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Ausgabe:

1893

Spalte:

186-187

Autor/Hrsg.:

Myrberg, O. F.

Titel/Untertitel:

Die biblische Theologie und ihre Gegner 1893

Rezensent:

Link, Adolf

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Tage, die wie eine Nachtwandlerin über die Dachkanten
des Jahrhunderts geht'. In diefem mit fcharfen Waffen
nach rechts und nach links geführten Streit verfolgt B.
,einen für feine Denkart und Neigung untrennbaren
,wiffenfchaftlichen und praktifchen Zweck'. Er möchte
,einen befcheidenen Beitrag zu unferer theologifch-kirch-
,liehen Erneuerung liefern'. Daher das Beftreben, mit
den durch richtigeres und tieferes Verffändnifs des Evangeliums
gewonnenen Mitteln, die kirchliche Lehrtradition
zu verbeffern, — ein Verfuch, welcher fowohl in zahlreichen
Hinweifen auf die Unterfchiede zwifchen der
proteftantifchen Scholaftik und den neuteftl. Grundgedanken
als auch in der herzhaften Kritik, die B. an der
dogmatifchen Ueberlieferung übt, zu Tage tritt. Daher
auch die häufige Rückfichtnahme auf die kirchliche Ver-
werthung und Verkündigung der biblifchen Glaubensgedanken
, welche, in manchen Fällen, wo befondere
Schwierigkeiten für den homiletifchen und katechetifchen
Gebrauch vorliegen, geradezu in eine dem Verffändnifs
der Gegenwart zugängliche Sprache überfetzt werden.
Diefes praktifch bedingte Unternehmen des auf die Gegenwart
bedachten und einwirkenden Theologen, welcher
ftets darum bemüht ift, dem neuteffamentlichen Material
dogmatifch fruchtbare Beziehungen und erbaulich wirk-
fame Motive abzugewinnen, wird dem Beyfchlag'fchen
Buche bei Geifflichen, Predigern und Seelforgern zur hohen
Empfehlung dienen und demfelben in diefen Kreifen
rafchen Eingang und weitverbreiteten Erfolg verfchaffen.
Ob diefer Erfolg nicht um einen zu theuern Preis erkauft
wird? Ob die Scheu vor einer, wie man zu fagen
beliebt, kühlen, herzlofen Objectivität die Aufgabe des
Hifforikers nicht beeinträchtigt? Ueberfchreitet doch die
Umfetzung der neuteffamentlichen Gedanken in dogmatifch
oder homiletifch verwendbare Glaubenserkennt-
nifse gewifs die der biblifchen Theologie gezogenen
Grenzen! Ift es zu verwundern, dafs bei diefer Ueber-
tragung aus der urkundlich zu fixirenden Gefchichte
in die unmittelbar zu belehrende und zu belebende Gegenwart
, die fcharfen Umriffe der Begriffe oft verwifcht,
die eigenthümlichen Paradoxien der neuteffamentlichen
Lehrgedanken abgefchwächt, die fpitzen Ecken und
Kanten vieler Ausdrücke und Anfchauungen ftumpfer
gemacht werden? Selbft die aufrichtigen Bewunderer Bey-
fchlag's werden nicht behaupten können, dafs der geift-
volle Univerfitätsprediger, der einflufsreiche Kirchenpolitiker
diefe Gefahr glücklich überwunden hat.

Eine möglichft treue Charakteriffik, nicht eine in's
Einzelne gehende kritifche Auseinanderfetzung mit den
Anflehten des Verf.'s foll hier verfucht werden; letztere
Aufgabe würde die diefem Artikel gefetzten Schranken
allenthalben durchbrechen. Dagegen mufs zur Ergänzung
jenes Verfuchs noch ein letzter Zug nachgetragen werden,
den der Verf. uns felber in feinen perfönlichen Bekennt-
nifsen liefert und welcher durch feine ganze Darfteilung
beftätigt wird. B. will ,den Spuren feines grofsen Lehrers
, des wie fchon vergeffenen, und doch unvergefslichen
K. J. Nitzfeh folgen'. ,Ich habe von Schleiermacher gelernt
, dafs die Kritik eine Kunft ift, welche vor allem dazu
anhält, das zu beurtheilende Schriftwerk geiftig zu repro-
duciren und erft aus diefer lebendigen Wiedererzeugung
heraus zu beurtheilen, und ich habe von meinem verehrten
Lehrer Bleek gelernt, dafs diefe Kunft nicht zu
üben ift ohne entfprechende Tugend, — die Tugend der
Befonnenheit und Befcheidung, der Pietät gegen gefchicht-
liche Ueberlieferungen, der Unterfcheidung von wahr-
fcheinlichen Ergebnifsen und müffigen Einfällen/die nur
dem nächften Forfcher wegzuräumenden Schutt auf feinen
Pfad häufen. Seit Baur's mächtigem Eindruck und Ein-
flufs, fcheint mir, ift das kritifche Handwerkszeug Gemeingut
geworden, aber jene Kunft und Tugend in
Abnahme gekommen'. Diefem Einflufs des ihm fonft
nicht fympathifchen und gewifs nicht mit voller Gerechtigkeit
gewürdigten Tübinger Meifters hat fich auch B.

