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Ausgabe:

1892

Spalte:

201-204

Autor/Hrsg.:

Goldziher, Ignaz

Titel/Untertitel:

Muhhamedanische Studien. 1. u. 2. Thl 1892

Rezensent:

Wellhausen, Julius

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. zu Berlin, und D. E. Schüret*, Prof. zu Kiel.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

N°- 8. 16. April 1892. 17. Jahrgang.

Goldziher, Muhammedanifche Studien. I. u.
2. Tbl. (Wellhaufen).

Finke, Ungedruckte Dominikanerbriefe des
13. Jahrhunderts (Befs).

Kneer, Kardinal Zabarella (Befs).

Bahrdt, Gefchichte der Reformation der Stadt

Hannover (Kawerau).
Költzfch, Melanchthons philofophifche Ethik

(Nitzfeh).

Troeltfch, Vernunft und Offenbarung bei Johann
Gerhard und Melanchthon (Kaftan).

Monod, Le probleme de l'autoritd (Lobftein).
Doumergue, L'autoritd en matiere de foi et

la nouvelle dcole (Oerf.).
Achelis, Chriftusreden (Diegel).
Hefs, Chriftliche Glaubens- und Sittenlehre

(Fay).

Goldziher, Ign., Muhammedanische Studien. 1. u. 2. Thl.

Halle a/S., Niemeyer, 1889 u. 1890. (XII, 280 u. X,

420 S. gr. 8.) M. 20. —
Goldziher ift neben Snouck Hurgronje der einzige
wirkliche Kenner des Hadith, der iflamifchen Traditions-
wiffenfehaft. Aber nicht blofs auf diefem Gebiete, fondern
auf allen Gebieten der arabifchen Literatur befitzt
er eine ganz aufsergewöhnliche Belefenheit, die fich fo-
wohl über gedruckte wie über ungedruckte Bücher er-
ftreckt; unter den letzteren haben ihm für die vorliegende
Arbeit befonders das Kitäb al Bajän und das Kitäb al
Haivän des Gäkäz reiche Ausbeute geliefert. Sein In-
tereffe ift weniger auf die grofsen gefchichtlichen Ereig-
niffe gerichtet, als auf die geiftige Phyfiognomie der iflamifchen
Welt und auf das innere Spiel der in ihr wirkenden
und fich bekämpfenden Kräfte und Intereffen.
Eine Fülle von Beobachtungen wird ausgefchüttet, eine
noch gröfsere Fülle lagert im Pult des Verfaffers. Es

Iflam fchlechterdings als Pflicht, dem arabifchen Heidenthum
fchlechterdings als ehrlofe Schwäche gegolten
habe: das Wahre ift, dafs fich der Freundeskreis, innerhalb
deffen der edle Mann Verzeihung gewähren mufste,
im Iflam vom Stamme auf die Gemeinde erweiterte.
Desgleichen hat es nach S. 40 ff. den Anfchein, als fei das
Stammwefen der alten Araber blofs ein Princip der
Selbftzerfleifchung gewefen, und als habe fich der Islam
lediglich feindlich dazu geftellt. Die genealogifche Gliederung
war aber zunächft und vor allem die einzige
Form derOrganifation, welche alle Araber umfafste und
in eine abgeftufte Beziehung zu einander fetzt; der Iflam
betrachtete fie als etwas felbftverftändliches und gottgegebenes
und baute feinen Staat in ihren Cadres auf, in
welche er fogar auch die unterworfenen Völker allmählich
aufnahm. An Aufhebung der Familien, Gefchlechter
und Stämme, an eine künftliche Organifation der Gemeinde
, hat der Iflam nie gedacht, wenngleich er es
confequenterweife vielleicht hätte thun müffen.

ift fehr fchwierig, einen fo bunten und zarten Stoff zu I Das andere Thema, welches in Band 1 erörtert wird.

fyftematifcher Darftellung zu bringen ; es läfst fich manch
mal ein gelinder Zwang kaum vermeiden, um die Einzelheiten
in das für fie beftimmte Fach zu ftopfen. Wer
wie der Referent felbft einmal an einer ähnlichen Aufgabe
fich verfucht hat und daran gefcheitert ift, wird
geneigt fein Nachficht zu üben; es ift doch immer beffer
ein geformtes Ganzes zu geben, als fich mit lexikalifcher
Anordnung zu begnügen.

