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Ausgabe:

1892

Spalte:

187-191

Autor/Hrsg.:

Schmid, Al

Titel/Untertitel:

Erkenntnislehre. 2 Bde 1892

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1892. Nr. 7.

fähigkeit wirkt; herzhaftes Vertrauen zu derfelben und
demüthige Anerkennung der Abhängigkeit von ihr ift
erfahrungsgemäfs eine nothwendige Bedingung, um jenes
unfer menschliches Ziel zu erreichen; das macht auch
das Wefen der Religion aus und alles andere in ihr,
z. B. die Vorftellung Gottes als perfönlichen Wefens, ift
nur ein Mittel, um jene Stimmungen zu erhalten und zu
verftärken. Der Verf. hätte beffer gethan, dies als fein
Ideal der Religion einzuführen, als diefe Erwägungen
und Stimmungen feinem betenden und dankenden Neo-
phyten der Religion unterzufchieben. —

Wird nun aber das Ideal der Religion, welches den
Verf. begeiftert, ftark genug fein, der moraliftifchen
Strömung einen Damm entgegenzusetzen? Man möchte
es bezweifeln, wenn man lieft, dafs diefem Ideal neben
einer Religion, welche im Glauben an einen perfönlichen
Gott lebt, auch eine Religion entfprechen foll, welche
fich bethätigt in der ,andächtigen Betrachtung des Weltganzen
, als des unendlichen und unausdenkbaren Caufal-
zufammenhanges, der uns alle mit unferem Wünfchen
und Verlangen in fich fchliefst, und der auch die gröfsten
Thaten der Individuen aus fich emporwirft, wie der Ocean
die leichten Wogen' (S. 71). Wollte der Verf., feiner
eigenen Forderung gemäfs, vor allem anderen den einen
Glaubensfatz zur Geltung bringen, dafs die aufsermenfch-
liche Macht dem fittlichen Streben des Menfchen
günftig fei (S. 81), würde er dabei, mehr als auf den
äufseren Erfolg der menfchlichen Gefammtarbeit, auf die
Vollendung der einzelnen fittlichen Perfönlichkeiten in
Glauben und Liebe Gewicht legen, würde er fein Auge
den fittlich erziehenden Einwirkungen erfchliefsen, welche
innerhalb der Welt von einer Perfon wie der Jefu Chrifti
ausgehen, fo gewänne ihm der Begriff der Perfönlichkeit
Gottes eine viel centralere Bedeutung. — Den Unter-
fuchungen des Verfaffers wäre es zu gut gekommen,
wenn er aufser Bender's und Pfleiderer's Hauptwerken
auch die religionsphilofophifchen Arbeiten anderer Theologen
verwerthet hätte. Wäre es auch zu viel verlangt,
dafs er bei feinen Betrachtungen über die Methode der
Religionsphilofophie die Unterfuchungen des Referenten
hierüber hätte beachten follen, fo hätte er doch an
Werken wie denen von Kaftan und W. Herrmann nicht
vorübergehen dürfen. — Die Stellen aus franzöfifchen
und englifchen Werken, welche der Verf. im Text in
Ueberfetzung, unter dem Text in der Urfprache citirt,
find zum Theil recht ungenau überfetzt.

Stuttgart. Max Reifchle.

Schmid, Prof.Dr.AL, Erkenntnisslehre. 2Bde. FreiburgiBr.,
Herder, 1890. (VII, 498 u. V, 428 S. gr. 8.) M. 9. —

Eine Reihe von philofophifchen Schriften ift fchon
aus der rührigen katholifchen Verlagshandlung von Herder
hervorgegangen: hier bietet fie um billigen Preis ein er-
kenntnifstheoretifches Werk von mehr als 900 Seiten, in
guter Ausftattung, in durchaus forgfältigem Druck.

