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Ausgabe:

1892 Nr. 21

Spalte:

517-518

Autor/Hrsg.:

Hahn, G. Ludwig

Titel/Untertitel:

Das Evangelium des Lucas, erklärt. 1. Bd 1892

Rezensent:

Weiß, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 21.

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ftellung zu erheben. So complicirt die Frage und die für eine fo weittragende Behauptung bilden, dafs der Verf.
Antwort hier lauten mag, fo unumgänglich nothwendig — dem ftark hebraiftifchen und judenchriftlichen Haupt-
ift heute diefe Methode, da wir wiffen, dafs die Thätigkeit inhalte beider Schriften zum Trotz — ein griechifcher
unferer drei Evangcliften durchweg eine fecundäre ge- Heidenchrift war. Es kommt darauf an, eine breitere
wefen ift. Für diefe Aufgabe bietet Calvin dem Lefer Unterlage für die Charakteriftik desVerf.'s zu gewinnen,
felbftverftändlich nichts. Ebenfo ift feine, doch immer Diefe fcheint mir in Act. 24—26 geboten zu fein. Gegenüber
der geradezu unbegreiflichen Behauptung, der heiden-
chriftliche Verf. habe fich in der Sprache u. f. w. der
LXX und altteft. Gefchichtserzählung fo ftark ange-
pafst, ift es bei Weitem das Wahrfcheinlichere, mit
Hahn auf judenchriftlichen Urfprung des Ganzen zu erkennen
, wenn man nicht den einzig möglichen Mittelweg:
ohne Schaden und hoffentlich mit Nutzen verwenden. [ judenchriftliche Quellen befchreiten will. Ebenfo wird
Er ift eben, wie alles in der Welt, nur gefchichtlich zu von Hahn die Rede vom ,Paulinismus' des Lucas auf ein
verftehen. I richtiges, fehr befcheidenes Mafs zurückgeführt, obwohl

aufs Dogmatifche abzielende Erklärung nicht gerade geeignet
, uns zu helfen, das correcte und wirklich lebendige
Bild von Jefus zu gewinnen, wie wir es heute fuchen.
Alfo nur, wer fich der Differenz des heutigen Standpunktes
und der heutigen Methode von der Calvin's auf
Schritt und Tritt bewufst bleibt, kann den Commentar

Göttingen. Joh. Weifs.

Hahn, Prof. Dr. G. L., Das Evangelium d. Lucas, erklärt.
i.Bd. Breslau, Morgenftern's Verl., 1892. (VIII, 635 S.
gr. 8.) M. 12.—

Ref. hat fich von der Redaction die Befprechung
diefes Buches ausgebeten, weil es ihm unmöglich war,
in der von ihm bearbeiteten Erklärung des Lucas-Evangeliums
(Meyer's Commentar, 8. Aufl.) dasfelbe noch zu
benutzen. Der Standpunkt desVerf.'s ift für unfere augenblickliche
theologifche Situation fehr charakteriftifch. Die
Benutzung fchriftlicher Quellen wird abgelehnt, freilich
dann ein wenig wieder zurückgenommen. Die Verfuche
der otoXXoi, die im Prolog erwähnt werden, feien von
Luc. nicht eigentlich als Quellen benutzt, fondern er werde
diefelben, ,foweit fie ihm zugänglich waren, eingefehen
und bei Wiedergabe der apoftolifchen jcagaöoOig auch im
Ausdruck und in der Ordnung fich theilweife an fie an-
gefchloffen haben'. Im Allgemeinen nennt man das eben
Quellenbenutzung. Aber freilich: Hahn will diefe Benutzung
nur als ganz fecundäre faffen. Von unferen
Evangelienhabekeins zu diefen .unvollkommenen Anfangs-
fchriften' gehört. Als,Quellen' konnte der Verf. des 3. Evangeliums
jene Schriften fchon deshalb nicht benutzen,
weil fie ja doch nur die mündliche nagcdoGig der Apoftel
enthielten, die unfer Apoftel auch felbft vernommen zu
haben verfichert. Nämlich nach Hahn find die Hauptquellen
des Ver.f's die apoftolifche jcagäöoöig und eigene
Erinnerung. Denn er bezeichne fich im Prolog als einen
avxöxxng xal vjtrigixrjg xov Xoyov, der zwar nicht
<xjt'dQX?j? w'e die Apoftel ein avxoxxng des Lebens Jefu
gewefen, fondern erft fpäter, etwa Luc. 9,61 f., in die
Gefolgfchaft des Herrn eingetreten fei. Mit nmXwgo-
rpoQVf/tvcov hv ?)filv Jigayfiaxqjv (bem. dagegen Juftin,
Dial. 81: nag rjfilv dvt'/g xig, co bvofia 'Icodwrjg.) deute er
an, dafs er nicht nur Paläftinenfer, fondern auch Genoffe der
erften chriftlichen Generation war. Dies lehre auch feine
Bekanntfchaft mit dem Paläftinenfifchen Local und den
jüdifchen Realien, fchliefslich aber beweife die in hohem
Mafse hebraiftifche Sprache des Verf.'s, dafs er ein geborener
Jude fei. Mithin könne nicht Lucas der Verf. 1 bekannt war, ergänzt und kritifirt habe. Dafs dies der
fein — dies ift nur eine Vermuthung (!) der alten j Fal1 ld> lehrt das Ev. durchweg. Denn Luc. hat zweifellos
Kirche — fondern etwa ein Mann wie Silas - Silvanus, ' den Marcus oder feine Grundfchrift mit mindeftens einer
der unter allen Reifegenoffen des Paulus allein in Be- | anderen Schrift verglichen und die letztere häufig vor-
tracht kommen könne. Intereffant ift hier, dafs die Ver- gezogen. Und zwar mufs dies eine Schrift gewefen fein,
werfung der Quellenkritik zu einer anderen Art von deren Grundftock auch fchon dem Marcus (bezw. feiner
radicaler Kritik führt, welche fo fichere Refultate wie Grundfchrift A) als eine feiner Quellen vorlag. Nur fo
das Heidenchriftenthum des Verf.'s der Lucasfchriften zu erklart fich z. B. die grofse Auslaffung aus Mc. Luc.
befeitigen wagt Freilich bietet die gegenwärtige Sach- : hat fich da einer Quelle angefchloflen, die nur einen
läge in unferer Kritik zu folchem Verfahren Handhaben Thei1 der Erzählungen enthielt, die heute das Mittelftück