felbftverftändlich nicht zu entziehen vermocht; doch zu
den von ihm genannten Namen mufs vor allen noch der
Name Neander's hinzugefügt werden; das liebevolle Eingehen
auf die allerdings oft mit kühner Subjectivität
zurechtgelegte Individualität der neuteftamentl. Männer,
die pfychologifchen Ableitungsverfuche wichtiger reli-
giöfer Begriffe erinnern an das Verfahren des Berliner
Kirchenhiftorikers; nur hat B. die Methode feines grofsen
Vorgängers durch künftlerifchen Gefchmack, mitunter
auch durch gewagte Divination einer dichterifchen Phan-
tafie zugleich anziehender und gefährlicher gemacht.
Durch diefe mit den edelften Gehalten der Vermittelungs-
theologie ftets bewahrte Fühlung, fowie durch die in
fchneidiger Kritik und zuweilen in ftarken Ausfällen fich
kundgebende Abneigung gegen Orthodoxie und Kritizismus
' hat fich der Verf. felber die ihm zukommende
Stelle in dem Entwickelungsgang der Theologie unferer
Zeit angewiefen; und man hat wohl ohne Paradoxie ur-
theilen können, dafs das Beyfchlag'fche Buch, wie werthvoll
es auch zur Eruirung der neuteftamentlichen Gedanken
fein mag, doch noch charakteriftifcher fein dürfte
zur Orientirung über unfere gegenwärtige theologifche
Lage, und namentlich zur Zeichnung derjenigen Tendenz,
zu welcher fich B. bekennt, die er aber zu einer unbefangenen
Kritik der kirchlichen Lehrtradition auf Grund
des hiftorifchen Verftändnifses der neuteftamentlichen
Urkunden zurückführen möchte (Band I, Vorrede). Für
den Verfuch, welchen er uns zur Löfung diefer Aufgabe
gegeben, werden ihm aber auch folche dankbar fein, die
feinen theologifchen Ergebnifsen in vielen Punkten nicht
beizupflichten vermögen.

Strafsburg i/E. P. Lobftein.

Myrberg, Prof. Dr. O. F., Die biblische Theologie und ihre
Gegner. Gütersloh, Bertelsmann, 1892. (115 S.8.) M. 1.80.

In der vorliegenden Brofchüre antwortet Myrberg,
Profeffor der exegetifchen Theologie in Upfala, auf eine
Streitfchrift, welche im Jahre 1891 in Berlin bei Wiegandt
und Grieben unter dem Titel erfchienen ift: ,Die Rechtfertigungslehre
der Profefforen der Theologie Johannes
Tobias Beck, O. F. Myrberg und A. W. Ingman, geprüft
und beleuchtet von mehreren evangelifchen Theologen
und von {sie!) E. T. Geftrin, Propft und Paftor in Lavia
in Finnland'. Dafs der Streit fich um die Lehre von der
Rechtfertigung dreht, wird fchwerlich Jemand aus dem
Titel der Myrberg'fchen Arbeit errathen können. Die Auf-
fchrift drückt vielmehr nur die Ueberzeugung des Ver-
faffers aus, dafs feine Anficht von der Rechtfertigung die
allein biblifche ift, und läfst zugleich den theologifchen
Standpunkt Myrberg's erkennen, der befonders hinficht-
lich feiner fyftematifchen Methode als ein treuer Anhänger
Beck's gelten darf. — Während feine Gegner den
Glauben als mere ac pure Instrumentalis faffen, ift Myrberg
der Meinung, dafs man der einzigartigen Bedeutung
, welche Gott dem Glauben zumifst, nur dann gerecht
wird, wenn man denfelben als den Inbegriff alles
fittlichen Wohlverhaltens, als eine gute That im bellen
Sinne des.Wortes beftimmt: der Menfch welcher glaubt,
giebt Gott die Ehre und erfüllt dadurch fein Gefetz, fo-
| dafs Gott nun den Menfchen um diefer feiner ethifchen
j Qualität willen für gerecht erklärt. Dabei könne von irgend
welchem Verdienft des Glaubenden nicht die Rede
fein, da nicht das natürliche Vermögen des Menfchen
diefe Glaubensgerechtigkeit zu ftande bringe, fondern
nur eine Geburt aus Gott. — Die Streitfrage, um welche
es fich hier handelt, ift bekanntlich fo alt, wie der Pro-
teftantismus felbft; und neue Gründe zur Vertheidigung
feiner Pofition hat Myrberg natürlich nicht beibringen
können. Aber feine Schrift zeichnet fich durch Ruhe in der
Polemik, Klarheit in der Beweisführung, vor allem aber
durch religiöfe Wärme aus. Ueberall läfst der Verfaffer
erkennen, dafs es fich für ihn nicht um einen theologi-

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