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Ausgabe:

1892

Spalte:

241-243

Autor/Hrsg.:

Schmid, Ulr. Rud.

Titel/Untertitel:

Zur Religionsphilosophie. 2. neubearb. u. vervollst. Aufl 1892

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr.' 9.

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vor allem aber gegen Ritfehl und Herrmann. Mit diefen
Leuten weifs er fich nur noch durch ein äufseres, lockeres
kirchliches Band verbunden; ift doch die Lebensanfchau-
ung von Straufs von der in der Ritfchl'fchen Theologie
herrfchenden nicht wefentlich verfchieden; kann doch
diefe Theologie, weil fie nicht zum lebendigen Chriftus
hinführt, auch auf ihre Anhänger keinen wahrhaft guten
fittlichen Einflufs ausüben. An eine Polemik, der die
ganze Stellung des Gegners innerlich fo fremd und unverbindlich
geblieben ift, läfst fich keine Discuffion anknüpfen
. Ein Beifpiel dafür, das mich angeht! Ich
hatte feiner Zeit bemerkt (Ein Wort z. Controv. üb. d.
Myftik in d. Theol. 1886. S. 68), dafs neuere Theologen,
welche die Theorie von der fubftantialen Einigung mit
Gott mit der Myftik theilen, doch in der Praxis nicht
auf ein myitifches Aufgehen in Gott, fondern mit grofsem
Ernft auf eine fittliche Geftaltung der Gottesgemein-
fchaft dringen; ich hatte aber hinzugefügt, dafs fie damit
ihrer befonderen Theorie von einem nicht blofs per-
fönlich-ethifchen, fondern fubftantialen Verhältnifs zu
Gott den Lebensfaft einer praktifchen Bewährung entziehen
, was den Tod eines Theologumens bedeute. Der
Verf. urtheilt, dafs ich diefes Urtheil ,ganzunlogifch' hinzufüge
, da ich ja gerade in den vorangehenden Worten
zugeftanden habe, dafs bei jenen Theologen die prak-
tifche Bewährung, nämlich eben die fittliche Geftaltung
der Gottesgemeinfchaft, nicht fehle, und er erklärt dann
meine ganze Anfchauung aus pelagianifchem Standpunkt.
Der Verf. hätte mir einwenden können, dafs ich mit Unrecht
verlange, das Theologumen von einer fubftantialen
Einigung mit Gott müffe, wenn es lebenskräftig fein folle,
auch in dem aufgeftellten Lebensideal zur Geltung
kommen; oder er hätte den Nachweis verfuchen können,
dafs fich in der Auffaffung jener Theologen von der Geftaltung
der Gottesgemeinfchaft doch jenes Theologumen
wiederfpiegele; aber fein Vorwurf, dafs ich unlogifch
verfahre, beweift nur, dafs er meine Argumentation
nicht verbanden hat, und fein Vorwurf des Pelagianismus
läfst mich ruhig, weil ich nicht die Nothwendigkeit und
Wirklichkeit einer uns neu fchaffenden göttlichen Geiftes-
mittheilung leugne, fondern nur die Erklärung derfelben
aus dem Eintreten einer überethifchen fubftantialen
Einigung mit Gott nicht für einen chriftlichen Glaubens-
fatz will gelten laffen. — Noch viel weniger geht die
Polemik gegen Ritfehl und Herrmann auf die Gegner
ein; fie ift deshalb auch werthlos, oder hat vielmehr nur
den Werth, dem Gegner ein Regifter von Ketzereien,
die er begangen, an den Hals zu hängen. Es ift fchade,
dafs der Verf. durch diefe Polemik feine Darftellung des
chriftlichen Lehrfyftems entftellt hat; denn diefe felbft
erweckt als ein verfpäteter Nachtrieb des biblifchen Realismus
doch ein gewiffes Intereffe.

Stuttgart. Max Reifchle.

Schmie!, em. P. Ulr. Rud., Zur Religionsphilosophie. 2. neu

bearb. und vervollkommnete Aufl. Jena, Pohle, 1891.

(X, 172 S. gr. 8.) M. 2. 40.
,Andeutungen und Anregungen', damit ift der Inhalt
vorliegender Schrift fehr treffend bezeichnet. Sie bietet
nicht weniger als eine Grundlegung der gefammten Philo-
fophie, fie begründet und fchildert die chriftliche Welt-
anfehauung in ihren Hauptpunkten, fie fkizzirt die chriftliche
Ethik, enthüllt das Wefen und die Bedeutung der
Poefie, kritifirt die Hegel'fche Methode und den Häckel'-
fchen Materialismus, fetzt fich mit Peffimismus, Pantheismus
, Spiritualismus auseinander, bekämpft Lipfius und
Pfleiderer; ein Anhang citirt Gedichte zur Belebung
mancher ausgefprochener Gedanken, und daran fchliefsen
fich Auszüge aus Beurtheilungen früherer Schriften des
Verf.'s, fowie eine Rechtfertigung der Puttkamer'fchen
Orthographie, Das alles auf 172 Seiten. Der Ueberblick

