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Ausgabe:

1892 Nr. 22

Spalte:

547-548

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Hermann

Titel/Untertitel:

Das Wahrnehmungsproblem vom Standpunkte des Physikers, des Physiologen und des Philosophen 1892

Rezensent:

Glogau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 22.

548

Die evangelifche Kirche Anhalt's ift von Anfang weder
eine lutherifche (ubiquitiftifche), noch eine reformirte
(calviniftifche) im Sinne des Confeffionalismus gewefen.
Ihr Typus ift der vermittelnd melanchthonifche, wobei
man eines Gegenfatzes zwifchen Confcssio variata und
invariata fich in keiner Weife bewufst war, und wobei
es gefchehen konnte, dafs im Laufe der Zeit eine Anzahl
reformirter Elemente im Cultus wie in der Lehre (pfälzifche
Agende, Heidelberger Katechismus) Eingang fand, ohne
dafs doch ein förmlicher Uebertritt zum reformirten Be-
kenntnifs jemals erfolgt wäre. Will man die anhaltifche
Kirche damaliger Zeit nach heutigen Begriffen claffi-
ficiren, fo würde fie am erften eine unirte zu nennen
fein. Eine fehr ehrenwerthe Erfcheinung ift die Weitherzigkeit
und Milde, welche die anhaltifchen Fürften
ihren Unterthanen gegenüber in Glaubensfachen ftets
bewährt haben; ein Zwang hinüchtlich des Bekenntnifses
ift von ihnen niemals geübt worden, auch nicht in den
Tagen der Gegenreformation, wo fich die Landesherren
aller Bekenntnifse dazu berechtigt und verpflichtet glaubten.
Die Arbeit des Verf.'s verdient auch in diefem Nachworte,
wie in dem Hauptwerk, das Lob gründlicher Sach-
kenntnifs und wiffenfchaftlicher Unbefangenheit. Wohl-
thuend berührt die vornehme, rein fachliche Haltung,
welche er gegenüber den hin und wieder fehr gereizten
und ins Perfönliche gehenden Angriffen der Gegner
bewahrt.

Darmftadt. K. Köhler.

Schwarz, Dr. Herrn., Das Wahrnehmungsproblem vom

Standpunkte des Phyfikers, des Phyfiologen und des
Philofophen. Beiträge zur Erkenntnistheorie und
empirifchen Pfychologie. Leipzig, Duncker & Humblot,
1892. (XXI, 408 S. gr. 8.) M. 9.—

Das vorliegende Werk bewegt fich durchaus innerhalb
der modernfiten Gedankenkreife, für welche das
fchwere Ringen der claffifchen Philofophen, die Natur
des geiftigen Gefchehens aufzuklären, fich einfach als ein
Mifsverftändnifs erwiefen hat. An der Hand feiner
Führer, die er durch ausgedehnte Excerpte in grofsem
Umfange für fich reden läfst, erweift vielmehr Schwarz
die Wahrnehmung als eine überrafchend einfache That-
fache. ,Der pfychologifche Thatbeftand zeigt, dafs unfere
Bewufstfeinsvorkommnifse in zwei grofse Claffen zerfallen
, in phyfifche und pfychifche Phänomene, in Be-

wufstheit und Objecte des Wiffens...... Von diefen

beiden grofsen Claffen zeigt fich die Claffe der pfychifchen
Phänomene auf die phyfifchen bezogen, nicht umgekehrt.
Ein Wiffen ohne Beziehung auf ein Object ift nach dem
Zeugnifs der pfychologifchen Analyfe undenkbar. Aber
Objecte ohne Subjecte .... kann es wohl geben. Solche
Objecte find aber die Sinneseindrücke (!), die nicht in
einer wefentlichen und unabtrennbaren Beziehung zu den
pfychifchen Acten ftehen(ü) und infofern auch getrennt
von ihnen wenigftens gedacht (NB!) und als möglich betrachtet
(NB!!) werden können' (S. 353 f.). ,Es ift aber
leicht einzufehen, dafs die Benennung und Claffification
fchon ein Wiffen um einen Sinneseindruck vorausfetzen,
auf Grund denen wir dem Eindruck einen beftimmten
Namen geben oder ihn zu einer beftimmten Claffe rechnen'
(S. 350). — Nach diefem in der That fehr einfachen
»Beitrag zur empirifchen Pfychologie', den der Verf.
Uphues verdankt, folgt eine metaphyfifche Beurtheilung
des pfychologifchen Thatbeftandes. Hier kommt der
Verf. nach einem Umfchweif von mehr wie 50 Seiten
zu dem Ergebnifs: ,Vielleicht geht man nicht fehl, wenn
man das Problem, wie das Seiende zu einem ge-
wufsten Seienden werden könne, für gleich
fchwierig und räthfelhaft erklärt, fei es nun das
fremde, fei es das eigene Sein, von welchem uns
Wiffen überkommt. Doch dies gehört bereits in das

Bewufstfeinsproblem' (S. 407 f.). Mit diefem Ergeb-
nifse fchliefst der Verf. fein Werk.

