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Ausgabe:

1892 Nr. 19

Spalte:

479-482

Autor/Hrsg.:

Rohmer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Rohmer‘s Wissenschaft und Leben. 5. u. 6. Band 1892

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 19.

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unterfcheidet namentlich 6 Vorftellungen dabei; zuerft
das ßXäipiiiov, die fchädlichen Folgen davon, dafs man
jemanden im Sterben liegen oder todt fieht, ohne auf
den erfchreckenden Anblick vorbereitet zu fein. Die Folge
ift allgemeines Hinfiechen und dergl. Ferner wird genannt
das bfifidziv oder fidzi, das böfe Auge; auch bei uns
fürchten fich ja grofse Kreife noch vor den Folgen des
böfen Blicks. Sodann glaubt män dort an das xäzsiia,
eine Strafe für Uebertretung der Sitten, die fich an Kindern
durch Schwäche, aber auch an Erwachfenen in allen möglichen
Schrecken zeigt. Das dxxdoaytia fcheint eine ähnliche
Vorftellung wie das ßXaxpiiiov zu fein. Ein Zauber,
das öeöliiov genannt, ift gegen Nebenbuhler in der Liebe
gerichtet oder auch gegen einen Feind im Allgemeinen
und foll Sterilität bewirken. Das yoäxpiu.ov endlich will
einem Feinde fchaden oder die Liebe jemandes auf den
Zaubernden lenken. Der Verf. fchliefst mit einer Forderung
der ethifchen Erziehung des Volks.

Ueber Erziehung handelt auch ein trefflich beobachtender
Artikel des BixsX.aq, aus dem man namentlich
den zerfetzenden Einflufs der modernen Cultur auf das
griechifche Volk kennen lernen kann, das, vor Kurzem
noch in patriarchalifchen Verhältnifsen lebend, fich in
wenig Jahrzehnten an die Macht einer bis dahin völlig
unbekannten Denkweife gewöhnen mufste. Ein anderer
Auffatz von Begleris: 'B ctycoyt) ev oytosi xobg zr)v xoi-
vcovixrjv rßhxt'/v fagt von der Erziehung II aXrjQ-r/q dycoyzj
oopeiXti vd tyr] cog oxoxbv zr)v xazaozoXxjv zcöv eyto'iozixeöv
räöEcov zov jcatöbc, axiöicoxovOa zr)v aväxzv£,iv zcöv cpvOi-
xcöv xal qPrixcöv ya.Qi6uäzmv zov, ojtcog xazaozrjOXj ovzcoq
avzbv yqrfizbv xoXizrjv xal aXr/tf/j xazoicizr/v. Bei diefem
antikifirenden Standpunkt ift das Chriftliche nicht genug
in Anfatz gekommen, obwohl der Verf. auch von der
Nächftenliebe handelt. Derfelbe Autor fchreibt S. 205 ff.
über den Begriff des Rechts vxb xoivcovioXoycxrjv sxoxpiv
und läfst diefe Idee hervorgehen aus dem eycoCOfcbg und
dem dXzQOviO/ibg. Er fafst feine Anflehten in dem Satz
zufammen: 'Eäv dyaxböusv xal Oeßoiisfra zb öixaiov zcöv
aXXcov, zovzo xQOtQyszai 0X1 ayaxcofisv xai oeßofisUa zo
öixaiov rjueöv avzoöv (S. 209).

Zum Schlufs will ich noch bemerken, dafs die Sprache
der meiften Autoren im Syllogos eine formvollendete
ift, ein Zeugnifs für den auch heute noch gewaltigen
griechifchen Geift, der in einer Zeit von hundert Jahren
eine gänzlich verwilderte Sprache zu diefer Reinheit, Geläufigkeit
und Fülle umbilden konnte.

Erichsburg. Ph. Meyer.

Rohmer's, Friedr., Wissenschaft und Leben. 5. u. 6. Bd.

Fr. Rohmer's Leben und wiffenfehaftlicher Entwicklungsgang
. Entworfen von Dr. Joh. Cafp.
Bluntfchli. Bearb. und ergänzt von Dr. Rud. Sey-
erlen. 2 Hälften. München, Beck, 1892. (XXXV, 574
u. X, 410 S. m. 2 Bildnifsen in Photograv. gr. 8.)
M. 15.—

