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Ausgabe:

1893 Nr. 7

Spalte:

191-193

Autor/Hrsg.:

Hegler, A.

Titel/Untertitel:

Geist und Schrift bei sebatian Franck. Eine Studie zur Geschichte des Spiritualismus in der Reformationszeit 1893

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 7.

192

Hegler, Privatdoc. A., Geist und Schrift bei Sebastian Franck.

Eine Studie zur Gefchichte des Spiritualismus in der
Reformationszeit. Freiburg i/B., J. C. B. Mohr, 1892.
(XII, 291 S. gr. 8.) M. 5.-

Der junge Vertreter der Kirchengefchichte in der
evangelifch-theologifchen Facultät in Tübingen, der fich
erft im vorigen Jahr in feiner Schrift ,Die Pfychologie in
Kant's Ethik' als tüchtig gefchulten Philofophen bewiefen
hat, führt fich mit feiner Studie über Sebaftian Franck
in fehr glücklicher Weife in den Kreis der Arbeiter auf
dem Gebiet der Kirchen- und Dogmengefchichte ein. Es
ifl nicht zufällig, dafs er gerade einen Mann der radica-
len Richtung zum Gegenftand feiner Studien gewählt
hat. Ift es doch faft Tradition im Kreis der Stiftler und
der Mitglieder des Repetenten-Collegiums in Tübingen,
aus dem Hegler hervorgegangen ift, fich den Geiftern
der Oppofition zuzuwenden. Die trefflichen Studien eines
Ileberle über Denk, und eines Keim über Hetzer, wie
das immer noch unentbehrliche Werk Jäger's über Andreas
Karlftadt von Bodenftein find auf demfelben Boden er-
wachfen, wie die Studie Hegler's über Sebaftian Franck.
Und es war ein glücklicher Griff, gerade Seb. Franck's
Anfchauungen genauer nachzugehen. Kaum einer der Vertreter
der Oppofition innerhalb der proteftantifchen Bewegung
ift in den letzten Jahrzenten fo fehr der Gegenftand
der Aufmerkfamkeit der Gelehrten gewefen; keiner
unter ihnen macht fo fehr den Eindruck eines modernen
Mcnfchcn und erinnert fo lebhaft mit feiner Geiftesart
an die Bewegungen des Geifteslebens in der Gegenwart
als Sebaftian Franck, wie das Hegler mit kurzen, geift-
reichen Strichen in feinem Charakterbild Franck's hervorgehoben
hat.

Wohlgerüftet ift der junge Lehrer der Theologie an
feine Aufgabe gegangen. Die Literatur hat er in ftaunens-
werther Weife durchforfcht, auch die holländifche. Nur
v. Wegele's Charakteriftik Franck's als Hiftoriker in feiner
Gefchichte der deutfehen Hiftoriographie fcheint ihm
entgangen zu fein. Man kann fich nur freuen, dafs ihm
vergönnt war, die reichen handfehriftlichen Sammlungen
aus Weinkauff's Nachlafs auf der Bonner Univerfitäts-
bibliothek zu benützen und fo aufser den bekannten
Werken Francks noch drei bisher nicht bekannte Schriften
desfelben ,Was gefagt fei, der Glaub' thuts alles',
den holländifchen Tractat ,Van het Rycke Chrifti' und
die lateinilche Paraphrafe der ,Theologia Deutfch' für
feine Darftellung von Franck's Lehre heranzuziehen. Be-
fonders dankenswerth ift, dafs H. den höchft charak-
teriftifchen Brief Franck's an Campanus vom 4. Febr. 1531
gründlich benützt hat.

Von der Geifteswelt Kant's herkommend, war es für
den jungen Hiftoriker keine leichte Aufgabe fich in die
Geiftesart Franck's zu verfenken. Schon feine Sprache
fordert ein gründliches Verftändnis der Sprache jener
Zeit, des Ichwäbifchen Idioms und der eigenartigen Terminologie
P'rancks. Referent hat die reichen Citate, welche
PI. aus Franck's Schriften giebt, gerade darauf angefehen,
wie weit es H. gelungen ift, fich in Franck's Sprache und
Ausdrucksweife hineinzuarbeiten, und hat fich des feinen
Verftändnifses gefreut, das Franck in diefer Arbeit gefunden
. Nur die Erklärung von häl S. 41 = heimlich fcheint
nicht ganz zutreffend. Häl ift wenigftens im fchwäbifchen
Dialekt am nördlichen Albrand = glatt wie das Eis.
Das pafst allein zu den ,gefchliffenen Worten'. Vgl.
auch Proverb. 2, 16. 6, 24 ff.

