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Ausgabe:

1892 Nr. 9

Spalte:

227-229

Autor/Hrsg.:

Wiegand, Friedrich

Titel/Untertitel:

De ecclesiae notione quid Wiclif docuerit 1892

Rezensent:

Beß, Bernhard

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227 Theologifche Literaturzeitung. 1S92. Nr. 9. 228

es aber überall. Wo unfer Kritiker nicht .Stricke aus
Sand dreht', um mit Irenaus 7.11 fprechen, da macht er
Altbekanntes geltend, wie die Schwierigkeit, den Brief
wirklich als Brief zu begreifen, das Verhältnifs des
Heidenapoftels zu den römifchen Chriften feftzuftellen,
ferner ,/iet eindeloos gehaspei over het karakter der
Christengemeente te Rome' (S. 231) und Aehnliches. Sein
Eigenthum dagegen bleiben Behauptungen, wie die, der
Verfaffer des Briefes denke und rede wie ein Grieche
(S. 186 f.), 9, 1—3 beabsichtige nur die Erinnerung an den
jüdifchen Reifeprediger zu wecken (S. 173), Niemand habe
II, 22 vordem Jahre 70 zu fchreiben vermocht (S. 172) u. f.w.
Das Grundübel einer folchen Kritik liegt darin, dafs fie
über der ,Verwandtfchaft mit der Gnofis' (S. 154 f.) die
Verwandtfchaft mit der Synagoge nicht bemerkt, fonft
würde fie es mit der ,janusköpfigen Theologie' (S. 201)
nicht fo leicht nehmen.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Wiegan d, Dr.Friedr., De ecclesiae notione quidWiclif docuerit.

üisputatio theologica. Leipzig, Akadem. Buchh.
[W. Faber], 1891. (III, 110 S. gr. 8.) M. 5. —

Es liefs fich erwarten, dafs die Publicationen der
VIiclif-Society zu weiteren wiffenfchaftlichen Arbeiten
über diefen bedeutenden Reformer anregen würden. Bis
jetzt befchränkt fich aber m. W. diefe Anregung in Deutfch-
land auf einen Auffatz von Erich Förfter in der Zeitfchrift
für Kirchengefchichte Bd. XII über Wiclif als Bibelüber-
fetzer und auf die vorliegende lateinifche Habilitations-
fchrift. — W. geht von Auguftin und Thomas aus. Beider
Kirchenbegriff ift kein einheitlicher. Bei Auguftin ift
zu unterfcheiden Speeles ecclesiae sive ecclesia commixta,
congregatio sanetorum, numerus praedestinatorum; bei
Thomas in umgekehrter Reihenfolge, aber im Grunde
genommen identifch corpus mysticum Christi, communio
sanetorum, communio sacramentorum. — Nach einer kurzen
Inhaltsüberficht über den tractatus de ecclesia, welcher
hauptfächlich der folgenden Unterfuchung zu Grunde
liegt, folgt im 2. Capitel eine Darfteilung von Wiclifs
Praedeftinationslehre und feinem aus ihr entwickelten
Kirchenbegriff. W. conftatirt, dafs Wiclif über Auguftin
noch hinausgeht in der Behauptung einer doppelten
Praedeftination, und dafs es ihm deshalb nicht, wie er
möchte, gelingt, das liberum arbitrium aufrechtzuerhalten.
Damit hängt es zufammen, dafs Wiclif auch viel aus-
fchliefslicher als Auguftin die Kirche mit dem numerus
praedestinatorum identificirt. Realität erhält diefe Kirche
alfo erft in der Zukunft. Gleichwohl (teht fie mit ihrem
Haupte Chriftus in beftändiger Wechfelwirkung; und vermöge
ihres Charakters als sponsa et corpus Christi kommen
ihr fchon jetzt die Prädicate yatholica, una, saneta, aposto-
lica' zu. Unter diefen Umftänden ift die Zugehörigkeit
des Einzelnen zur Kirche ungewifs; die Kirche alfo Gegen-
ftand des Glaubens. — Dem gegenwärtigen Bedürfnifs
kann diefer Kirchenbegriff aber nicht genügen; er gilt
nur innerhalb einer auf die Idee gerichteten Speculation.
Für die Gegenwart wird er umgebogen und z. Th. aufser
Geltung gefetzt durch den Hinweis auf die Sacramente
und das Gefetz Chrilti. — Die Lehre von den Sacramenten,

