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Ausgabe:

1892 Nr. 3

Spalte:

81-82

Autor/Hrsg.:

Becker, Bernh.

Titel/Untertitel:

Die chistliche Volksunterweisung, ein Bindeglied zwischen der Reformation und dem Pietismus 1892

Rezensent:

Staehelin, Rudolf

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 3. 82

in der Epiphanienzeit, welche um des 2. Artikels willen
unter den Gefichtspunkt .gelitten' gebracht wird. Dafs
dies nur mit dem gröfsten Zwange gefchehen konnte,
leuchtet ohne Weiteres ein, und das wird dadurch nicht
anders, dafs der Verfaffer, in fein Fündlein verliebt,
immer wieder verfichert, das fei die einzige Weife, um
nicht künftlich zu verfahren. Ich behaupte, er kann
felbft gar nicht mehr natürlich denken über diefe Dinge;
aber darüber mit ihm ftreiten zn wollen, wäre natürlich
verlorene Mühe. Nun crfchwert er aber auch dem,
welcher fich dadurch noch nicht ganz hat abfchrecken
laffen, die Leetüre durch die unerträgliche Breite feiner
Ausführung, bei welcher doch nichts Rechtes herauskommt
, und durch den halb-erbaulichen, predigtartigen
Ton, welcher die Frage aufwerfen läfst, für welche Lefer
eigentlich das Buch gefchrieben ift, für Laien oder für
Theologen. Die erfteren können durch dafselbe nur
confus werden, und die letzteren haben nichts von der
Leetüre, fofern nicht einmal eine geordnete und eingehende
praktifche Behandlung der Perikopen geboten
wird, fondern nur mehr oder minder willkürliche Einfälle.
Wer fich etwa homiletifch vom Verf. leiten laffen wollte,
würde ficher nicht mehr das einfache Evangelium predigen.
Zudem wird mit einer geradezu haarfträubenden Exe-
gefe operirt und eine Dogmatik aufgetifcht, die an
Alterthümlichkeit nichts zu wünfehen übrig läfst. Die
theologifche Facultät von Erlangen, der das Buch gewidmet
ift, mag wohl in Verlegenheit gewefen fein, was
fie an demfelben aufser dem guten Willen feines Ver-
faffers dankend anzuerkennen in der Lage fei.

Heidelberg. Baffermann.

Becker, Bernh., Die christliche Volksunterweisung, ein

Bindeglied zwifchen der Reformation und dem Pietismus
. Zwei Vorlefungen, gehalten am theologifchen
Seminar der Brüdergemeine in Gnadenfeld O/S.
Gütersloh, Bertelsmann, 1891. (54 S. 8.) M. —. 80.

Die beiden hier mitgetheilten Vorträge enthalten
eine kurze, aber inhaltreiche Ueberficht über die Thätig-
keit der deutfehen lutherifchen Kirche für die chriftliche
Volkserziehung und insbefondere die Betheiligung des
Pietismus an derfelben. Die leitenden Gedanken find
folgende: Von Anfang an ging, wie fchon die Katechismen
Luther's und Melanchton's zeigen, die Abficht der
Reformation darauf, das Volk zum praktifchen Heilsglauben
, zur praxis pietatis, zu erziehen, und in diefem
Sinn fafsten namentlich auch die evangelifchen Für-
ften ihre Aufgabe als chriftliche Obrigkeit auf. Die
fpätere Kirche bog den Begriff einer Erziehung zum
Heilsglauben um in denjenigen der Erziehung zur Theologie
, aber der dreifsigjährige Krieg nöthigte durch die
von ihm hervorgerufenen Nothftände die Theologen
wie die Fürften, die Aufgabe im Sinne der Reformation
wieder in die Hand zu nehmen, und es ift vor Allem
das Verdienft Herzog hirnft's des Frommen von Gotha,
in feinem Informationswerk die Organifation für eine
folche nicht nur die Kinder, fondern auch die Erwachsenen
umfaffende Volkserziehung ins Leben gerufen zu
haben. Im Zufammenhang mit diefen Beftrebungen ift die
pietiftifche Bewegung entftanden, und gerade Spcner
hat in feinem zwei Jahre nach dem Tode des Herzogs
erfchienenen Katechismus ausdrücklich an deffen Werk
angeknüpft und fich auf dasfelbe berufen, nur dafs von
ihm ftatt den Fürften, den Theologen die Leitung in
die Hand gelegt und in Folge deffen auch der An-
fchlufs aus einem erzwungenen zu einem freiwilligen
gemacht, freilich damit aber auch der Beimifchung
fremdartiger Elemente mehr Raum gegeben wurde.
Ebenfo haben Francke und Zinzcndorf in dem, was fie
felbft als das Wefentliche ihrer Beftrebungen voranftell-
ten, nichts Anderes als die Erziehung des Volkes zum