die Möglichkeit der Benutzung paulinifcher Briefe zu-
geftanden wird. Die Ablehnung der Marcushypothefe
gründet fich auf die Auslaffungen des Lucas aus dem
Marcusfaden und die ftarken Abweichungen in der Ako-
luthie. Die Tabelle, welche das Letztere illuftriren foll
(S. 24 f.J, ift ganz unvollftändig und giebt ein verkehrtes
Bild. Es mufsten, um das Verhältnifs der Ueberein-
ftimmungen zu den Abweichungen erkennen zu laffen,
beide neben einander aufgeführt werden. Von den
letzteren aber fällt eine grofse Zahl überhaupt aus,
da hier vielmehr die Vergleichung mit Matth, nahegelegt
war — eine Vergleichung, welche auf die Logia-
hypothefe führt. Auf diefe verwendet H. überhaupt
keine Worte der Widerlegung, während er bezüglich der
Marcushypothefe doch immer noch einen gewiffen
Einflufs der Grundfchrift des Marcus zugiebt. Befremdend
ift, dafs H. nicht die ftarken Abweichungen von Marcus
in der Leidensgefchichte für feine Annahme ftärker ausgebeutet
hat. Bei Allem mufs ihm zugeftanden werden,
dafs auch hier die heutige Sachlage in der Kritik für feine
Ablehnung der bisherigen Hypothesen Handhaben genug
bietet. So ift es richtig, dafs die Auslaffung des grofsen
Abfchnittes Mc. 6,45—8,26 von der bisherigen Forfchung
nicht erklärt ift. Dies ift ein fehr wunder Punkt an der
Marcushypothefe. Dazu kommt eine Fülle von anderen
Erfcheinungen, namentlich im letzten Theile des 3. Ev.,
die nicht durch die Marcushypothefe erklärt werden.
H. hat nun eine, wie ich meine, richtige Beobachtung
über den Prolog ausgefprochen. Bei der Stelle xa&cbg
xagidoGav ?//ilv ot djcägyJig avxojcxai u. f. w. fagt er:
Statt r)filv würde man avxolg erwarten (bezüglich auf
die noXXoi). Das ift richtig. Wenn nun Luc. rjplv
fchreibt, fo Hellt er neben einander als zwei ihm bekannte
Gröfsen: 1. die Werke der xoXXoi, 2. die apoftolifche
nagdöoGig. Er vergleicht beide mit einander
(xad-mg). Mithin ift es richtig, wenn H. annimmt, der
Verf. habe die Schriften der noXXoi gemeffen und kritifirt
an der apoftolifchen jcagdöoGig. Aber es ift durchaus
willkürlich, diefelbe mit Berufung auf den Sprachgebrauch
' auf mündliche Ueberlieferung einzufchränken.
Vielmehr ift hier anzunehmen, dafs Lucas die Schriften
der noXXoi durch das, was ihm an Schriften der Apoftel

genug. Wenn man die griechifche Abkunft des Verf.'s
aus den wenigen Zeilen des Prologs zu beweifen fucht,
fo kann H. mit Recht darauf hinweifen, dafs auch fie
nicht ganz von Spuren des Hebraismus frei find
(z. B. nXngoyogtlGfrai). Vor Allem aber — jene Zeilen
können für fich allein nun und nimmermehr die Bafis

des Marcus ausmachen. So enthielt fie nur eine Speifung,
während in Marcus (oder A) zwei Quellen mit je einer
Speifung combinirt find.

Ueber die Erklärung Hahn's foll berichtet werden,
wenn das ganze Werk fertig vorliegt.

Göttingen. Joh. Weifs.

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