dicee, an der man jetzt gewöhnlich kurzfichtiger und
voreiliger Weife überhaupt verzweifelt, hat der Verf.
nur unvollkommen gefchildert (365 ff.). Aber trotzdem
kann er auch fo fchon prophezeien: ,Noch ein paar
Jahre, und Chriften werden die Entwicklungslehre nicht
nur annehmen, fondern wegen der höhern Begriffe von
Gott und Welt, die fie bietet, lieb und werth halten' (283).

Halle a. S. Carl Clemen.

Chadwick, John W., Religion ohne Dogma. Sechs Vorträge
. Autorifirte Uebertragung aus dem Englifchen
von Alex. Fleifchmann. Berlin, Bibliograph.
Bureau, (1891). (IV, 145 S. 8.) M. 2.50.

— Dasfelbe. Neue Folge. Autorifirte Uebertragung aus
dem Englifchen von L. Fleifchmann. Ebd., 1893.
(IV, 124 S. 8.) M. 2.50.

Der Verf. diefer Vorträge wirkt als Geiftlicher der
Unitarifchen Kirche in Brooklyn. Seine in Brofchüren-
form veröffentlichten Kanzelvorträge— Predigten können
fie nicht wohl genannt werden — follen maffenhaft in
Amerika und Auftralien verbreitet fein. Eine Auswahl
derfelben hat Alex. Fleifchmann durch feineUeberfetzung
weiteren Kreifen in Deutfchland zugänglich machen wollen.
Ein .Familienmitglied' diefes erften, inzwifchen verdorbenen
Ueberfetzers, L. Fleifchmann, hat dann eine zweite
Serie von Vorträgen überfetzt.

Ueber den Gedankeninhalt diefer Vorträge wird
man vollftändig orientirt durch die beiden Anfangs-
abfehnitte des erften Bandes. In dem einleitenden Auf-
fatz: .Warum ich Unitarier bin' werden als entfeheidende
Grundfätze der Unitarier folgende drei hingeftellt: ,1. Das
Recht und die Pflicht eines jeden, feine freieften Gedanken
bei den höchften Dingen anzuwenden; 2. Das
Recht und die Pflicht, die Vernunft zum entfeheidendem
Prüfftein für die Wahrheit zu machen; 3. Das Ueber-
gewicht des Charakters über das Glaubensbekenntnifs,
der Lebensführung über den Glauben' (S. 12). Unter
dem Begriffe .Glauben' find hier, wie fich aus der Ausführung
S. 15 ergiebt, ,Anflehten' verftanden. Als weitere
charakteriftifche Grundfätze, in denen wenigftens die
meiften Unitarier übereinftimmen und die den Verf. be-