über welche das 3. Cap. handelt, ift in keine klare Be- | eine andere Methode der dogmenhiftorifchen Forfchung
ziehung zu dem Gedanken abfoluter Praedeftination ge- [ zur Anerkennung gebracht worden: es gilt, unter weitefter
fetzt. Soviel läfst fich aber fagen, dafs innerhalb der : Berückfichtigung aller gefchichtlichen Umftände das prak-
empirifchen römifchen Kirche die gratia praedestinationis j tifche, fei es nun mehr religiöfe, fei es mehr politifche

immerhin noch grofsen Bedeutung, welche fo die Sacramente
nach Wiclif für das Heil des Einzelnen befitzen ,
folgert W. einen zweiten Kirchenbegriff (== congregatio
fidelium i. e. baptizatorum). — Aber hierbei hat es fein
Bewenden noch nicht. Das Intereffe an dem liberum
arbitrium (!) führt Wiclif zu einer dritten Definition der
Kirche === congregatio eorum, qui legi Dei obediunt. Das
Gefetz Gottes, beftehend in humilitas, Caritas, paupertas,
und die daraus fliefsende Ordnung der Gefellfchaft (Drei-
ftändelehre) ift der Gegenftand des 4. Capitels. Es er-
giebt fich, dafs Wiclif fowohl an einem principiellen
Unterfchied zwifchen Clerus und Laien, als an der mittelalterlichen
Ueberordnung der Kirche über den Staat
fefthält. Da die Verwirklichung des franziskanifchen
Lebensideals, die Nachfolge des armen Lebens Jefu, für
die Kirche conftituirende Bedeutung hat, und da diefelbe
eigentlich nur dem Clerus möglich ift, fo ift diefer princi-
pale membrum ecclesiae. — Im 5. und letzten Capitel legt
W. das Reformprogramm Wiclifs dar, fo wie es dem
Impuls der religiöfen Gedanken, der Praedeftination und
des Gefetzes Chrifti, entfprechend fich geftaltet hat.

In Anbetracht deffen, dafs faft zwei Drittel diefer
Schrift in Auszügen aus Wiclifs tractatus de ecclesia,
trialogus und Sermonen beftehen, kann diefem Verfuch,
Wiclifs Kirchenbegriff im Zufammenhang feines ganzen
theologifchen Gedankenkreifes darzulegen, ein Werth
nicht abgefprochen werden. Allein nach der epochemachenden
Unterfuchung von Johannes Gottfchick über
Hus', Luthers und Zwingli's Lehre von der Kirche (Ztfchr.
f. KG. VIII), welche Adolf Harnack mit Recht auch auf
Wiclif bezieht, hätte man von einem folchen Verfuch
mehr erwarten können, als eine ziemlich oberflächliche
Aneinanderreihung der verfchiedenen Themata. Und
dazu kommt, dafs diefe Statiftik vielleicht noch nicht einmal
ein richtiges Bild darbietet, denn indem fie einem
felbft erdachten Schema folgt, ignorirt fie völlig die
Thatfache, dafs Wiclif im Kampf feine Gedanken ausgebildet
und fortgebildet hat. Auf ein hiftorifches Ver-
ftändnifs der Lehre diefes eminent gefchichtlichen Mannes
fcheint der Verfaffer verzichten zu wollen. Er muthet
uns den Glauben zu, dafs diefer praktifche Reformer
im Handumdrehen drei verfchiedene Kirchenbegriffe ausgebildet
habe, die nur in lofer Beziehung zu einander
liehen. Seine Praedeftinationslehre erfcheint uns hier
als eine theologifche Liebhaberei, deren praktifche Bedeutung
nur im letzten Capitel leife geftreift wird. Und
das alles, nachdem uns durch Johannes Gottfchick und
Adolf Harnack ein hiftorifches Verftändnifs gerade diefes
Punktes erfchloffen ift.—Es ift gewifs verfehlt, bei dogmenhiftorifchen
Unterfuchungen auf ein Syftem auszugehen.
Der Begriff des Syftems felbft hat fich mit den Zeiten
verändert; was uns unfyftematifch erfcheint, empfanden
frühere Zeiten anders. Ebenfo verfehlt ift es aber, den
dogmenhiftorifchen Stoff auf einer Fläche in verfchiedene
felbftverfertigte Gefächer einzuordnen. Sowohl bei
Auguftin und Thomas, als bei Wiclif dürfen wir uns
nicht damit begnügen, einen dreifachen Kirchenbegriff
zu conftatiren. Diefe Methode erweckt den Schein der
Unbefangenheit; thatfächlich aber verbindet fie eigene
Reflexion mit Gedanken der Vergangenheit zu einem
undurchfichtigen Conglomerat. Durch Adolf Harnack ift

durch die in der Taufe mitgetheilte gratia infusa ihre
Verwirklichung findet. Aber nur electi erfahren diefe
Wirkung. So kann auch nur ein electus wahrer Priefter
fein. Trotzdem ift die Wirkung der Sacramente nicht

Intereffe aufzufinden, das in jedem einigermafsen bedeutenden
Manne vorausgefezt werden kann, und von hier
aus den theologifchen Stoff zu gruppiren. Das giebt Per-
fpective, lebendige Anfchauung. Erft wenn wir uns fo in

durchaus von der Befchaffenheit des Austheilenden ab- I einen Mann hineingelebt und ihn verftanden haben, ift es
hängig. Auch die Taufe eines Häretikers oder eines 1 erlaubt, mit unferer Reflexion ihn zu kritifiren und gegen
Ungläubigen ift gültig, wenn fie ,eX animo1 gefchehen und , andere abzuwägen. Nichts erfcheint mir wichtiger, als
nicht ,consultol unwirkfam gemacht worden ift. Aus der I diefe beiden Betrachtungsweifen fcharf auseinander zu