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Ausgabe:

1892

Spalte:

18-19

Autor/Hrsg.:

Göhre, Paul

Titel/Untertitel:

Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie 1892

Rezensent:

Stamm, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. r.

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das Gefühl davon, wo ich die Wurzeln meines Dafeins
habe, und den Trieb zu liebender Hingabe an die Macht,
aus der mein Leben flammt, zur Grundlage meines
Glaubens mache; der chriflliche Glaube, welcher erft in
den von Chriflo ausgehenden Heilswirkungen das ent-
fcheidende Zeugnifs davon findet, dafs unfer Leben von
einer fuchenden, fittlich erziehenden Liebe Gottes getragen
und umgeben ift, ftellt fich eben damit auf eine andere
Grundlage.

Auch die Frömmigkeit, welche auf jenem Boden
erwächft, wird fich in manchen Zügen von der chriftlichen
unterfcheiden. Mag auch entfehieden auf unfere Aufgabe,
auf unferen Arbeitsberuf, unfere Liebespflicht hingewiefen
werden, doch wird das Ringen nach Gerechtigkeit, die
Sehnfucht nach Befreiung von Schuld, die freudige Ge-
wifsheit der Vergebung, der Ernft der Heiligungsarbeit
nicht fo fehr zum Herzen jener Frömmigkeit gehören
wie das lebendige Gefühl davon, dafs ich, ein Stäubchen
in Gottes Schöpfung, in der Ewigkeit fchwebend, doch
durch Gottes Kraft mein Leben, vor allem das Leben
meiner Seele habe. ,Sei du alles, fo will ich nichts fein,
allein dir hingegeben, achtend auf deinen Wink', das ift
hier das höchfte Gebet; der Gedanke an die vergebende
erziehende Liebe des himmlifchen Vaters ift hier aufgenommen
in den höheren Glauben, dafs Gott, die Fülle
aller Wahrheit und Schönheit und Heiligkeit, in feiner
Welt und auch in mir den Trieb zum Wahren, Schönen
und Guten fchafft. Wohl kennt der Verf. das Gebet:
,Gott fei mir Sünder gnädig' und das Bedürfnifs einer
Vergebung; aber bezeichnend ift, wie fein Vergebungsglaube
fich geftaltet. ,Gott hat mich aus dem Staube
gezogen, und das Bewufstfein, dafs ich ihm gehöre, in
mir hervorgebracht'; er hat auch jetzt bei meiner Sünde
doch zugleich ein Gefühl der Betrübnifs über diefelbe
hervorgerufen und ich darf dies als eine Wirkung feines
Geiftes anfehen, als ein Pfand, dafs er meine Sehnfucht
nach Reinheit und voller Uebereinftimmung mit ihm erfüllen
wird. — Wird es gelingen, ein in feiner Schuld
zagendes Herz damit aufzurichten, dafs das Schuldgefühl,
welches es quält, Gottes Werk fei? Jedenfalls entfpricht
es dem chriftlichen Evangelium, das zagende Herz nicht
an fich felber zu verweifen und mit den Wirkungen zu
tröften, welche Gott in ihm felbft hervorgebracht hat,
fondern es zu einer das Gewiffen weckenden und trottenden
Macht zu führen, welche aufser ihm felbft liegt, zur Perfon
Jefu Chrifti. In ihm erft gewinnt der Begriff der göttlichen
Gnade feine volle evangelifche Klarheit. Sonft
fchiebt fich an diefe Stelle immer der trübere Gedanke
der unbedingten, alles bedingenden Caufalität, welche alles
Leben fchafft und mein Herz (zwar nicht zu merita befähigt
, aber) ,fo reich mit ewigen Kräften ausgeftattet
hat, dafs ich mit ftaunendem Entzücken täglich mehr in
mir finde'.

Stuttgart. Max Reifchle.

Neue Christoterpe. Ein Jahrbuch, hrsg. von Emil From-
mel, Wilhelm Baur und Rud. Kögel. Bremen, C.
E. Müller, 1892. (V, 379 S. gr. 8.) M. 4. —; geb.
M. 5. —; m. Goldfehn. M. 5. 20; Liebhaberausg. in
Halbfrzbd. M. 12. —

