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Ausgabe:

1892 Nr. 23

Spalte:

572-574

Autor/Hrsg.:

Hilty, C.

Titel/Untertitel:

Glück. 3., verm. Aufl 1892

Rezensent:

Lindenberg, H.

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 23.

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Und dahin drängte überhaupt die Zeit. Man wird, wie
fern fie einander fonft ftehen, an Wichern erinnern dürfen,
um Baumgarten gerecht zu werden. Die ,Volkskirche'
ift von früh an das Ziel feines Denkens und Handelns.
Die Art, in der er dies Lebensziel verfolgte, hat dann
allerdings durch den fchmachvollen Rechtsbruch, der ihn
traf, eine perfönliche Zufpitzung erhalten. In der That,
mit einer fall an Eigenfinn grenzenden Beharrlichkeit hat
er bis an's Ende (Offener Brief an Kliefoth und Mejer
vom 9. März 1887: II, S. 253 ff.) fein zweifellos gutes
Recht gefucht. Aber er hat dabei das Allgemeine, eben
,die Kirche', nie aus dem Auge verloren. Und trotz einzelnen
fchweren Fehlgriffen (f. Chriftl. Welt 1892, S. 49 f.)
kann man ihm feine Handlungsweife im Ganzen doch
nicht zum Vorwurf machen. Denn er hat diefe auch
bis zuletzt aus Beweggründen echt chriftlicher Art hergeleitet
. Und eben kirchlichen Gegnern gegenüber mochte
er fich wohl verpflichtet fühlen, diefe Beweggründe gerade
dann bis zum Ermüden zu betonen, wenn jene ihre
Chriftlichkeit darein fetzten, eine vollendete Verftändnifs-
lofigkeit für diefelben offen zur Schau zu tragen. Eine
Kirche in der Welt ift ohne Recht und darum auch ohne
Macht nicht denkbar. Es ift fehr begreiflich, dafs diefe
letztere fleh hin und her als fouverän geberden wird.
Aber was foll denn das Gerede von flaatlicher Bureau-
kratie in der Kirche bedeuten, wenn die höchften kirchlichen
Vertreter diefer Beamtenwelt jeden Sinn für die
Grundbedingungen chriftlichen Gemeinfchaftslebens ver-
miffen laffen? Einen Mann, der fleh als überzeugten,
,bibelgläubigen', orthodoxen Chriften kundgiebt, behandeln
fle einfach als Heiden und Zöllner. Und wirklich
felbft die Pflichten menfehlicher Theilnahme find ihnen
unbekannt. ,Als ich 18 Wochen im Gefängnifs fafs, hat
kein Menfch meine Ingeborg befucht'. Gott behüte uns
gnädig vor folchen ,Bifchöfen'! So unklar es bleibt, wie
B. fleh die Volkskirche der Zukunft im Einzelnen ausgebaut
denkt und fo unvollftändig er fleh in der Beur-
theilung des Staatskirchenthums von Conftantin an orien-
tirt zeigt, fo unzweifelhaft berechtigt ift die Forderung,
die er erhebt — übrigens fchon 1848 erhoben hat —,
dafs die Heuchelei der allgemeinen Bufsrufe in unferer
Kirche abgethan werde. So lange die einfachften Mafs-
ftäbe des Evangeliums bei kirchlichen Obrigkeiten nicht
als die entfeheidenden gelten, fondern es fleh gefallen
laffen müffen, anderen Rechtsgrundfätzen und Glaubens-
gefetzen untergeordnet zu werden, fo lange wird es dabei
bleiben, dafs ,die Allgemeinheit des Bufsrufs eine Unwahrheit
und Ungerechtigkeit gegen die Kleinen' ift.

B. hat aber nicht von der Negation gelebt. Sein
Eintritt in den Proteftantenverein ift eine pofltive That
gewefen, die ihm hoch angerechnet werden mufs. Denn
der Bericht über feine Stellung in diefem Verein lieft
fich faft wie eine Weisfagung auf die Milderung und
Ausgleichung der Parteigegenfätze, wie fie heute der
Evang. Bund und der Evang.-foc. Congrefs in gröfserem
Mafsftab und doch auch mit befferem Erfolg erftreben.
Für die Schöpfung unparteiifcher Arbeitsgemeinfchaften
war die Zeit noch nicht gekommen. Und faft nothwendig
mufste jener Verein feinen eigenen Grundfätzen, wie fie
B. auffafste, untreu werden. Denn in ihrer Unbeftimmt-
heit und Verfchwommenheit konnten feine Arbeitsziele
keine dauernde Herrfchaft über die Parteileidenfchaft
feiner Mitglieder wie feiner Gegner üben. Es war nur
natürlich, dafs die beftimmte theologifche Stellung der
Begründer und ruhrer dermafsen in den Vordergrund
trat, dafs Freund und Feind ihn bald nach diefen Namen
und nicht nach jenen Aufgaben zu beurtheilen lernten.
Sehr einfam allerdings ftand darum B. inmitten diefer
,Liberalen'. Aber er hat nach einem Grundfatz gehandelt,
der fich doch langfam auch in weiteren Kreifen durch-
zufetzen fcheint, dafs ,der Chrift das Gute und Heilige
auffinden foll, unter welcher Kutte es ihm begegnen mag'.

