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Ausgabe:

1893 Nr. 10

Spalte:

251-253

Autor/Hrsg.:

Löw, Leopold

Titel/Untertitel:

Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Immanuel Löw. III. Bd 1893

Rezensent:

Schürer, Emil

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 10.

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wir die Lieder befitzen, und die, in der fie gedichtet
wurden, gleichgefetzt wird, und man daher ergründen
und beweifen will, wofür uns die Möglichkeit fehlt, macht
fich hier nach der entgegengefetzten Richtung bemerklich.
Dazu kommt bei Sellin, dafs der gewählte Gegenftand
eine Beherrfchung des Gebietes nicht nur dem Umfange
nach, fondern auch eine Vertiefung, ein Leben darin vorausfetzt
, mit einem Worte, eine eigene religionsgefchicht-
liche Gefammtanfchauung, wie fie erft durch jahrzehntelange
eingehende und planmäfsigeBefchäftigunggewonnen
werden kann. So zerfplittert fich die ganze Beweisführung
in Einzelnheiten, ohne die verhältnifsmäfsige Stärke der
Gefammtanfchauung des Gegners zu erkennen, und es
geht, wie fo oft, dafs nach fcheinbar fiegreicher Bekämpfung
jedes einzelnen Grundes deren Summe für
den Einfichtigen noch unerfchüttert dafteht. Nicht minder
beweift der Verf. von feinem eigenen Standpunkte aus
zu viel; denn wäre ihm fein Nachweis wirklich gelungen,
fo liefse er fich mit leichter Mühe auf den gröfsten Theil
des Pfalters ausdehnen. Auch im Einzelnen verräth der
Verf. trotz alles aufgewandten Fleifses nicht feiten, dafs
ihm der erforderliche Ueberblick über das gefammte
Gebiet noch nicht zur Verfügung fleht. Was foll man
dazu fagen, wenn er auf Seite 63 geordnete und befriedigende
innere Zuftände in der Zeit nach Esra auch
damit beweifen will, dafs damals die fogenannte Grofse
Synagoge geblüht habe? Mit fehr fchwachen Gründen
verfucht der Verf. S. 123—125 gegen Stade die Echtheit
von Hab. 3 und Jef. 32. 33 zu vertheidigen; auch feine
Meinung über Jef. 38 (S. 24), Pf. 18 (S. 46), Sam. II, 23,
I—7 (S. 47) beruht auf fehr unficheren Grundlagen.

Immerhin aber enthält das Buch auch viel Beherzigens-
werthes und dauernd Nützliches. Der Verf. hat Recht,
wenn er den Schlufs aus dem gottesdienftlichen Gebrauche
auf gottesdienftliche Beftimmung nicht ohne weiteres
zugiebt, nicht minder, wenn er für zünftigen Kirchengefang
vor der Verbannung Ez. 40, 44 anführt und überhaupt
die Meinung, dafs damals von kunftvollem Gefang
noch wenig die Rede gewefen, zurückweift. Gutes oder
doch der Ueberlegung Werthes bietet die Unterfuchung
über die Anzeichen für oder gegen urfprüngliche gottesdienftliche
Beftimmung eines Liedes S. 15 ff., und ähnlich
neben manchem Irrigen die über die Möglichkeit
religiöfer Aeufserungen der Einzelperfon und deren Anzeichen
S. 24 ff. Nützlich find in jedem Pralle die reichhaltigen
Verzeichnifse von Stellen, fo für Parteiungen
und Gegenfätze im Volke S. 49 f., für gewiffe Vorftel-
lungen und Begriffe in dem ganzen biblifch-theologifchen
Abfchnitt immer von neuem, die fprachlichen Verzeichnifse
S. 94 ff., die der Entlehnungen und Anklänge
S. in ff. Alles dies ift in gleicher Ueberfichtlichkeit
und Vollftändigkeit fonft nicht zu finden, und der hingebende
Fleifs des Verfaffers ift hier nicht nutzlos aufgewandt
.

Strafsburg i/E. K. Budde.

Low, Leop., Gesammelte Schriften. Herausgegeben von
Immanuel Low. 3. Bd. Szegedin, A. Baba, 1893.
(VII, 484 S. gr. 8.)

Die beiden erften Bände diefer Sammlung hat Ref.
in der Theol. Litztg. 1891, 273 angezeigt. Was dort
über den Charakter von Löw's Arbeiten im Allgemeinen
gefagt wurde, gilt auch in Bezug auf diefen dritten
Band. Ausgebreitete gründliche rabbinifche Gelehrfam-
keit, ruhiges Urtheil und gefällige Darfteilung zeichnen
die Arbeiten des Verfaffers aus. Die in diefem Bande
vereinigten Auffätze find fämmtlich früher in der Zeit-
fchrift ,Ben Chananja' erfchienen. Ihre Themata liegen
allerdings dem Intereffe des chriftlichen Theologen nicht
unmittelbar nahe, da fie meift das Gebiet des jüdifchen
Rechtes, und zwar in feiner Anwendung auf moderne