Faffen wir, wie billig, zunächft und hauptfächlich
das theologifch Geartete ins Auge, fo tritt uns in dem
erften Artikel ,Ueberlieferung oder Schrift' von Leopold
Witte eine allgemeinverftändliche und doch wiffenfehaft-
lichcn Gehaltes nicht entbehrende Klarlegung jener
fchwierigen Frage entgegen, welche die Confeffionen
fcheidet. Neues für viele Lefer wird namentlich der
wohlgelungene gcfchichtliche Nachweis bringen, dafs die
jetzige katholifche Lehre von der Tradition in ihrer
Schärfe und Ausdehnung doch erft eine Folge des pro-
teftantifchen Schriftprincips ift. Die neuerdings fo vielfach

fallengelaffene Gültigkeit diefes letzteren gründet der
Verfaffer auf den allerdings nur andeutungsweife behandelten
Satz: Die Bibel ftützt fich felbft, der aber nach
der hier vorliegenden Auffaffung doch nur lauten dürfte:
Das Neue Teftament ftützt fich felbft. In dem Artikel
,Die altchriftlichen Begräbnifsftätten' von Otto Pohl
finden wir eine natürlich auch auf die weiteren Lefer-
kreife berechnete, fehr lehrreiche Zufammenfaffung des
Wichtigften, das die neue Katakomben-Wiffenfchaft zu
Tage gefördert hat, eine werthvolle Gabe für die Vielen,
die auf Beherrfchung diefes fo umfänglichen Gebietes
zu verzichten und doch als Theologen fich eine der
neueren Forfchung entfprechende Vorftellung davon zu
machen haben.

Kirchengefchichtliches Material bietet der Artikel
,Von Berlin zum Viktoria-Nyanza' von Wilhelm Baur.
Er enthält eine Lebens- und Charakterfchilderung des
Uganda-Miffionars Alexander Mackay, mit welchem der
Verf. in vielfachem perfönlichen und brieflichen Verkehr
geftanden hat, für diejenigen, welchen die gleichzeitig
von der Schwerter des tapferen und begeifterten
Mannes dargebotene Biographie nicht zugänglich ift,
eine ausreichende Belehrung über feine Betheiligung an
der überaus fchwierigen Miffionsarbeit in Uganda. Wenn
nicht mit der Theologie, fo doch mit dem Amte und
mit der kirchlichen Thätigkeit, zu welcher die Theologie
ausrüften will, berühren fich die Beiträge von P'uncke
und Frommel. Letzterer erzählt aus dem Amtsleben in
der bekannten, ihres Eindruckes nie verfehlenden Art;
erfterer berichtet von dem Seemannsheim der Gräfin
Schimmelmann in Göhren auf Rügen und wirbt um
chriftliche Theilnahme für dasfelbe. Wenn wir die einzelnen
belehrenden und unterhaltenden Beiträge hier
nicht alle einzeln namhaft machen, fo foll das natürlich
keine Herab fetzung ihres Werthes bedeuten: mehrere,
wie namentlich die naturwiffenfehaftlich erbauliche Betrachtung
,In minimis Dens maximus'1 von Dr. E. Dennert,
find ganz vorzügliche Leiftungen und nicht einer ift
darunter, der dem fchnell gewonnenen Anfehen des
feit 13 Jahren wieder erftandenen Jahrbuches für die gebildete
chriftliche Familie Eintrag thun könnte.

Dresden. Dr. phil. B. Kühn.

Göhre, Cand. theol., Gen.-Secr. des evang.-soz. Kon-
greffes, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche
. Eine praktifche Studie. 1.—10. Taufend
. Leipzig, Grunow, 1891. (IX, 222 S. gr. 8.)
M. 2. —

Die Schrift hat bei ihrem Erfcheinen grofses Auf-
fehen erregt. Mit Recht. Sie brachte etwas ganz Aufser-
gewöhnliches. Ein Candidat der Theologie, zwei Jahre
lang als Hilfsarbeiter in der Redaction der ,Chriftlichen
Welt' befchäftigt, hat ein folches Intereffe für die fo-
ciale Frage gewonnen, dafs er fich entfchliefst, als Arbeiter
unter Arbeitern ,die volle Wahrheit über die Ge-
finnung der arbeitenden Cläffen, ihre materiellen Wünfche,
ihren geiftigen, fittlichen, religiöfen Charakter' kennen
zu lernen. So tritt er denn als Handarbeiter in eine
Mafchinenfabrik zu Chemnitz ein, verbringt dafelbft zwei
und einen halben Monat — von Anfang Juni bis Mitte
Auguft 1890 —, von feinen Arbeitscollegen zwar fcherz-
haft ,der Doctor' oder ,der Profeffor' genannt, aber
in Wahrheit nicht erkannt, ftudirt dann als angeblicher
Logisfucher den ,Schlafftellenjammer', wandert als
Handwcrksburfche in das Vogtland und trifft Ende Auguft
endlich glücklich wieder in der Heimath ein. Was er
in diefen drei Monaten erlebt hat, das erzählt nun Herr
Göhre in dem oben angeführten Buch.

Sicherlich find ihm die Bedenken nicht entgangen,
die einer folchen Veröffentlichung entgegenftanden, und
der Eindruck, den die Schrift auf die Arbeiterkreife