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Ausgabe:

1893 Nr. 9

Spalte:

233-236

Autor/Hrsg.:

Paulsen, Friedr.

Titel/Untertitel:

Einleitung in die Philosophie 1893

Rezensent:

Glogau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 9.

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deftoweniger leidet das Buch an einem Grundmangel,
welcher den Ausführungen des Verfaffers jeden wiffen-
fchaftlichen Werth benimmt: feine völlig unhiftorifche
Stellung zur heiligen Schrift und die entfprechende
Methode des Schriftbeweifes beeinträchtigt felbft die
weniger disputabeln Abfchnitte feiner Schrift und läfst
eine wirklich fruchtbare Discuffion mit ihm nicht zu.

Strafsburg i. E. P- Lobftein.

Paulsen, Prof. Friedr., Einleitung in die Philosophie. Berlin,
Beffer'fche Buchh., 1892. (XVI, 444 S. gr. 8.) M. 4.50.

Der Verf. diefes Buches ill nicht nur in der die Zeit
bewegenden pädagogifchen Frage befonders hervorgetreten
; nicht nur hat fein Syftem der Ethik einen über-
rafchenden Erfolg gehabt; er ift auch durch feine perfön-
lichen Beziehungen und namentlich als ein ungewöhnlich
wirkfamer Univerfitätslehrer an der gröfseften deutfchen
Hochfchule weithin bekannt geworden. So mufs eine
Darftellung, wie er feit einer Reihe von Jahren bemüht
gewefen ift, feine Zuhörer ,anzuleiten, die letzten grofsen
Probleme, die die Welt dem denkenden Menfchengeifte
aufgiebt, fich als Fragen vorzulegen und die grofsen Gedanken
, mit denen die geiftigen Führer der Menfchheit
fich diefe Fragen beantwortet haben, nachzudenken'
(S. V), einen jeden intereffiren, der den Bewegungen des
nationalen Geiftes zu folgen gewohnt ift. —

Wer Paulfen's erftes Auftreten kennt, den wird zu-
erft der Standpunkt des in diefer Einleitung vorliegenden
Umriffes feiner philofophifchen Ueberzeugungen über-
rafchen. Damals verkündete er mit grofser Sicherheit
,die Ueberzeugung, dafs es einen höheren Standpunkt,
als Hume einnimmt, überhaupt nicht giebt'; Kant galt
ihm damals keineswegs als ein Schiedsrichter, fondern
er reihte ihn in die eine der ftreitenden Parteien des
18. Jahrhunderts ein (Entwicklungsgefchichte der Kan-
tifchen Erkenntnifstheorie S. VIII, datirt vom Dec. 1874).
Heute dagegen ift der Verf., wie Wundt, zu einem Syftem
der Philofophie als der allgemeinen Wiffenfchaft zurückgekehrt
. Er fieht in Kant eine bedeutfame Wendung und
räumt der inneren Erfahrung und der geiftig-gefchicht-
lichen Welt einen Gehalt ein, auf deffen Grundlage die
phyfikalifche Anficht durch eine Metaphyfik zu überwinden
bleibt. Die Philofophie ift ihm eine ,allgemein
menfchliche Function'; feine befondere Abficht aber geht
auf einen ,idealiftifchen Monismus', um ,die religiöfe Welt-
anfchauung und die wiffenfchaftliche Naturerklärung mit
einander verträglich zu machen'.

Neben diefem erfreulichen principiellen Fortfchntt,
nach welchem die Philofophie der Gegenwart ftrebe
(vgl. S. VIII ff.), erweckt in unferer Zeit der Eintagsfliegen
und der allgemeinen Zerfplitterung dann weiter auch das
Motto des Buches: das Wahre war fchon längft gefunden
u f w. für ,die Auflöfung, die ich für die richtige
halte' und die der Verf. ,zur Anerkennung bei dem Lefer
zu bringen fucht', ein günftiges Vorurtheil. Doch ift es
andererfeits freilicli für des Verf.'s Art fehr charaktenftifch,
dafs fchon das Vorwort mit Nachdruck in fcheinbarer
oder wirklicher Ironie fich gegen die .Kenner' wendet,
denen nicht zu genügen den Verf. .nicht allzufehr fchmer-
zen' wird. Wie er nämlich feine erften Pofitionen, von
dem Zeitgeift getragen, keck mit dem achtundzwanzig-
ften Lebensjahre bereits ficher genommen hatte, fo
haben den umfichtigen und fleifsigen Mann fpäter neue
Impulfe, die fich in der Gegenwart regten, weiter gefuhrt
und gezogen. Die ,viele Jahrhunderte alte Arbeit des
philofopb.rfch.en Nachdenkens' aber kann unfere Gegenwart
, fo fcheint es, nur in abgeblafsten Formen ertragen.
Daher hat er in feinem Harmonifiren des Alten und
Neuen ,die Unterfchiede zu überfehen und nur die grofsen,
gemeinfamen Züge hervortreten zu laffen' gelernt. Die
innere Wandlung in Paulfen's philofophifcher Auffaffung

