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Ausgabe:

1892 Nr. 13

Spalte:

334-338

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Otto

Titel/Untertitel:

Albrecht Ritschls Leben. 1. Bd. 1822-1864 1892

Rezensent:

Weizsäcker, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 13.

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haltlofes Schwanken übergeht. Aehnlich fleht es mit
der Verehrung des Zaren. ,Es würde eine Verkennung
und Mifsachtung des ruffifchen Volkscharakters fein, wer
es verfuchen wollte, diefe Selbftherrfchaft als einen Aus-
Aufs byzantinifchen Staatskirchenwefens kennzeichnen zu
wollen' (S. 20). Aber eben vorher gilt diefe VorAellung
als ein ,Glaubensartikel, wie jeder andere Artikel feines
heiligen Bekenntnifses', und gleich darauf lieft man: ,von
dem Augenblick an, wo der Kaifer auf dem Kreml die
Salbung empfängt, fteht er dem Volke da als oberfter
Zeuge der rechtgläubigen Kirche'. Gehören Glaubensartikel
und Salbungsmyftik zur urfprünglichen Anlage
einer Volksfeele? Gewifs kommt hier Byzantinifches
Wefen nicht allein in Betracht, aber was zu dem gemein-
famen Ergebnifs beigetragen hat, ift nicht ein geheim-
nifsvolles pfychologifches Datum, fondern der gefchicht-
liche Einflufs des orientalifchen Defpotismus, vielleicht,
wie Leroy-Beaulieu zu zeigen fucht, auch eine fpecielle
Nachwirkung der Mongolischen Gewaltherrfchaft.

Dalton's Schrift fchliefst mit einer Darftellung des
ruffifchen Sectenwefens. Er kann da der Verfuchung
nicht widerftehen, einen .fachlichen Zufammenhang' zwischen
der deutfehen Reformation am Anfang des 16. und
dem ruffifchen Schisma am Ende des 17. Jh. zu muth-
mafsen. ,Wir flehen vor einer geheimnifsvoll tief im Innern
der beiden Kirchen Ach vollziehenden Geiftesbewegung,
nicht unähnlich den unerklärten Erderfchütterungen, die
von einem verborgenen Punkte ausgehen und an räumlich
weit auseinanderliegenden Punkten gleichzeitig an die
überAäche treten'. Seibit wenn Maximus d. Gr. von
Savonarola irgendwie tiefer beeinAufst ift, fo kann das
nur im Sinne einer kräftigen Askefe gewefen fein. Aber
Luther und der Raskol oder Nikon als fachlich zufam-
mengehörige Glieder einer Geiftesbewegung: das ift
wirklich eine kühne Zumuthung an den Lefer.

Rumpenheim. S. Eck.

Zander, C, Die Spezial-Gesetze für die evangelische Kirche

im preussischen Staate, nebft fämmtlichen Ergänzungen,
Erläuterungen und Entscheidungen derhöchften Reichsund
Staatsbehörden. [Die Spezial-Gefetze für die
evangel. u. kathol. Kirche im preufs. Staate, i. Bd.]
Berlin, A. Frantz, 1892. (VIII, 257 S. gr. 8.) M. 3. —

Die kirchliche Gcfetzgebung arbeitet in Preufsen wie
anderwärts dermalen fo rafch, dafs es dem kirchenrechtlichen
Syftematiker Schwer wird, mit ihr gleichen Schritt
zu halten. So ift das im Jahre 1887 erfchienene gediegene
Buch von Kries, ,Die preufsifche Kirchengefetzgebung'
bereits durch eine Anzahl feitdem ergangener Gefetze
und Verordnungen überholt, daher der Pierausgeber des
vorliegenden Buchs es unternehmen konnte, ihm mit
einer neuen Sammlung an die Seite zu treten. Von dem
Werke von Kries unterfcheidet Ach dicfelbc hauptfächlich
dadurch, dafs fie nur die Gefetze für die evangelifche
Kirche umfafst, während ein zweiter Band, wie es fcheint,
die für die kathol. Kirche hinzubringen foll. Die Sammlung
bietet 18 Kirchen- u. Staatsgefetze u. Verordnungen,
anhebend mit der Kirchengemeinde- u. Synodalordnung
von 1873, in wörtlichem Abdruck, theilweife mit erläuternden
Anmerkungen, letztere meift aus amtlichen
Actenftücken beuchend. Neu hinzugekommen im Verhältnis
zu der Sammlung von Kries And nur die beiden
Gefetze vom 15. Juli 1889 über die Fürforge für die
Wittwen und Wailen der Geiftlichen. Ob das Material
an Erläuterungen u. Entscheidungen vollftändig ift, wie
der Titel beanfprucht, mag dahin geftellt fein, Acten-
einficht hat dem Herausgeber offenbar nicht zu Gebote
geftanden. Der Titel verheilst infofern zu viel, als die
Sammlung Ach nur auf die acht (bez. neun) älteren
Provinzen erftreckt, und auch hier fehlt die rheinifch-
wcftfälifche Kirchenordnung. Die Sammlung wird Ach j

in der Praxis als brauchbar erweifen, doch gebührt dem
Buche von Kries unftreitig der Vorzug an Vollftändig-
keit, Gründlichkeit und Sorgfalt.