Band i handelt in der erften Hälfte über das Ver-
hältnifs des Iflam zum altarabifchen Heidenthum. Die
Ueberfchrift des erften Capitels, Din und Muruwwa,
ift nicht eben glücklich; denn das Wort Muruwwa, welches
in der alten epifchen Literatur kaum vorkommt,
bedeutet in der fpäteren Zeit, wo es zum ternünus tech-
niats geworden ift, nicht die Männlichkeit, fondern das
Benehmen des Gentleman und felbft des Elegant. Sachlich
ift zwar der Gegenfatz nicht unbegründet, aber wenn
S. 40 zur Muruwwa ganz befonders die Heilighaltung der
internationalen Moral der Bundestreue, der Hofpitalität und
Humanität gehört, fo ift Muruwwa gleichbedeutend mit
dem Din al Arab bei Doughty, wozu der Iflam keineswegs
in Gegenfatz trat, fondern welches er fich nutzbar
machte, urnYich damit zu ergänzen. Der Iflam ift eine
complexe und widerfpruchsvolle Erfcheinung, aufnahmefähig
wie alles Lebendige. Goldziher identificirt ihn viel
zu fehr mit dem Pietismus. ,Der Ruf des mekkanifchen
Träumers, dem einige Betbrüder in Medina folgten', hätte
allerdings wirkungslos in der Wüfte verhallen müffen;
der Iflam aber hat die Welt erobert, nachdem er das
Gemeinwefen von Medina gegründet und Arabien fich
affimilirt hatte. Ueberhaupt betont Goldziher zu fehr
das Gegenfätzliche, zu wenig das Gemeinfame zwifchen
Iflam und Arabismus. Nach feiner Darftellung S. 18
gewinnt man den Eindruck, als ob das Verzeihen dem

ift das Verhältnifs der Araber zu den ,Weifchen' fAgam),
d. i. vorzugsweife zu den Iraniern. Urfprünglich gehörte
das if lamifche Reich den Arabern; die Weifchen blieben
Unterthanen und Schutzgenoffen, auch nachdem fie den
Iflam angenommen hatten. So hatte fich die Sache
gleich anfangs naturgemäfs geftaltet, und der Chalif
Omar wachte darüber, dafs die Araber ihre ariftokratifche
Sonderftellung behielten. Der omajjidifche Staat war ein
Staat der Araber und nicht ein Staat der Muflimen.
Aber die politifche Unterordnung der Weifchen war doch
ein Widerfpruch gegen ihre religiöfe Gleichftellung,
der Iflam felber gab ihnen das Schwert gegen die Fremdherrfchaft
in die Hand. Die Chorafanier ftürzten das
Chalifat der Omajjiden und gründeten das Chalifat der
Abbafiden, d. h. fie brachen die Herrfchaft der Araber
und fetzten ihre eigene Herrfchaft an die Stelle. Die
abbafidifche Daula (Dynaftie) heifst und war die Daula
der Chorafanier, die Schia (Partei) der Abbafiden heifst
und war die Schia der Chorafanier. Bagdad war gedacht
als ein chorafanifches Refidenzlager, die vornehme
Einwohnerfchaft, die Manffur um feine Burg anfiedelte,
die Garnifon, die Offiziere — alles war chorafanifch. Zu
diefer gewaltigen politifchen Bewegung, die den arabifchen
Staat über den Haufen warf, bildete nun eine entfpre-
chende literarifche das Vorfpiel und das Nachfpiel, und
auf diefe richtet hier Goldziher unfere Aufmerkfamkeit.
Aus dem reichen Schatze feines Wiffens giebt er uns eine
Fülle lehrreicher Mittheilungen. Von dem grofsen hifto-
rifchen Vorgang hat er aber keine ganz klare Vorftellung.
So heifst es S. 109, aus den niedrigften Lebensverhält-
niffen fei es den findigen Perfern durch gefchickte Benutzung
der Umftände gelungen, fich im abbafidifchen
Reich in die höchften Stellungen emporzuarbeiten.
Aehnliche Aeufferungen find nicht feiten. Das Richtige

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