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Ausgabe:

1892

Spalte:

192-196

Autor/Hrsg.:

Baumgarten , Otto (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Evangelisch-soziale Zeitfragen. 1. Reihe, 10 Hefte 1892

Rezensent:

Stamm, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 7.

192

Urtheil entgegenbringen: wenn wir Evangelifchen uns
auch nicht an die thomiftifche Philofophie wollen binden
laffen, fo fleht es uns doch wohl an, die hiflorifche Einficht
zu gewinnen, welcher Reichthum in derfelben doch
fchon enthalten ift und wie viele Probleme, dank der
Vorarbeit der antiken Philofophie, doch fchon in derfelben
zur Sprache kommen. Das vorliegende Werk
kann uns zugleich aber auch zeigen, wie fich in diefes
ariftotelifch-thomiftifche Gedankengebäude doch nicht
ganz wenige Baufteine aus der neueren Philofophie einfügen
laffen. Indem der Verf. darauf ausgeht, vollbringt
er zwar ein Flickwerk, aber er arbeitet doch gegenüber
einem plumpen Traditionalismus dafür, dafs der katho-
lifchen Theologie die Fühlung mit der modernen Wiffen-
fchaftsarbeit nicht verloren gehe und dafs jener compli-
cirteBund zwifchen einem autoritativen Dogma und einem
rationaliftifchen Erkenntnifsfyftem nicht gelöft werde,
welcher ftets auch einen Keim zur rationaliftifchen Auf-
löfung des Dogma in fich birgt.

Stuttgart. Max Reifchle.

Robertson, Fred. William, Religiöse Reden. Neue Folge.
In deutfcher Ueberfetzung, mit einem Vorwort von
D. Adolf Harnack. Leipzig, Hinrichs, 1891. (IV,
138 S. gr. 8.) M. 2.— ; geb. M. 2.80.

Von Robertfon's Predigten liegt eine zweite Sammlung
in deutfcher Ueberfetzung vor. Auch diefer ,Neuen
Folge' hat D. Ad. Harnack ein Begleitwort vorausge-
fchickt, in dem er Robertfon als einen echten Prediger
des Evangeliums, gerade für die Gegenwart, rühmt. Ausgewählt
find diesmal 14 Predigten, von denen zwei, die
über Phil. 3, 13 u. 14 und die über 2 Kor. 7,9 u. 10, fchon
in der im Verlage des Rauhen Haufes (1867) erfchienenen
kleinen Sammlung eine Ueberfetzung gefunden haben.
Die übrigen behandeln die Texte: Matth. 9, 23—25;
Luc. 19, 8; 19, 10; Joh. 8, 32; n,49—S3; 18, 37; Röm. 1,
14—17 (2); 1 Kor. 2, 9 u. 10; 2 Kor. 5, 14 u. 15;
1 Petri 3, 21 und Pf. 51, 3—6.

Das Erfcheinen diefer zweiten Sammlung, und der
Umftand, dafs die erfte fchon in zweiter Auflage vorliegt,
beweift, dafs die Robertfon'fchen Predigten fich auch in
Deutfchland eine immer gröfsere Gemeinde erwerben.
Ein fehr erfreuliches Zeichen der Zeit. Denn wenn diefe
ernften und tiefen Worte fo viele empfängliche Hörer
finden, fo erkennt man daraus, dafs die chriftliche Wahrheit
auch heute noch Marken Widerhall in den Herzen
findet, wenn fie nur als das, was fie ift, als Geift und
Leben, verkündigt wird.

Der Ueberfetzung kann ich auch diesmal kein Lob
fpenden. Sie lieft lieh im Ganzen leicht und flüffig.
Sieht man fie aber einigermafsen genauer an, fo ftöfst
man auf zahlreiche Flüchtigkeiten und Ungenauigkeiten
verfchiedener Art; felbft entfehiedene Sprachfehler finden
fich in ziemlicher Menge, von der prinziplosen und vielfach
unrichtigen Interpunktion ganz abgesehen. Und
vergleicht man fie mit dem Original, fo entdeckt man,
dafs es auch an mifsverftandenen und geradezu falfch
überfetzten Stellen nicht fehlt. Ich kann diefes Urtheil
hier nicht im Einzelnen begründen; dazu fehlt
mir der Raum. Aber einige Proben mufs ich doch geben.
S. 17 lieft man: ,Wahrheit war ihm das Leben und das
Sterben. Er fetzte fein Leben an die Worte, die er
fprach, denn redete er wahr. Dagegen war das Leben
aller Menfchen ein künftliches und unwahres, und das
Wehe, welches er ausrief, traf alles, was pharifäifch war,
und er wufste, dafs er feine Worte mit dem Kreuz bezahlen
mufste'. Das foll die Ueberfetzung folgender
Sätze des Originals fein: fTruth with Hirn was a matter
of life and death. He perilled His life lipon the words
He said. If He were true, the life of men was a painted
life, and the woes he denonnced unflinchingly would

