Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1893 Nr. 9

Spalte:

236-238

Autor/Hrsg.:

Drummond, Henry

Titel/Untertitel:

Das Naturgesetz in der Geisteswelt 1893

Rezensent:

Thoenes, Karl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

235

Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 9.

236

lieh davon abzuhängen', ,ich vermag mich diefer An-
fchauung nicht durchaus anzufchliefsen', ,Es wäre ver-
meffene Thorheit, von diefen Dingen in dogmatifchen
Formeln und Beweisführungen zu handeln. Doch fcheint
mir, ift ein negativer Dogmatismus nicht mehr (!) am
Platze'. Statt einer ficheren inneren Anfchauung erhalten
wir geiftreiche ausgleichende Reflexionen, die fo oder
auch anders ausfallen könnten. Kurz Alles, was der Verf.
vorträgt, bleibt fchillernd und unbeftimmt.

Ich wende mich zum Einzelnen und fage zuerft ein
Wort über die Ethik. Zwar erkennt der Verf. eine ursprüngliche
Wefensbeftimmung, einen Wefenwillen oder
Grundwillen an, der nur erft unter ungünftigen Entwicklungsbedingungen
verkümmere. Doch bekümmert er
fich weder um deffen Inhalt als folchen, noch fragt er,
wie ein folches Urfprüngliche möglich und näher zu
denken fei. Nach ihrer ganzen Begründung und ihrer
.eigentlichen Aufgabe' ift feine Ethik vielmehr eine Teleo-
logie, die das Sittliche nur als Sitte fieht, welche durch
äufsere Zwecke, die phyfifche Wohlfahrt, bedingt ift,
aber von dem intuitiv erfafsten inneren abfoluten Zwecke
jenes Grundwillens nichts weifs. ,Ein guter Wille ift
zuletzt doch gut, weil er zu etwas gut ift'. ,Das Gewiffen
ift in feinem Urfprung (!) nichts anderes als das Wiffen
um die Sitte'. Die Lüge erweift fich nicht an fich felbft
als fchlecht, fondern durch ihre Wirkungen, weil fie der
Selbfterhaltung der Gattung widerfpricht. Das hat übrigens
bereits des Verf.'s Landsmann, der Hufumer Hugo Delff,
gefehen und mit Härte getadelt. Vgl. deffen Philofophie
des Gemüths S. 50 ff.

Dem entfpricht nun die Metaphyfik. Der Verf. fucht
in fehr anziehender Weife zunächft den einzelnen Gedankenbildungen
, z. B. dem Materialismus, foweit es angeht
, ihr Recht zu wahren, um fie dann erft durch andere
zu ergänzen, wann ihre Tragweite abbricht. Sein eigener
Idealismus gründet fich auf den Gedanken der Allbefeelung:
Paulfen ift Pantheift. Mit Plato, Leibniz, Berkeley, Kant
und vielen anderen ift ihm nämlich die Körperwelt ,im
Grunde nur eine zufällige Anficht, eine inadäquate Darfteilung
der Wirklichkeit in unferer Sinnlichkeit'. ,Die
Wirklichkeit ift ein einziges Wefen; nicht die Einheit,
fondern die Vielheit ift Schein'. ,Die einzelnen Dinge
find nur Momente eines Wefens, ihre durch Wechfel-
wirkung beftimmten Bethätigungen find in Wirklichkeit
Ausfchnitte aus einer einheitlichen Selbftbewegung der
Subftanz'. Alle näheren Erörterungen aber bleiben fehr
unbeftimmt. Trotzdem ,im Grunde' die Körperwelt nur
eine zufäl.ige (fecundäre) Anficht ift, nimmt er die Theorie
des Parallehsmus des Phyfifchen und des Pfychifchen
dennoch ,als zugeftanden an'. Eine immaterielle und
beharrende Seelenfubftanz dagegen, die das Prius des
Inneren der äufseren Erfcheinung gegenüber verbürgte,
wird als nichtsfagend und entbehrlich verworfen. Doch
aberfoll ,die Vielheit feehfeher Erlebnifse auf nicht weiter
angebbare Weife zur Einheit zufammengefafst' fein. Ja,
in Anlehnung an Fechner lehrt er fogar die Unfterblich-
keit. Es heifst von dem Abfchluffe des Seelenlebens
durch den Tod: ,nichts hindert zu denken, dafs ihm auch
relative Selbftändigkeit und Bewufstfeinseinheit innerhalb
des Ganzen bliebe'. Ein folches ,nichts hindert' ift ja
aber nur eins der vom Verf. verpönten rein negativen
Prädicate! Seine ,relative Selbftändigkeit' ferner, feine
jZufammenfaffung zur Einheit', feine ,Momente', .Ausfchnitte
', feine ,Wechfelwirkung' (welche uns andern etwie
eine wirkende Vielheit vorauszufetzen fcheint!) bleiben
völlig im Unklaren. Bei dem Verf. zeigt fich kein An-
fatz, durch theoretifche Vermittelung unbeftimmte Eindrucke
in greifbare Werthe umzugeftalten. Und obwohl
er Leibniz' Monaden als einen unzuläffigen Dualismus
verwirft; obwohl er aus gleichem Grunde den ewigen
für fich feienden Gott des Chriftenthums leugnet: fo
glaubt er dennoch in leidlichem Einverftändnifs mit Leibniz
fich zu befinden und das Chriftenthum wefentlich feft-