hat fich keineswegs auf Grundlage eines felbftlofen, der
Sache rein hingegebenen vollen Durchlebens der grofsen
Geifter der Menfchheit vollzogen. Vielmehr hat er fich,
als ein Diener des Zeitgeiftes, nach allgemeinen Kategorien
und Unterfcheidungen feine Anfchauungen über
Plato und Leibniz, über Chriftenthum, über Glauben und
Wiffen u. f. w. zurecht gemacht. So ift dem felbftändigen
Lefer, der fich von dem Zuge der umfichtigen und lichten
Darftellung getragen fühlt, immerhin in allem Einzelnen
Vorficht zu empfehlen, namentlich auch in den hiftorifchen
Auffaffungen. Der Verf. ift fich deffen auch einigermafsen
bewufst. Er weifs es und (pricht es felbft aus, ,dafs
die eigenen Gedanken das Mafs der fremden find'.

Ich weifs nicht, ob diefe allgemeinfte Charakteriftik
das Buch — und zwar auf jeder feiner Seiten — allein
nur dem vom Verfaffer ausgefchloffenen und verpönten
Kenner beftätigen wird. ,Ich bin in meinem Leben', fo
fagt er, ,noch niemand begegnet, der Kennern etwas
recht gemacht hätte, zumal in Deutfchland, das an Kennern
auf allen Gebieten des Wiffens fo reich ift'. Alfo folchen
ift der Verf. doch recht oft fchon begegnet, die es vielen
fehr recht gemacht haben? Und das wären dann nicht
die Kenner, fondern jene, welche eine Sache noch gar
nicht oder nur erft mit wenig Gründlichkeit kannten?!
Er felbft aber will es vor allen Dingen den Leuten
.recht machen': er wendet fich daher ausdrücklich an
feine früheren Zuhörer und daneben auch an die Lefer
feiner Ethik. Diefen will er es recht machen, und den
vielen, welche fich, wie er, nach Befferem fehnen, als
Hume darbietet, ohne fich allzuweit über deffen Niveau
herauszuheben. Aber das Goethe'fche Motto, welches
das Buch gleich vorn an der Stirne trägt, wäre beffer
dann weggeblieben; es verliert fo einen grofsen Theil
feiner Bedeutung. Die ,edle Geifterfchaft', welche ,das
alte Wahre' verbindet, bilden nach dem Dichter diejenigen
, welche es kräftig .angefafst' haben. Er denkt
keineswegs an Studenten, die aus dem Gymnafium einen
gläubigen Sinn einem geiftig überlegenen Lehrer entgegentragen
. Da Goethe felbft nicht dem Zeitgeift gedient
hat und es der Menge niemals hat recht machen
können, fo erfcheint fein Wort hier wie eine fremde
Feder. —

Immerhin macht die allgemeine Tendenz und die
lichte, leichtfliefsende Darfteilung das Buch für die Jugend
und die Kreife der allgemeinen Bildung in hohem Mafse
anregend und alfo ift es empfehlenswerth. Es behandelt
nach einer Einleitung: Wefen und Bedeutung der
Philofophie S. I—51 im erften Buche S. 55—345 die
Probleme der Metaphyfik, näher das ontologifche und
das kosmologifch-theologifche Problem; im zweiten
Buche S. 343—431 die Probleme der Erkenntnifstheorie,
näher das Verhältnifs der Erkenntnifs zur Wirklichkeit
und das Problem des Urfprungs der Erkenntnifs; der
Anhang S. 432—440 deutet in Kürze die Probleme der
Ethik an, deren ausführliche Darftellung des Verfaffers
Syftem der Ethik bereits gegeben hatte. Ueberall werden
von dem Verf. die gefchichtlich hervorgetretenen Ge-
dankenreihen fkizzirt und kritifirt; aber auch das Raifon-
nement zeigt fich dann noch von einer reichen gefchicht-
lichen und naturwiffenfchaftlichen Gelehrfamkeit durchfetzt
, die oft wohl zerftreuend wirkt und die Ueberficht
erfchwert. Auch thut fich der Verf. fichtlich etwas darauf
zu gute, dafs er niemals als Dogmatiker fpricht. Während
der .Kenner' fehr wohl die Grenze kennt (oder doch
kennen foll), wo das Wiffen aufhört und in's Unbeftimmte
verklingt, in allen wefentlichen Einzelheiten dagegen auf
Entfchiedenheit dringt, bewegt fich des Verf.'s Darlegung
durchgehends in Wendungen wie: ,mir kommt vor', ,ich
glaube nicht', Joviel ich fehe', .vielleicht kommt diefer
Vorftellung mehr Wahrheit zu', .nichts hindert zu denken',
,ich glaube, man mufs fich dazu entfchliefsen', ,es liegt
mir völlig fern, jenen Gedanken Widerwilligen durch
Beweisführung aufnöthigen zu wollen',,fcheint mirwefent-

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