über diefe Stofffülle wird durch die Darftellungsart und
Anordnung der Schrift nicht gerade erleichtert. Aber
wer fich hineinlieft, findet nicht wenige anregende Gedanken
und fühlt fich von dem edlen Geift, der dem
Schriftchen eine einheitliche Tendenz aufprägt, angezogen.
Der greife Verfaffer, der in den Jahren 1827—32 der
Burfchenfchaft in Jena angehörte, hat einft für Vernunft-
religi on und Naturtugend gefchwärmt; nachdem er fich
zum chriftlichen Glauben hindurchgerungen, hat er mit
Hilfe von Kant und J. F. Fries feinen feften Standpunkt
gewonnen und fühlt fich nun gedrungen, auch Anderen
Handreichung zu thun. Der Gedanke, welcher in feiner
Schrift am meiften zur Klarheit herausgearbeitet ift, ift
der von der vereinigenden religiöfen Weltanfchauung.
Drei Hauptanfichten über Welt und Leben laffen fich
unterfcheiden: die natürliche, die von dem Eindruck der
Naturnothwendigkeit in der raum-zeitlichenWelt beherrfcht
ift, die geiftige oder fittliche, welche unter dem Zeichen
der Idee der Freiheit fteht, und die gläubige, die fich
über Raum und Zeit erhebt und auf dem Glauben an
den allmächtigen Wundergott beruht. Diefe drei Welt-
anfichten können und follen in der wahren religiöfen
Weltanfchauung vereinigt werden: fie erkennt in den
Naturgefetzen den Willen des allmächtigen Gottes, der
aus Liebe zu den Menfchen, um ihrer Arbeit die nöthige
Grundlage zu geben, die naturgefetzliche Nothwendigkeit
in ihren beftimmten Grenzen unverbrüchlich geordnet hat;
fie erkennt in der Freiheit des Menfchen ein Gnaden-
gefchenk des Gottes, der als ein guter und weifer Vater
feinen Kindern die nöthige Freiheit zu einer fittlichen Entwicklung
läfst; indem fie fo das Gefühl der Freiheit und
Freude in Gott in uns, die wir zur Gottähnlichkeit berufen
find, erweckt, überbietet fie zugleich das Gefühl
unendlicher Schwäche gegenüber dem allmächtigen Gott.
Wo dagegen eine jener drei Weltanfichten aus diefer
Vereinigung innerhalb der religiöfen Weltanfchauung los-
geriffen wird, verliert fie ihr Recht: da entlieht aus der
natürlichen Weltauffaffung die materialiftifche, aus der
geiftigen die Selbftvergötterung des Menfchen, und die
gläubige, losgeriffen von den anderen, macht den Menfchen
zu einem Nichts gegenüber von Gott. — Durch
diePhilofophie wird die vereinigende religiöfe Weltanfchauung
vorbereitet und geftärkt. Darum giebt der erfte Theil

J der Schrift eine philofophifche Grundlegung. Die Grund-
Vermögen, -Anfchauungen und -Begriffe des menfeh-

I liehen Geiftes werden entwickelt, dann die Ideen der
Welt, des Geiftes und Gottes. Die Idee Gottes als des
einzig wahrhaft feienden, unbefchränkten, abfoluten,
ewigen Wefens taucht uns überall auf, wo wir vor einer
abfoluten Unerklärbarkeit flehen; fie ift felbft ,etwas im
menfehlichen Geifte völlig Selbftändiges, Unerklärliches,
Wunderbares und nur durch die Grundbegriffe mit dem
Geift zufammenhängend'. Durch unmittelbare Ueber-
zeugung, nicht durch mittelbares Erkennen oder durch
Beweife ift uns die Wahrheit der Gottesidee gewifs. Ver-
mittelft der Idee des Geiftes läfst fich aber zugleich der

j Gedanke einer Verwandtfchaft des Menfchen mit Gott
und das Streben nach Gottähnlichkeit rechtfertigen; darin
hat die religiöfe Weltanfchauung ihren Anknüpfungspunkt
, daraus fliefst auch das Bedürfnifs eines Heilandes.
Zwifchen der religiöfen Weltanfchauung und zwifchen
der Vernunftidee von Gott ergiebt fich jedoch der Unter-
fchied, dafs jene ihrem Gott Bewufstfein und verfchiedene
Geiftesthätigkeiten zufchreiben mufs, diefe aber jede
menfehliche Vorftellung ablehnt. Der Verf. löft fich
diefen Conflict durch die Auskunft, dafs die religiöfe

! Anfchauung der Ausdruck des ganzen menfehlichen

1 Wefens, alfo befonders auch des Gefühls und Willens,
fei, während die Idee von Gott nur aus der Vernunft
des Menfchen erwachfe. Für ganz genügend kann ich

1 diefe Löfung nicht halten; fie läfst doch das Unbehagen
darüber zurück, dafs der religiöfe Gottesglaube mit der
Vernunftidee von dem rein geiftigen Gott ftreitet und