zuhalten. Das Chriftenthum geht ihm in eine allgemeine
Gefinnung auf, nämlich in eine unmittelbare und lebendige
Gewifsheit des Herzens von dem Wefen des Guten und
feiner Bedeutung in der Wirklichkeit, wobei er fich gelegentlich
auf W. Bender bezieht. Diefe kann allerdings
mit dem Pantheismus beliehen, nicht aber die Hoffnung
ewiger Seligkeit. —

Der Raum diefer Zeitung zwingt mich, von des Verf.'s
Erkenntnifstheorie abzufehen. Nach dem Wege, welchen
die Gefchichte der Philofophie gegangen fei, folgt fie
merkwürdigerweife der Metaphyfik erft nach, und obwohl
f>e .gegenwärtig im Mittelpunkte des philofophifchen
Intereffes fleht', wird fie nur in ,ein paar Umriffen' gegeben
. — Aber auch für die Kritik begnüge ich mich,
dem Verf. einmal entgegen zu halten, dafs die innere
Erfahrung, welche wir beide gemacht haben (und d. h.
das Gegebene, das auch er als Fundament der Metaphyfik
anerkannt hat), eine fehr verfchiedene ift. Ein
gewiffer Dualismus, behaupte ich, liege wurzelhaft in uns
felbft: es ift nicht wahr, dafs eine im Ganzen geradlinige
Entwickelung den finnlich-egoiftifchen Menfchen in's Bereich
des religiöfen Lebens hineinführt. Der Verf. mufs
ein fehr glücklicher Mann fein: er überfieht die Krifen
und Kataftrophen; die individuellen fowohl wie diejenigen
der Weltgefchichte! Der ,Teufel' in landläufiger Auf-
faffung ift ja gewifs eine fehr grobe Deutung diefes ur-
fprünglichen Dualismus: mit folcher Inftanz aber wird
Paulfen wohl nur Studenten an Geift erfchrecken und
ad absurdum zu führen vermögen. Zweitens aber bewegen
fich des Verf.'s Studien ausfchliefslich in den Gebieten
, die heute obenauf fchwimmen. Wo er Bunfen
einmal nennt, nennt er fein Buch ,halbvergeffen'. Aber
nicht nur Bunfen, auch viele andere bedeutende und
grofse Geifter einer nahen und fernen Vergangenheit
lind für diejenigen nicht nur halb, fondern ganz vergeffen,
welche wie Paulfen über die allgemeine Naturwiffenfchaft
und die landläufigen philofophifchen Werke nicht wefentlich
hinausfehen. Aus jenen aber wiffen die verachteten
Kenner noch anderes zu holen, als Paulfen's Einleitung
darbietet, die freilich ,ja nicht für Kenner gefchrieben'
ift. Die Art, wie Paulfen Widerfprüche aufweift und
fchlichtet, hat für folche Männer vielfach etwas Erheiterndes
. Trotz der Betonung einer .voluntarifchen Pfycho-
logie' ift der Verf. tief im Intellectualismus flecken geblieben
.

Schliefslich gebe ich doch meiner Freude Ausdruck,
dafs auf Wundt's Syftem nun auch diefes Werk gefolgt
ift. Jene ,neuefte' Philofophie wenigftens, die fich die
.wiffenfchaftliche' nennt, welche vor zwanzig Jahren die
Welt im Sturm zu erobern verhiefs, ift wieder einmal
von einem einflufsreichen Manne der Gegenwart gründlich
verlaffen worden, welcher ihr einft nicht allzu ferne
geftanden hat. Die Thatfache nachzuweifen, dafs in
Paulfen eine Zwifchenbildung zwifchen dem .Neueften'
und dem ,längft gefundenen Wahren' vorliegt, war trotz
der zurückfchreckendenBannfprüche des Verfaffers immerhin
für mich eine lohnende Aufgabe.

Kiel. Guftav Glogau.

Drummond, Henry, Das Naturgesetz in der Geisteswelt.

Autorif. deutfehe Ausg. Nach der neueften Aufl.
(103. Taufend) des englifchen Originals. Neu überfetzt
. I. — 4. Taufend. Bielefeld, Velhagen & Klafing,
1892. (XXIV, 373 S. 8.) geb. M. 4.50.

Die deutfehe Ueberfetzung des vorbezeichneten
Drummond'fchen Buches ift, wie der Titel fagt, nach
der neueften das 103. Taufend Exemplare enthaltenden
Auflage des englifchen Originals angefertigt. Man fieht
alfo, welche günftige Aufnahme und wie weite Verbreitung
die Gedanken des Verfaffers gefunden haben.