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Ausgabe:

1892 Nr. 2

Spalte:

40-43

Autor/Hrsg.:

Meyer, Elard Hugo

Titel/Untertitel:

Die eddische Kosmogonie 1892

Rezensent:

Gering, Hugo

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 2.

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Was hier gegen diefe Logik der Thatfachen, zu welcher
nur das ältefte Bild der evangelifchen Gefchichte eine
vollkommen deutliche Erklärung giebt, eingewandt
wird, ift jenem unerfchöpflichen Gebiete der ad hoc erfundenen
Möglichkeiten, Gegen- und Ausreden entnommen
, welches noch immer den beliebteften Tummelplatz
eines grcfsen Bruchtheils unterer Theologie bildet.
Vielleicht hängt doch alles an der dogmatifchen Vor-
ausfetzung, die hier freilich nur in der Form eines
Schlufsergebnifses erfcheint: ,In dem Leben und Wirken
Jefu unter Israel läfst fich keine Entwickelung wahrnehmen
, wie fie fonft die Menfchen auf Erden durchmachen'
(S. 688). Für unfern Verfaffer ,würde Jefus nicht als
ein Wunder felbft unter den Geiftesriefen, fondern als
eine märchenhafte Zwerggeftalt in der Gefchichte da-
ftehen, wenn bei feiner, fich nur über wenige Jahre er-
ftreckenden Wirkfamkeit fich an ihm eine erft allmählich
fortfchreitende Entwickelung und Entfaltung zu feiner
fchliefslichen Erfcheinung und ein unficheres Wechfeln
in den Mitteln und Methoden beobachten liefse' (S. 689).
Wir laffen dahingeftellt, ob eine folche Bezeichnung die
richtige ift für die Thatfache, dafs er früher vom Reiche
Gottes, als von feiner Perfon gefprochen, dafs er dem
Effect der Heilwunder lange einen Riegel vorgefchoben,
dafs er feine und feiner Jünger Wirkfamkeit anfänglich
beftimmt auf die Grenzen Israels eingefchränkt hat etc.
Jedenfalls war die Thefe ,Wie fein Selbftbewufstfein, fo
blieb auch die Art feines Auftretens fich allezeit gleich'
(S. 690) in diefer Unbedingtheit nurfo durchzuführen, dafs
von allen Beobachtungen, welche auf eine fchichtenweife
Entftehung der evangelifchen Gefchichte, auf eine Ue-
bermalung der Erdfarben durch gesteigerte Lichttöne,
auf Zurückstellung des differenten Materials hinter dem
identifchen hinweifen, Umgang genommen wurde. So
beifpielsweife gleich bei der Taufe, wo die Einfchaltung
Mt. 3, 14. 15 als gleichwerthig mit den übrigen Berichten
genommen wird (S. 191). Unterzeichneter kann gegen
diefe Methode, deren Durchführung die Eigenart des
ganzen Buches bedingt, nicht wieder ein Buch fchreiben,
glaubt aber, dafs kein wirklicher Pliftoriker, der zugleich
mit den hier fliefsenden Quellen vertraut und auf die
ganze Eigenart des Gegenstandes gestimmt ift, fich des
Eindruckes wird erwehren können: ein Leben, wie das
von Nösgen befchriebene, zufammengefetzt aus heterogenen
Elementen, zwifchen denen man doch in Wirklichkeit
höchstens die Wahl hat, mühfam conftruirt aus
Stücken, die fich vielleicht gegenfeitig decken und er-
fetzen, nicht aber nebeneinandergelegt und ineinander-
gezwängt fein wollen, je nach Bedarf bald aus erklügelten
Motiven, die dem natürlichen Lebensgebiete angehören
, bald aus phantafiemäfsg ergänzten übernatürlichen
Impulfen abgeleitet — ein folches Leben ift nie
gelebt worden und kann nie gelebt worden fein. Unterzeichneter
hat fich über den gefchichtlichen Gehalt und
Gang des Lebens Jefu fo oft ausgefprochen, dafs er fich
gegen Mifsverftändniffe eines folchen Votums nicht erft
zu verwahren braucht. Man lefe nur, wie hier am
Anfange der dritten Periode die fo berechtigten Ver-
fuche, den Leidensgedanken als eine, fich allmählich
aufdrängende Folgerung aus der wachfenden Oppofition,
aus der Indolenz des Volkes, aus der unwegfamen Lage,
die damit gefchaffen war, zu begreifen, mit lauter Gründen
abgewiefen werden, die über den Wolken, aber
nicht in den Quellen ihren Anfchlufs finden (S. 395 f.),
es fei denn, dafs man zu letzteren in erster Linie Luc. 2,
34. 35 und Joh. I, 29 rechnet (S. 401). Oder was fangen
wir mit Erörterungen an, wie die über die Verklärung
, wo das altteftamentliche Motiv Ex. 34 auf zwei
Zeilen abgethan wird, ohne dafs feiner neuteftament-
lichen Wiederaufnahme 2. Kor. 3 auch nur Erwähnung
gefchähe (S. 425), wofür wir mit einer gelehrten Untersuchung
darüber behelligt werden, ob der, zeitweilig eingetretene
, ,verklärte Zustand der Leiblichkeit Jefu' als