Dafs die Lefer diefer Zeitung für ihre befonderen
Intereffen eine Hilfe von einer folchen Philofophie nicht
erwarten können, liegt auf der Hand. Daher habe ich
über des Verf.'s Bemerkungen aus der Phyfik und Phy-
fiologie nicht weiter berichtet. Seine Grundlagen aber,
die Autoritäten, auf welche er fich beruft, habe ich bereits
anderswo wiederholt befprochen, Riehl z. B. in der
Zeitfchrift für Völkerpfychologie, Bd. XVII, S. 325—331,
ohne jemals eine Entgegnung zu erreichen. Daher fehe
ich von einer unfruchtbaren Erneuerung ihrer Bekämpfung
ab. Der Verf. felbft hat fleifsig gearbeitet und das beigebracht
, was innerhalb des von ihm beherrfchten Ge-
fichtskreifes zu finden war. Es kommt mir nicht bei,
ihn dafür verantwortlich zu machen, dafs er die Schranken
unferer .neueften' Philofophie perfönlich nicht zu durchbrechen
vermocht hat.

Kiel. Guftav Glogau.

Herrmann, Prof. D. W., Der Verkehr des Christen mit Gott,

im Anfchlufs an Luther dargeftellt. 2. gänzlich um-
gearb. Aufl. Stuttgart, Cotta Nachf., 1892. (VII,
283 S. gr. 8.) M. 4.50.

Die Unterfchiede diefer zweiten Auflage im Vergleich
mit der erften (f. Theol. L.-Z. 1887 Nr. 1) find im wefentlichen
folgende: ,Der Verkehr Gottes mit uns' bildet
jetzt das zweite, ,unfer Verkehr mit Gott' das dritte
Capitel, während das dritte der erften Auflage weggefallen
ift, indem die ,Gedanken des Glaubens', die es
enthielt, nun je an der Stelle, an der fie fich aufdrängen,
befprochen find, der Gedanke des verklärten Lebens
Jefu im Verlauf der Darlegung ,unferes Verkehrs mit
Gott', der Gedanke der Wiedergeburt am Schlufs diefes
Abfchnitts. Diefe formellen Aenderungen find fchon
dadurch empfohlen, dafs auch früher der Gedanke der
,Gottheit Chrifti' in der Entwicklung des ,Verkehrs
Gottes mit uns', wie es die Sache forderte, feine Stelle
gehabt hatte. Vor die jetzt das zweite und dritte
Capitel bildenden Hauptunterfuchungen tritt nun als
Einleitung ein Capitel ,über den Gegenfatz der chriftlichen
Religion zur Myftik'. Der Herr Verf. wollte nicht mehr
durch eine vorangefchickte Schilderung der Vorftellung
feiner Gegner diefe zum Widerfpruch reizen, fondern
immer mehr allein durch thetifche Darlegung der eigenen
Ueberzeugung wirken und zur Vergleichung der fremden
anleiten; diefem Zweck dient jenes nun ganz objectiv
gehaltene erfte Capitel. Was aber die Veränderungen
in der eigentlichen Hauptausführung betrifft, fo find
diefelben weit belangreicher in dem Abfchnitt über
,Gottes Verkehr mit uns'. Der Abfchnitt S. 52 bis etwa
S. 100 ift nicht nur ganz neu gearbeitet, fondern enthält
auch grofsentheils ganz Neues ; mit S. 110 ff. ift erft
wieder der Faden der erften Auflage S. 36 ff. deutlich
aufgenommen. In jener Darlegung ift befonders werthvoll
, dafs der Herr Verf. genauer auf die oft erhobene
Frage eingeht, was er eigentlich als das in dem ge-
fchichtlichen Jefus den Heilsglauben Schaffende anfehe,
52 ff. Dankbar erkennt man, wie die Verhandlungen
der letzten Jahre die Sache doch wirklich gefördert
haben.

Es würde für die Anzeige einer zweiten Auflage zu
weit führen, ebenfo die übrigen Veränderungen im Einzelnen
aufzuzählen. Es finden fich folche fo gut wie
überall. Auch auf deutlichere Hervorhebung des Gedankengangs
durch Anfetzung neuer Zeilen u. f. w. ift
fichtlich eingehende Mühe verwendet. Sie foll allenthalben
,die Dankbarkeit für die dem Buch gefchenkte
Theilnahme bezeugen' (VII). Mit befonderer Freude
werden es Viele aufserdem begrüfsen, dafs die Schärfe
der Polemik befeitigt ift. Schon bisher ift das Buch in