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Ausgabe:

1892

Spalte:

549-551

Autor/Hrsg.:

Runze, Geo.

Titel/Untertitel:

Ethik. I. Praktische Ethik 1892

Rezensent:

Nitzsch, Friedrich August Berthold

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549

Theologifche Literaturzeitung. 1892. Mr. 22.

SS»

weiteren Kreifen wegen feiner religiöfen Kraft nicht nur
als eine theologifche Unterfuchung, fondern als ein
Zeugnifs für das Evangelium gefchätzt worden, nach
manchen vertrauten Zeugnifsen gerade von der dem
Schul- und Parteitreiben noch fern flehenden akade-
mifchen Jugend. In feiner jetzigen Geftalt wird es noch
unbehinderter wirken und fich gewifs auch bei theo-
logifchen Gegnern als ein folches ausweifen, das
,Chriftum treibt'. Die Freunde aber wird es auf's Neue
in die Tiefe der apologetifchen Hauptfrage führen, welche
Bedeutung dem gefchichtlichen Chriftus gebühre, und
unter welchen Bedingungen feine unveräufserliche Bedeutung
erkannt und anerkannt werden könne.

Göttingen. Th. Häring.

Runze, Prof. Dr. Geo., Ethik. Encyklopädifche Skizzen
und Litteraturangaben zur Sittenlehre. L Praktifchc
Ethik. Berlin, C. Duncker, 1891. (VIII, 275 S. gr. 8.)
M. 6. —

Der Umftand, dafs in den letzten Jahrzehnten Bearbeitungen
der Ethik, der philofophifchen fowohl wie
der theologifchen, den Büchermarkt nicht nur erfüllt,
fondern auch überfchwemmt haben, berechtigt uns nicht,
einer ferneren mit Mifstrauen entgegenzutreten, fobald
fich eine folche darüber ausweift, dafs fie wiederum Neues,
Befonderes und Brauchbares bietet. Dies ift bei der vorliegenden
der Fall. Auch wenn der Verfaffer uns nicht
vorweg fagte, was er Befonderes wolle, Originalität
würden wir hier nicht vermiffen. Was bereits vorliegt,
ift der erfte Theil eines Ganzen, das (laut dem Profpect
p. XII und XIII) 1) eine .praktifche oder concrete' Ethik,
2) eine hiftorifche, 3) eine ,abftracte' enthalten foll. Zu-
vörderft foll nämlich (vgl. S. 15) durch Vorlegung einer
,concreten' Sittenlehre Intereffe für die Gefchichte der
Sitten und der Ethik, fodann aber durch beide geftei-
gertes Intereffe für den Haupttheil, die abftract-theore-
tifche Ethik, erweckt werden. Das Grundverfahren ift
alfo, obwohl innerhalb des erften Theiles fynthetifch
verfahren werden foll (S. 14 unt.), ein analytifches.

Schon das ift etwas wenn auch nicht fchlechthin
Beifpiellofes, doch Ungewöhnliches, aber deshalb nicht
Verwerfliches, und dasfelbe gilt von dieferArtder Gruppi-
rung und eigenthumlichen Dreitheilung überhaupt. Der
Verf. felbft findet jedoch die Befonderheit feiner Leiftung
vorzugsweife in etwas Anderem, das noch dazu an ver-
fchiedenen Stellen verfchieden bezeichnet wird. Denn
nach S. 16 ift fein ,befonderer' Zweck eine ausführliche
Literaturangabe, geordnet nach dem fyftematifchen
Gefichtspunkte einer überfichtlichen Dispofition aller Probleme
der Ethik. Nach S. III der Vorrede hingegen will
fein Buch wefentlich ein Verfuch fein, über die Fülle
der Probleme und die Mittel zu ihrer Löfung lehrhaft
zu orientiren, dabei nach Möglichkeit die Schwierigkeiten
aufzudecken und zum Nachdenken anzuregen, aber auch
an geeigneter Stelle, namentlich bei Problemen von prin-
cipieller Bedeutung und allgemeinerem Intereffe, die Arbeit
des Selbftdenkens durch methodifche Erläuterungen
zu erleichtern. Beides ift etwas Verfchiedenes; denn man
kann nicht annehmen, dafs der Verf. unter der Aufwei-
fung der Mittel zur Löfung der aufgedeckten Probleme
hauptfächlich Literaturangaben verfteht. Die Vermitte-
lung liegt vielleicht darin, dafs er es urfprünglich allerdings
hauptfächlich auf die Literatur abgefehen hatte;
da er diefe aber nicht in äufserlich mechanifcher, blofs
buchhändlerifch-technifcher und dilettantifcher Weife
zufammenftellen, fondern in methodifcher, organifcher,
hiftorifcher Weife in diefelbe einführen wollte, fich ge-
nöthigt fah, auf die Ermittelung und Darlegung der
Hauptprobleme der Ethik zurückzugreifen, hierbei aber
zu der Anficht gelangte, man könne, wenn man auch
nur dies in wahrhaft fruchtbarer und deutlicher Art thun