Darmftadt. K. Köhler.

Ritsehl, Otto, Albrecht Ritschis Leben. 1. Bd. 1822—1864.
Freiburg i/B., J. C. B. Mohr, 1892. (VII, 456 S. gr. 8.)
M. 10. —; geb. M. 12. —

Otto Ritfehl hat die Lebensgefchichte feines Vaters
Albrecht Ritfehl mit der Bemerkung eingeleitet, dafs die
Befchreibung diefes Lebens ein Unternehmen fei, deffen
Berechtigung an Ach wohl niemand in Abrede ftellen
werde. Damit hat er ganz recht, und diefe Bemerkung
erklärt Ach eigentlich nur daraus, dafs jeder, der die
Biographie eines Zeitgenoffen unternimmt, heutzutage das
Gefühl haben mag, er habe mit einem allgemeinen Vorurteil
gegen Solche Biographien überhaupt zu kämpfen.
Diefes Vorurteil befteht allerdings, und ift auch gerechtfertigt
durch die Thatfache, dafs fo manches Leben beschrieben
wird, an welchem von aufsen und von innen
nichts zu befchreiben ift. Daran wird aber im vorliegenden
Falle niemand denken. Von einem Leben, welches
wie bei Ritfehl fo rein als Gelehrtenleben verläuft,
werden wir allerdings keinen fpannenden Verlauf von
Begebenheiten erwarten. Es kann Ach nur um die
geiftige Entwicklung in dem beftimmten Arbeitsfeld und
für dasfelbe handeln. Diefe mufs Ach freilich in irgend
einer Geftalt bei jedem Anden. Sie wird aber um fo
merkwürdiger fein, je bedeutender das Ergebnis geworden
ift. In diefem Mafse wird Ae nicht blofs ein
Gegenstand beftchaulichen Anteils fein, fondern es verbindet
Ach damit ein NachempAnden anderer, wie das
EmpAnden von etwas Selbftcrlebtcm, und zwar von den
verfchiedenften Lefern, je mehr der innere Reichthum
des gegebenen Bildes nach verfchiedenen Seiten hin
Berührungspunkte giebt. Da ift auch die Bedeutung
eines Gelehrtenlebens nicht blofs für die P'achgenoffen
vorhanden, fondern fo allgemein, als eben die geiftige
Arbeit nach Ziel und Art in der höheren Auffaffung
für alle Gebiete gemeinschaftlich ift. Pur den hervorragenden
Theologen kann man nicht den Reiz eines
Lebens in Anfpruch nehmen, welches von einer P£nt-
deckung zur anderen fortgegangen ift: wie viel giebt es
bei uns überhaupt Entdeckungen im gewöhnlichen Sinne
zu machen? Indeffen die P'ortfchritte, wo überhaupt Solche
vorhanden And, mögen, wenn auch andersartig, doch keine
geringere Leistung bedeuten. Und wir haben dabei etwas
in hervorragendem Mafse anzufprechen', nämlich die
unmittelbare Bedeutung unferes Arbeitsfeldes für das
geiftige Gefamtleben und den Culturfortfchritt derMenfch-
heit. Abwendung von der Religion bedeutet noch mehr
ein Sinken in allgemeine Roheit, als Verftnfterung der
Religion. Und wenn andere VViffenfchaften die Natur auf-
fchlicfsen und das Leben angenehm machen, was nützt es,
wo der Menfch Ach feinem eigenen Wefen und Ziel entfremdet
? Mit diefen Betrachtungen ift von felbft angedeutet
, dafs wir es in dem Manne unferer Biographie mit
einem Vorkämpfer und Fahnenträger des Lichtes zu
thun haben und ich glaube, dafs damit nicht zu viel ge-
fagt ift und dafs unfere Biographie nicht nur denjenigen,
der es fchon weifs, daran erinnert, fondern auch einen
anderen darüber unterrichten kann.

Der Verfaffer hat dann ebenfalls gleich zum Eingang
auch die Frage berührt, ob mit der Pietät des
Sohnes auch die Sachlichkeit des Gefchichtfchreibers zu
vereinigen im Stande fein möge. Ich glaube, dafs ihm
der aufmerkfame Lefer gerne bezeugt, was er erwartet,
nämlich dafs er ein Charakterbild gefchaffen habe, wie
es die Quellen gaben, bei aller kindlicher Pietät doch
der Wahrheit entfprechend. Ich für meine Perfon kann
wenigftens bezeugen, dafs mich gar nichts in diefe