Was Hegler in feiner Schrift giebt, ift weit mehr,
als der Titel erwarten läfst. Denn er giebt uns, nachdem
er Franck's Stellung innerhalb der radicalenReformbewegung
und feinen Entwicklungsgang gekennzeichnet, eine
Gefammtdarftellung der Theologie Franck's, aber von
dem beherrfchenden Gefichtspunkt des Verhältnifses von
Geilt und Schrift, was mit Gefchick als das durchfchla-
gende Princip hervorgehoben ift. In fünf Capiteln: ,Der

Kampf gegen die Schrift als die höchfte Auctorität',
,Das innere Wort als göttliche Kraft und als menfehlicher
Befitz', Der Geift als Princip der religiöfen und fittlichen
Erneuerung, ,Die Gottesoffenbarung in und aufser Chri-
ftus', ,Der Geift als Sinn der Schrift', ,Der Spiritualismus
Franck's als Princip der Beurtheilung der Religion in Vergangenheit
und Gegenwart' gelingt es dem Verfaffer, die
Anfchauungen Franck's wiederzugeben. Als fcharfer
Dialektiker weifs er die in Frage kommenden Probleme
lichtvoll vorzuführen und fcharf zu beftimmen. Wie ganz
anders fteht doch Franck da, als ihn der grämliche, engherzige
Frecht mit feinem kleinen Geift fo gerne gefchil-
dert und ihn den niederdeutfehen und oberdeutfehen
FVeunden verdächtigt hat; wie ganz anders erfcheint
Franck, als ihn Erbkam und Schenkel gewerthet haben.
Jetzt erft wird fein Verhältnifs zu den Täufern und fein
Urtheil über fie recht verftändlich. Hegler gefleht offen
zu, dafs man von P'ranck noch weniger als von Schwenkfeld
ein wohlabgerundetes, feftgefügtes Syftem erwarten
darf. Es fehlt ihm das fpeculative Intereffe, es fehlen
ihm feftumriffene Begriffe (S. 20) und wiffenfehaftlich for-
mulirte Gründe. Daher die zwei Seelen in feiner Bruft,
das ftark dominirende myftifche Element und der ratio-
naliftifche Zug, der das politive Chriftenthum bedroht. Es
ift auffallend, wie Franck unter der Wucht feiner Myftik
zu keinem Verftändnifs des gefchichtlichen Chriftenthums,
des Erlöfers, des Erlöfungswerks und feiner Kirche
kommt, während er doch eine unbeftreitbare hiftorifche
Anlage hat, wie kaum ein zweiter feiner Zeitgenoffen,
wie ihm das Verftändnifs für die gemeinfchaftbildende
Kraft des Chriftenthums, für die Nothwendigkeit des Organismus
einer folchen Gemeinfchaft und ihrer Cultus-
formen völlig abgeht. Man hat es hier mit einem jener
nicht feltenen fchwäbifchen Originale zu thun, welche,
peffimiftifch angehaucht, fich in ihrem Subjectismus verbohren
, fich als Einfiedler in ihren SchmollwinkeL^urück-
ziehen und an der beftehenden Welt mit ihrem reichen
Leben und ihren Geftalten verzweifeln. Fragt man bei
Franck, wie bei anderen Kindern der fchwäbifchen Geiftesart
, wie denn der Welt zu helfen fei, fo bekommt man
die trotzige Antwort: durch den Geift. Hält man ihnen
aber die Frage vor, wie denn der Geift zu uns komme,
dann wird alsbald offenbar, dafs fie die Brücken des
Geiftes verbrannt haben, und neben der Charybdis der
entgeifteten Kirche, der fie entgehen wollen, die Scylla
des eigenen, des menfehlichen Geiftes droht. Hegler hat
treffend hingewiefen, wie fchon Schwenkfeld hier die
Achillesferfe in Franck's Anfchauungen erkannt hat.
Damit ift P'ranck nicht die tiefe Religiofität, das warme,
fromme Gemüth abgefprochen, aber die Schranke gekennzeichnet
, welche feine ganze Wirkfamkeit als religiöfer
Schriftfteller finden mufste. Leben zeugen, Gemeinfchaft
bilden konnte diefer Mann nicht; fein Verdienft bleibt
die Kritik an den beftehenden Kirchen und Gemeinfchaf-
ten, denen er mit unerbittlicher Wahrheit und treffendem
Scharfblick ihre Schwächen und die fie bedrohenden
inneren Gefahren vor Augen hält. ,Die Nähe Luther's
wirkt drückend, wenn man FYanck's Bild betrachtet' fagt
Hegler (S. 288), aber deswegen behält er doch feine Bedeutung
für die Gegenwart. (,Dafs man feine Gedanken
nicht fchildern kann, ohne die Kämpfe zu berühren,
welche den Proteftantismus der Gegenwart erfchüttem,
auch das ift fein Ruhm').

So reich die Gabe ift, die Hegler uns mit der fyfte-
matifchen Darftellung von Franck's Anfchauungen bietet,
fo klar zeigt fie das Bedürfnifs einer Biographie Franck's,
die<den heutigen Anfprüchen genügt. Noch ift es ein
Räthfel, wie Franck zu feiner myftifchen Grundanfchau-
ung kommt. Man wird hier nicht vergehen dürfen, wie
das ganze Gebiet von der Donau bis nach Nürnberg feit
alter Zeit ein von der Myftik durchtränkter Boden ift,
wie fich in Lauingen die Winkler finden, die myftifch
erregten Mönche und Nonnen in den Klöftern von Ulm