wolle, eine vollftändige Exemplification und mithin eine
in den Grundzügen vollftändig ausgeführte Sittenlehre
gar nicht umgehen. Noch wichtiger, als was der
Verf. gewollt, ift was er geleiftet hat, und darunter findet
fich des Brauchbaren und Neuen genug. Die Literaturangaben
find reichlich und meift gut gewählt, wenigftens
foweit es fich um die Schriften der philofophifchen
Ethiker der verlchiedenflen Zeitalter und Schulen handelt.
Auch Nachbargebiete, wie Anthropologie, Sociologie und
Politik find zur Genüge herbeigezogen. Nicht in dem
Mafse, wie die Vertreter der philofophifchen, find die der
theologifchen Moral berückfichtigt. Namen wie die eines
Marheineke, Baumgarten-Crufius, Beck, Vilmar, von Hofmann
, Palmer, Martenfen u. A. find theils ganz, theils
faft ganz übergangen. In der Literatur über die Lehre
von der Askefe vermiffe ich z. B. des Holländers Kift
Chriftl. Asketik oder Uebungslehre (deutfch durch von
der Kuhlen, Wefel 1827). Diefe Defecte erklären fich
zum Theil daraus, dafs der Verf., obgleich er Theologe
ift, fich wenn auch als einen chriftlichen, doch mehr
als einen philofophifchen, denn als einen theologifchen
Ethiker fühlt (vgl. S. 8 und den Totaleindruck des
Buches), ja die Frage, ob das fittliche Leben überhaupt
einer pofitiv-religiölen Grundlage bedarf, wenigftens in
dem vorliegenden Bande (vgl. die angef. Stelle) in suspenso
läfst. — Für die Präcifirung anerkannter und die Hervorhebung
neuer oder doch feither zu wenig beachteter Probleme
hat Verf. im Ganzen Anerkennenswerthes geleiftet;
auffallend ift jedoch gegenüber den gegenwärtigen An-
fprüchen der modernen Buddhiften und der Schopen-
hauerianer feine Behauptung, für ein modern-wiffenfchaft-
liches Moralfyftem fei z.B. die Beurtheilung der Askefe,
der er übrigens felbft einen Paragraphen widmet, entbehrlich
.

Aber nicht nur auf die unerläfslichen Probleme
wird forgfältig hingewiefen, fondern es findet fich in
diefem erften Theil auch fchon ein umfaffendes Material
verarbeitet, obgleich das Wefen des Sittlichen, das
Princip der Ethik, die Natur des Willens, die Möglichkeit
der Willensfreiheit und die Bedeutung des Gewiffens hier
noch nicht erörtert, fondern dem dritten Theile vorbehalten
werden. Das läfst lieh auch mit Rückficht auf
die ganze Anlage des Werkes rechtfertigen. Allein
wenn doch einmal über den Begriff, Inhalt und Umfang
der Ethik bereits hier gehandelt werden follte (f. 5 1 f.),
fo mufste deutlicher fchon hier auf gewiffe Grundver-
fchiedenheiten in der Faffung derfelben hingewiefen
werden, z. B. darauf, dafs Schleiermacher in feiner philofophifchen
Sittenlehre unter Verwifchung des Unter-
fchiedes zwifchen der Willensthätigkeit und den übrigen
Geiftesthätigkeiten eine vollftändige Phyfiologie der
menfehlichen Geiftesthätigkeit in die Ethik hineinzieht,
wodurch ein von dem herrfchenden total abweichender
Begriff von der Sache aufgeftellt ift. Andererfeits hält
Referent es für ein Superflmim, wenn der Verf. immer
wieder von Neuem fein Steckenpferd reitet, nämlich die
Bedingtheit der ethifchen Begriffe, Urtheile und Schlüffe
durch die Sprache, deren Wichtigkeit übrigens nicht verkannt
werden foll, mit ermüdender Beharrlichkeit ein-
fchärft. Sein eigener Ausdruck ift meiftentheils correct,
präcis und klar, jedoch nicht fchlechthin überall, z. B.
nicht, wo er fagt (S. 52), das Sittlichböfe felbft fei
Symptom des religiöfen Zuftandes, womit wahrfcheinlich
gefagt fein foll, die mit Unluft verknüpfte Anerkennung
des Sittlichböfen im eigenen Herzen verrathe Religiofität.
Die fittlichen Urtheile des Verf.'s find meift befonnen.
Dies zeigt z. B. feine Faffung des Selbftmordes und des
Zweikampfes, die er beide verwirft, aber ohne fanatifche
Uebertreibung, d. h. ohne Verkennung der obwaltenden
Schwierigkeiten. Unrichtig ift aber, dafs Schleicrmacher
das Duell vertheidige, Chr. S. S. 625 wenigftens thut er
das Gegentheil. In der Staatslehre vermifst Ref. die gehörige
Erwägung einer Hauptfrage, nämlich der, ob der