praktifchen Heilsglauben im Sinne der Reformation fich
zum Ziel gefetzt, wie dies z. B. aus der Aeufserung
Francke's hervorgeht: .Wenn die Kinder zur beftändigen
Furcht und Liebe des allgegenwärtigen Gottes erwecket
werden und ihnen der rechte Adel der menfehlichen
Seele, fo in der Erneuerung zum Ebenbild Gottes befiehlt
, mit lebendigen Farben vor Augen gemalet wird,
und fie alfo in der Zucht und Vermahnung zum Herrn
erzogen werden, fo ift das genug' (S. 41.). An Aeufserun-
gen der Aufklärung wird dann gezeigt, wie nahe diefe
Ziele denen der letzteren ftehen, und damit im Gegen-
fatz gegen die bekannte Beurtheilung Ritfchl's der Pietismus
als eine aus der innerften Wurzel der Reformation
hcrausgewachfene und ihren gefchichtlichen Aufgaben
dienende Erfcheinung zu rechtfertigen gefucht.
Er .entfteht aus der kirchlichen Arbeit der Männer, die,
indem fie neue kirchliche Begriffe, neue kirchliche Lebensnormen
fchaffen, den Verfuch machen, das ganze
evangelifche Volk aus feinem fittlichen Bankerott her-
auszuretten und zu einer neuen kirchlichen Exiftenz zu
bringen'. (S. 27.) Er ift ,nichts Anderes, als die Spitze
der gewaltigen Kraftanftrengung, die das deutfehe Volk
gemacht hat, um fich aus dem feine fittliche und poli-
tifche Exiftenz bedrohenden Verfall der nachreformato-
rifchen Zeit herauszuarbeiten'. S. 29. .Sollten die Hauptmerkmale
desfelben wirklich in jenem unheiligen Spiel
mit der Jefusliebe, in jener quietiftifchen Befchaulichkeit
und Thatenlofigkeit liegen? Mögen Hunderte, ja Taufende
von Einzelnen diefen ungefunden P'ormen des re-
ligiöfen Lebens gehuldigt haben, mögen fie in den
Erbauungsbüchern der religiös tief erregten Zeit einen
breiten Raum fich erzwungen haben, der eigentliche Kern
der pietiftifchen Bewegung liegt nicht in diefer Nach-
blüthe der Myftik vor, fondern in dem ernften Streben
einer fittlich religiöfen Reform der Gefellfchaft auf
dem Wege einer Volksunterweifung, die Jung und Alt,
das ganze Volk, auf die Höhe des reformatorifchen
Heilsglaubens emporzuführen beftrebt war'. (S. 53). — Es
ift unftreitig ein Verdienft des Verfaffers, wenn er durch
diefe Betonung der praktifch kirchlichen Ziele des Pietismus
die einfeitig dogmatifche Kritik Ritfchl's zu berichtigen
und insbefondere feinen zur eigenen Betheiligung
an deffen Arbeit berufenen Zuhörern ihre Aufgabe
werthvoll zu machen unternimmt. Auch was von Einzelheiten
aus der Literatur fowohl des Pietismus als
auch der Aufklärung, namentlich den noch wenig berück-
fichtigten Katechismen beigebracht ift, wird Vielen lehrreich
fein, und man freut fich, gerade von dem Leiter des
theologifchen Seminars der Brüdergemeine in diefer
Weife das Wefen der pietiftifchen Bewegung beftimmt
und ihre Zufammengehörigkeit mit den gefunden Beftrebungen
der Aufklärung ins Licht geftellt zu fehen.
Aber die Thatfache ift nicht widerlegt, dafs auch bei
Männern wie Francke und Zinzendorf diefe univerfalen
und evangelifchen Ziele chriftlicher Volkserziehung auf's
engfte mit Glaubensanfchauungen verbunden gewefen
find, welche der Verfaffer felbft unter die ungefunden
Formen des religiöfen Lebens würde rechnen müffen,
infofern fie nicht dem Evangelium, fondern der Dogmatik
und der finnlich fentimentalen Gefchmacksrichtung
ihrer Zeit entflammt find, und dafs ihrem Werke hauptfächlich
um jener Verbindung willen viel mehr als aus
den S. 42 f. angedeuteten Urfachen der beabfichtigte Erfolg
vertagt geblieben ift.

Bafel. R. Staehelin.

Fürstenau, Dr. Herrn., Das Grundrecht der Religionsfreiheit
nach feiner gefchichtlichen Entwicklung und
heutigen Geltung in Deutfchland. Leipzig, Duncker
& Humblot, 1891. (IX, 342 S. gr. 8.) M. 7.20.

Eine zufammenhängende Darftellung der Entwicklung
, welche das Inftitut der Religionsfreiheit im öffent-