fall upon the Pharisees. Bat if they were true, or even
strong, His portion in this life was the Cross'. Der Satz:
Zivilisation does free — intellect equalizes' wird S. 2 überfetzt
: »Bildung befreit doch und fchafft dem Geilte
Gleichheit'. Veracity wird S. 8 mit Wahrfcheinlichkeit
überfetzt, und es entfteht nun folgende geiftreiche Erklärung
: ,Die Wahrfcheinlickheit ift die Brücke zwifchen
einer Behauptung und unferer Annahme derfelben, die
Wahrheit ift die Verbindung einer Behauptung mit der
Thatfache'. Robertfon fpricht an der betreffenden Stelle
von dem Unterfchied zwifchen fubjectiver Wahrhaftigkeit
und objectiver Wahrheit und fagt darüber klar und
treffend: , Veracity is the correspondence between a propo-
sition and a man's belief. Truth is the correspondence of
the proposition with fact1. Das letztere Beifpiel ift zugleich
ein Zeichen dafür, wie flüchtig die Ueberfetzerin
gearbeitet, da fie faft denfelben Satz in der folgenden
Predigt ganz richtig überfetzt. In der Predigt über
1 Kor. 2, 9—10 will Robertfon zeigen, was es heifst:
Gott lieben und fagt nun unter anderem: Gott ift die
Wahrheit, alfo lieben wir Gott, wenn wir wahr find und
jede Art von Falfchheit haffen. Die Ueberfetzerin fcheint
keine Idee von diefem Gedankenzufammenhang zu haben;
denn fie fchreibt: ,Gott ift die Wahrheit; daher heifst
wahr fein, die Unwahrheit in jeder Form haffen, ein
wahres, muthiges und ganzes Leben führen' (S. 25).
Ueberhaupt hat die Ueberfetzerin keinen Sinn für den Aufbau
der Gedanken und die klare Gliederung derfelben bei
Robertfon; das zeigt ihre vom Original ftark abweichende,
fehr häufig ganz verkehrte und die Einficht in den Zu-
fammenhang wefentlich erfchwerende Abfatzteilung, auf
die ich fchon bei der Befprechung der erften Sammlung
hingewiesen habe. Doch ich breche ab. Ich habe auch
noch auszufetzen, dafs die Ueberfetzerin die kräftige Ausdrucksweife
Robertfon's oft abfehwächt und fich unnöthige
Abänderungen und Auslaffungen erlaubt. Aber ich will das
nicht weiter ausführen. Jedenfalls glaube ich gezeigt zu
haben, dafs bei einer etwaigen zweiten Auflage der vorliegenden
Sammlung die Ueberfetzung einer fehr gründlichen
Revifion bedarf. Robertfon verdient es, dendeutfehen
Lefern in einem befferen Gewände geboten zu werden,
als es hier gefchehen ift.

Augsburg. J. Hans.

Evangelisch-soziale Zeitfragen. Hrsg. mit Unterftützung des
Evangelifch-fozialen Kongreffes v. Prof. Otto Baumgarten
. 1. Reihe. io.Hefte. Leipzig, Grunow, 1891.
(gr. 8.) ä M. —. 50.

Inhalt: i. Mehr Herz fürs Volk! Von Diak. Lic. P. Drews.
(56 S.) '— 2. Unfre gewerbliche Jugend und unfre Pflichten gegen
fie von Reg.-R. G. Evert. (40 S.) — 3. Der Seelforger unfrer
Tage von Prof. Lic. O. Baumgarten. (52 S.) — 4. Chriftenthum
und Arbeiterbewegung. Ein Zwiegefpräch, mitgeteilt von Privatdoz.
Dr. W. Lötz. (44 S.) — 5. Sozialdemokratie und Sozialmonarchie
von A. Stöcker, (32 S.) — 6. Reformation und foziale Frage. Vortrag
von Dr. H. Frhr. v. Soden. (40 S.) — 7- Die Aufgaben der
Kirche gegenüber dem Arbeiterftande in Stadt und Land von Prof.
Dir. Dr. Th. Frhr. v. d. Goltz. (40 S.) — 8. 9. Die Ziele der
deutfehen Sozialdemokratie von Privatdoz. Dr. K. Oldenberg. (104 S.)
— 10. Die foziale Not der ländlichen Arbeiter und ihre Abhilfe von
Paflor W. QuiStorp. (46 S.)

Es find fehr verfchieden geartete und gerichtete
Geifter, die fich an der Bearbeitung der evangelifch-foci-
alen Zeitfragen betheiligen. Allen gemeinfam ift die Tendenz
, die Kreife der Gebildeten in der evangelifchen
Kirche für die focialen Aufgaben der Zeit zu erwärmen.
Der Inhalt der einzelnen Hefte kann hier natürlich nur
ganz kurz fkizzirt werden.

Erftes Heft. .Vertraut dem Volk, das Volk liebt
feine Idealiften'. Mit diefem Ausfpruch eines grofsen
Volksfreundes hat es der Verfaffer, wie er am Schluffe