Verhältnifse betreffen. Aber gerade diefer Umftand verleiht
ihnen in ihrer- Gefammtheit doch ein hervorragendes
Intereffe für Jeden, welcher der Entwickelung des
modernen Judenthums feine Aufmerkfamkeit zuwendet.
Low ift ein claffifcher Repräfentant derjenigen Richtung,
welche die Grundlagen des talmudifchen Judenthums
feftzuhalten, dabei aber doch den modernen Anfchauungen
I gerecht zu werden fucht. So gehen feine juriftifcnen
I Unterfuchungen immer von der talmudifchen Grundlage
aus; aber er verfteht es, von hier aus ohne Sprung und
Bruch zu Refultaten zu gelangen, welche mit den An-
fprüchen der modernen, fagen wir chriftlich-humaniftifchen
Bildung verträglich find.

Etwa drei Viertel des ganzen Bandes nehmen ,ehe-
rechtliche Studien' ein (S. 13—334)- Sie ruhen auf
breiter hiftorifcher Grundlage. Die einzelnen Inftitutionen
werden in der Regel in ihrer Entwickelung von der
biblifchen Zeit bis zur Gegenwart verfolgt. Sehr ausführlich
wird namentlich die Geftattung oder Nicht-Ge-
ftattung der Polygamie (S. 33—86) und das Verbot der
Mifch-Ehen mit Nicht-Juden oder Halb-Juden (S. 108—
200) behandelt. In erfterer Hinficht wird manchem
Theologen der Nachweis neu und überrafchend fein,
dafs die Polygamie bei den Juden nicht nur in der talmudifchen
Zeit, fondern auch noch im deutfchen Mittelalter
geplattet war und nicht ganz feiten vorkam. Zwar
hat bereits R. Gerfchom im 11. Jahrhundert den Bann
gegen den ausgefprochen, der zwei Frauen heirathen
würde (S. 68). Aber es hat noch längere Zeit gedauert,
bis die Monogamie bei den frankogermanifchen Juden
zu unbedingter Geltung kam (S. 68 ff.). Ueberfehen ift
von Low die interefiante Stelle bei Jultin, wo er von
den jüdifchen Lehrern fagt, dafs fie^ y.ai iir/Qt vvv nai
Ttooayug xtti nevre tysiv vfiäg yvvulxag suctorov ovy%w-
qovol {Dial. c. Tryph. c. 134). Die Richtigkeit diefer
Angabe wird durch die Mifchna beftätigt (f. meine Gefch.
des jüd. Volkes I, 336).

Die übrigen acht Auffätze diefes Bandes behandeln:
Die Pflege der talmudifchen Alterthumskunde (S. 1 —11),
Die moralifche Zeugen- und Eidesfähigkeit (S. 335 — 345),
,Dina de-Malekhutha Dina', d. h. ,Das Gefetz der Regierung
ift Gefetz', alfo über die Unterordnung der Juden
unter das Staatsgefetz (S. 347—358), Die Dispenfation
von Gelöbnifsen (S. 359—366, es wird gezeigt, dafs eine
folche nur in Bezug auf promifforifche Gelübde, nie in
Betreff ,eines affertorifchen Eides' ftattfand), Zur Medicin
und Hygiene (S. 367—406, fpeciell über Dampfbäder in
der talmudifchen Zeit, über Aerzte, Aderlaffen und
Schröpfen und den Kaiferfchnitt), Kranz und Krone
(S. 407—437), Blumen auf Gräbern (S. 439—448), über
Grabfchriften (S. 449—460).

Welcher Art die behandelten Themata find, möge
hier noch durch ein Beifpiel illuftrirt werden. Ein
jüdifcher Commis in Belgrad pflegte auch am Sonnabend
feinen gefchäftlichen Verpflichtungen nachzugehen, alfo
das Sabbathgebot nicht zu halten. Seine Ehefrau aber
führte eine auch von Israeliten befuchte Reftauration.
Obwohl nun gegen fie kein Verdacht vorlag, dafs fie
unkofchere Speifen verabreiche, unterfagte doch der
Rabbiner in Belgrad den Israeliten den Befuch des
Speifehaufes, widrigenfalls fie fo betrachtet würden, als
hätten fie ein unreines Speifehaus befucht. Da der
Commis öfterreichifcher Unterthan war, wandte fich der
öfterreichifche Conful im Intereffe des Gefchädigten am
2. Mai 1861 an Low mit der Bitte um ein Gutachten.
Diefer gab dasfelbe unter ausführlicher Motivirung
dahin ab, dafs das Vorgehen des Belgrader Rabbiners
— durch Verhängung von Strafen die Beobachtung des
Ceremonialgefetzes zu erzwingen — zwar den Anfchauungen
der orientalifchcn Rabbinen entfpreche. ,In
den civilifirten Ländern Europa's aber betrachten die
Rabbinen, und zwar auch die orthodoxeften unter den-
felben, alle auf die Excommunication und die materielle