Der erfte Band von ,Fr. Rohmers Wiffenfchaft und
Leben', die »Wiffenfchaft von Gott' enthaltend, erfchien
bereits 1871; daran fchloffen fich 1884—85 zwei weitere
Bände, in welchen Rohmer's »Wiffenfchaft vom
Menfchen' zur Darfteilung kam, und gleichfalls noch
1885 ein vierter Band, eine Auswahl des Wichtigften
und Bedeutendften aus feinen politifchen Schriften.
Mit den vorliegenden, auch als felbftftändiges Werk auftretenden
zwei Bänden findet das Ganze feinen endlichen
Abfchlufs. Friedrich Rohmer (er ftarb 1856 erft
42jährig) ift es werth, dafs der Ertrag feiner geiftigen
Arbeit nebft dem Bilde feines Lebens- und Entwicklungsgangs
der Nachwelt aufbehalten bleibt. Er ift während
feines Lebens wenig beachtet und verftanden, zuweilen
auch wie namentlich während feines Aufenthaltes in der
Schweiz und feiner Verflochtenheit in die dortigen politifchen
Händel, in empörender Weife mifshandelt worden.
Manches mag zu dem Mangel an Erfolg, der ihn begleitete
, Rohmer's wenig fympathifche Perfönlichkeit beb
getragen haben (namentlich eignete ihm ein mafslos
gefteigertes Selbftbewufstfein, welches Viele abftiefs)
fowie die Untugend einer unglaublich abftrufen und
dunkeln Darftellungsweife, die er mit anderen Mehlem
der Philofophie theilt, und die es zu einem äufserft unbehaglichen
Gefchäfte macht fich, durch feine wiffen-
fchaftlichen Aufzeichnungen durchzuarbeiten. Der Hauptgrund
liegt zweifellos darin, dafs er in eine Zeit fiel,
welch die Luft an dem Aufbau fpeculativer Syfteme verloren
hatte und fich ganz andersartigen Aufgaben zuwandte
. So hat er die Kraft feines Lebens an das
Ringen nach einem Ziel fetzen müffen, welches für die
Mitlebenden keinen Werth hatte: ein wahrhaft tragifches
Lebensloos. Friedrich Rohmer ift zweifellos ein grofs
angelegter, ungewöhnlicher Menfch gewefen; eine feltene
fpeculative Kraft und ein unwiderftehlicher Drang zur
Speculation war in ihm. Seine Gottes- und Weltan-
fchauung ift nicht mit einem Male fertig hervorge-
fprungen, fondern als die Frucht eines langwierigen
mühevollen Ringens aus feinem Geilte geboren worden.
Ein eingehend ausgeführtes, theilweife vielleicht zu fehr
ins Einzelne gehendes Bild davon giebt die vorliegende
Darfteilung feines wiffenfehaftlichen Entwickelungsganges.

Rohmer verfährt in feiner Speculation durchaus felbft-
ltändig und eigenartig. Anfänglich ein Schüler Schelling's
und von ihm beeinflufst, hat er fich bald von diefem abgewandt
. Auch Hegel zog ihn nicht an: er urtheilt von
ihm nicht unrecht, Hegel kenne nur die Entwickelung,
aber nicht das fich entwickelnde Subject, den Geift
(I, 412). Der Pantheismus, der anfangs auch Rohmer's
Denken beherrfchte, genügte ihm nicht. Er hält fich
für berufen, der Menfchheit eine neue Gottes- und Welt-
anfehauung zu enthüllen, welche die ,logifche Rechtfertigung
' des Chriftenthums (oder eigentlich nur des
chriftlichen Gottesbegriffs) liefern und deffen ,abfolute
Vernünftigkeit' zur Darftellung bringen folle (II, 258), ihr
einen Gott zu geben, der nicht pantheiftifch in dem AI 1
aufgehe und auch nicht nach der Weife des Theismus
(richtiger Deismus) aufser der Welt flehe, fondern in ihr
lebendig walte (II, 90). Die ,Löfung des Welträthfels',
die er verhiefs, • liegt in der von ihm gefundenen An-
fchauung vom Makrokosmus und Mikrokosmos. Der
Makrokosmos, d. h. das Univerfum, ift Gott, aber in fich
zweitheilig, nämlich Geift und Materie (letztere der
Körper des Gottgeiftes), wie alles wirkliche Sein aus der
Synthefe von zwei Potenzen befteht (meift von Rohmer
als ,Unterlage' und ,Eigenfchaft' bezeichnet). Darin, dafs
Gott nicht Ein gegenfatzlofer Geift, ,fondern dafs er ein
Dualismus ift, der ewig mit fich felbft zu thun hat', befteht
feine Perfönlichkeit (II, 226). Der Makrokosmos
nun fchafft aus Liebe aus fich felbft den Mikrokosmos,
die organifchen Einzelwefen. — Der andere Hauptzweig
der Rohmer'fchen Wiffenfchaft, neben der Speculation
über Gott, ift die ,Wiffenfchaft vom Menfchen', die Pfy-
chologie. Rohmer's pfychologifche Anfchauungen haben
mehrfach auf feine religionsphilofophifchen Ideen eingewirkt
. So begreift er auf Grund feines pfychologifchen
Syftems Chriftus als den vollkommenen Menfchen nach
der Seite der ,Gemüthsftrömung' hin. Aus feiner Pfy-
chologie leitet er auch feine politifchen Grundfätze ab,
er glaubte in ihr das Princip einer neuen Welt- und
Staatsordnung gefunden zu haben (II, 195). Auf die Ge-
fchichte angewendet führte fie ihn zu einer eigentümlichen
Conftruction der Epochen der Weltgefchichte, von
der Vorausfetzung aus, dafs die pfychologifche Entwickelung
des Einzelmenfchen im Kleinen die Ent-
wickelungsgefchichte der Menfchheit wiederfpiegele.

Friedrich Rohmer ift der Ueberzeugung gewefen,
in feiner Speculation die endliche Löfung des grofsen
,Welträthfels' zu befitzen. Das wird ihm einft die Ge-