B. hat von Schleiermacher viel gelernt. Mehr noch

I von Luther. Er hebt es immer wieder hervor, wie wenig
diefer gekannt, verftanden, für das Leben unferer Kirche
wie unferes Volkes verwerthet fei. An einigen Bemerkungen
, die C. Schwarz (Z. Gefch. d. n. Th.4 S. 321)
eben diefer fteten Berufung B.'s auf Luther widmet,
kann man fich überzeugen, dafs nicht nur die Geiftlichen,
die in Parchim unter Kliefoth's Aegide über das 3. Gebot
verhandelten, fich in Vorftellungen über Luther bewegten,
die uns heute fchon nicht mehr leicht verftändlich find.
Ich meine aber auch, dafs H. Ziegler in dem fchönen
Schlufsabfchnitt (.Die letzte Lebenszeit bis zum Tode')
eine befriedigendere Erklärung der Widerfprüche in B.'s
theologifcher Stellung gefunden hätte, wenn er fein
Zurückgehen auf Luther entfehiedener betont hätte. B.
hat fich in feinem perfönlichen Glauben durchaus an das
kirchliche Bekenntnifs gebunden gewufst. Er hat für
»moderneWeltanfchauung', ,Umfchwung der Welterkennt-
nifs' u. dergl. kein Verftändnifs gehabt. Gerade das
zeichnet ihn aus. Denn wenn er nun doch mit Männern,
die ihm in diefer Beziehung fern ftehen, gemeinfam wirken
zu können meint, fo gefchieht das nicht auf dem Boden
irgend einer ,Vermittlungstheologie', fondern auf dem
Standpunkt der Freiheit eines Chriftenmenfchen, die
,durch den Kampf Luther's und feiner Genoffen ein für
allemal errungen' ift. Sie treibt ihn zum Widerfpruch
gegen das Ueberwiegen dogmatifcher Formeln. Sie macht
ihn von allem pietiftifchen Winkelchriftenthum los und
giebt ihm einen offenen Blick für alle PVagen des Volkslebens
. Und von hier aus gewinnt er auch Fühlung mit
jenen Fernftehenden. Nicht kritifche Ueberlegungen, fondern
die Art feines Glaubens nöthigt ihn, der Kirchenlehre
Mangel an Gefchichtlichkeit, fpeciell in der Chrifto-
logie, vorzuwerfen, oder das orthodoxe Schema zu durchbrechen
, wenn er mit Luther ,den erften Artikel, den
Artikel von der Schöpfung, den fchwerften von allen'
nennt. Wenn es zu Fortfehritten in unferer kirchlichen
Glaubenserkenntnifs kommen foll, fo ift dies der gewie-
fene Weg. Nicht irgend eine moderne Weltanfchauung,
fondern der Glaube, der feine eigenen Ausfagen beffer
verliehen lernt, wird uns weiter führen.

Rumpenheim. S. Eck.

Hilty, C., Glück. 3., verm. Aufl. Frauenfeld, Huber. —
Leipzig, Hinrichs, 1892. (V, 244 S. 8.) M. 3.— ;
geb. M. 4.—.

Ein Philofoph ohne Mantel, ein Seelforger ohne
Talar bietet hier in acht unter einem gemeinfamen Ge-
fichtspunkt zufammengeftellten Auffätzen und Vorträgen
Variationen über das Thema, das die Efthiker oder Dog-
matiker von Beruf mit dem freilich vieldeutigen Worte
Bekehrung zu bezeichnen pflegen. Denn, fo verfchieden
auch die Ueberfchriften der einzelnen Äuffätze lauten
(1. Die Kunft des Arbeitens. 2. Epictet. 3. Wie es möglich
ift, ohne Intrigue, felbft in beftändigem Kampfe mit
Schlechten durch die Welt zu kommen. 4. Gute
Gewohnheiten. 5. Die Kinder der Welt find klüger als
die Kinder des Lichts. 6. Die Kunft, Zeit zu haben.
7. Glück. 8. Was bedeutet der Menfch, woher kommt er,
wohin geht er, wer wohnt über den goldenen Sternen?)
— der Grundgedanke, der durch alle hindurchgeht, und
den auch der Titel andeuten foll, ift doch der, dafs das,
was die Menge gemeiniglich Glück nennt, und wonach
Alle verlangen, eine unbeftimmte Vorftellung der Phan-
tafie fei und dafs ein den Menfchen dauernd befriedigender
Zuftand nur zu Stande komme durch eine entfeheidende
Wendung, mit der der Einzelne, ,des Treibens müde',
den Entfchlufs fafst, um jeden Preis den Weg aller Welt
zu verladen, um in der Hingabe an einen grofsen Zweck,
in der Mitarbeit an einem geiftigen Reich volle innerliche
Befriedigung zu fuchen. Der Verf. bekennt fich mit
voller Entfchiedenheit zu diefem ,Idealismus', der zwar