eine ,vom Vater gewährte Erweifung' oder als ,fein
eigen Werk', nach Chemnitz eine permissio Christi, zu
faffen fei (S. 427)? Damit foll nicht gefagt fein, dafs die
Arbeit der Evangelienkritik ganz fpurlos an einem
Verfaffer vorübergegangen fei, welcher die Anticipation
Luc. 4, 16—30 anerkennt (S. 225), weder die Bergpredigt,
| noch die Seepredigt als einen ununterbrochenen Vortrag
denkt (S. 343), Joh. 7, 53—8, 11 für unjohanneifch hält
(S. 433) etc. Bemerkt fei auch, dafs er an dem fynop-
tifchen Paffahmahl und Todestag festhält, freilich ohne
den johanneifchen Widerfpruch zugeben zu wollen (S.
j 5441. 574f.). Die in Betracht kommende Literatur ift
j dem Verfaffer bis auf die neueften Erfcheinungen herab
| bekannt. Stolz werden nicht blofs Hausrath, Holsten,
■ Weizfäcker, der Unterzeichnete etc., fondern auch Weifs,
Beyfchlag, Wendt, im Nothfalle fogar Theologen wie
Gefs und Steinmeyer, ja Nösgen felbft, wo er früher
etwas an der berühmten ,Befonnenheit' mangeln liefs
(S. 251), zurechtgewiefen, und noch die Schlufsabhand-
lung läuft aus in eine Polemik gegen die ,völlig ge-
fchichtswidrige Art' (S. 698), wie Ritfehl und feine
Schule fich mit dem Leben Jefu abfinden wollten (S.Ö94f.).
Weit über Rostock hinaus wird auch diefer letzte Schlag,
zu welchem der Verfaffer ausholt, nicht langen. Die
Ausstattung des Buches ift gut. Verfehen, wie dafs S.
256 von Titus erzählt wird, was von Tiberius gilt, fallen
nicht dem Drucker zur Last.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Meyer, Prof. Dr. Elard Hugo, Die eddische Kosmogonie.

Ein Beitrag zur Gefchichte der Kosmogonie des
Alterthums und des Mittelalters. Freiburg i/B., J.
C. B. Mohr, 1891. (VII, 118 S. gr. 8.) M. 3. 60.

Die Echtheit der nordifchen Mythologie, gegen die
fchon im vorigen Jahrhundert und im. Anfange des gegenwärtigen
mehrere fkeptifche Gemüther (v. Schlözer,
j Adelung, Rühs u. a.) fich erklärt hatten, ohne mit ihren
! Behauptungen durchzudringen, wird neuerdings mit ungleich
gröfserem Gefchick und mit dem Aufgebote einer
weit umfaffenderen Gelehrfamkeit angefochten. Nachdem
im Jahre 1879 der norwegifche Theologe A. Chr. Bang
die Voluspa für eine Nachahmung der fibyllinifchen
Orakel erklärt1) und fein Landsmann, der geniale Linguist
und Philologe So phus Bugge bald darauf fehr wefentliche
Theile der nordifchen Götterlehre (u. a. den Baldr- und
Yggdrafillmythus) aus der christlichen Legende herzuleiten
verfucht hatte2), ift ihnen jetzt auch in Deutfch-
j land in einem unferer gelehrteften Mythologen, Profef-
for Elard Hugo Meyer in Freiburg, ein Mitstreiter erstanden
. Nicht zurückgefchreckt durch die fcharfe Abfertigung
, die Bang's und Bugge's Hypothefen in
dem letzten Werke Karl Möllenhoffs:i) erfahren hatten
, behauptete auch er in feinem Buche .Voluspa. Eine
Unterfuchung' (Berlin 1889), dafs diefes Gedicht, welches
Möllenhoff als ,rein heidnifch, als die letzte
höchste Hlüthe der altgermanifchen Weltanfchauung'
bezeichnet hatte, durch und durch christlich fei, ,eine in
der fkaldifchen Mythenfprache des heidnifchen Nordens
vorgetragene christliche Heilslehre'. Ja, er war fo kühn,
die Frage nach dem Verfaffer des Gedichtes, die Bang
und Bugge gar nicht aufgeworfen hatten, feinerfeits zu
stellen und zu beantworten: indem er auf eine längst
aufgegebene Vermuthung der unkritifchen isländifchen

1) Voluspa und die fibyllinifchen Orakel von Dr. theol. A. Chr.
Bang. Aus dem Dänifchen überfetzt und erweitert von Jof. Cal.
Poeftion. Wien 1880. 8.

2) Studien über die Entftehung der nordifchen Götter- und Helden-
fagen von Sophus Bugge. Vom Verfaffer autorifirte und durchgefehene
Ueberfetzuug von Oscar Brenner. München 1889. 8.

3) Deutfche Altertumskunde von Karl Möllenhoff. Fünfter
: Band. Erfte Abteilung. Berlin 1883.