Der philofophifchen Erkenntnifslehre oder Noetik weift
der Verfaffer die Aufgabe zu (I, 11), ,zu unterfuchen, ob
es ein Wiffen, eine Gewifsheit des Wahren überhaupt
gebe? aus welchen Quellen es gewonnen werde und
inwieweit es reiche?' Zu diefer Unterfuchung bringt er
ein reiches hiftorifches Wiffen mit, ebenfo aber die Gabe,
den gefchichtlichen Stoff gefchickt zu zerlegen und gewandt
, in lesbarem Stile, darzuftellen; die Ausdrucksweife
verräth nur in einigen Befonderheiten den katholifchen
Schriftfteller, z. B. im Gebrauch von ,fofort' (im Sinne des
logifch folgernden ,alfo'), ,ohnedem' (= fonft), ,infofern'
(= in diefer Hinficht), ,vollends' (= in vollkommener
Weife), und in Wendungen wie: ,in vorwürfigem Betreffe',
,die Commentare des englifchen Lehrers in die Ariftote-
lifchen Schriften', ,allum- und übergreifendes Wefen'u.dgl.
— Der Verf. geht auf eine fyftematifche Behandlung der
Erkenntnifslehre aus; nur bei Befprechung der einzelnen

Erkenntnifsprobleme will er die von Repräfentanten ver-
fchiedener Richtungen gegebenen Löfungen mittheilen
und einer kritifchen Sichtung unterftellen. Nachdem in
einer Einleitung die Aufgabe der philofophifchen Er-
kenntnifswiffenfchaft, ihre Stellung innerhalb des menfchlichen
Wiffens und innerhalb der Philofophie, fowie ihre
Gefchichte kurz befprochen ift, fetzt fich der erfte Ab-
fchnitt, überfchrieben ,der philofophifche Zweifel' (I, 62—
110), mit dem Skepticismus auseinander, deffen Hauptvertreter
in alter und neuer Zeit vorgeführt werden; der
zweite Abfchnitt, mit dem Titel ,die Sinneserkenntnifs'
(I, in—242), läfst gruppenweife die Beftreiter und
Vertheidiger derfelben zum Wort kommen, um dann
kritifche Stellung zu den verfchiedenen Theorien zu
nehmen. Der dritte Abfchnitt, welcher ,die Vernunft-
erkenntnifs' zum Gegenftand hat, läfst fich in einer
erften, hiftorifchen Abtheilung (I, 243—498) auf die
Syfteme eines ftrengeren oder gemäfsigteren Senfua-
lismus, fodann des Intellectualismus ein; in der zweiten,
fyftematifchen Abtheilung, welche den ganzen zweiten
Band füllt, werden die verfchiedenen Gebiete der Ver-
nunfterkenntnifs durchforfcht, das der allgemein meta-
phyfifchen, der metaphyfifchen Natur-, Geiftes- und
Gotteserkenntnifs, fodann der logifchen, ethifchen und
äfthetifchen Erkenntnifs; die hier gewonnenen Refultate
geben die Grundlage zu einer kritifchen Würdigung der
fenfualiftifchen und intellectualiftifchen Erkenntnifstheo-
rien, zur zufammenfaffenden Feftftellung des Begriffs und
der Arten der Vernunftgewifsheit und zur Stellungnahme
unter den verfchiedenen Gewifsheitstheorien. — Schon
diefer Ueberblick zeigt, dafs die hiftorifchen Ab-
fchnitte einen breiten Raum einnehmen, zumal da auch
die fyftematifchen Abfchnitte noch von weiteren gefchichtlichen
Referaten durchfetzt find. Die Wiedergabe der
philofophifchen Gedankenreihen ift, wenn auch manchmal
nur das Gewöhnlichfte mitgetheilt wird und an einzelnen
Orten fich Bedenken erheben laffen, doch im Wefentlichen
nicht anzufechten; auch werden, allerdings etwas un-
gleichmäfsig, die gefchichtlichen Probleme bezeichnet,
welche die Syfteme eines Plato, Ariftoteles, Thomas
vonAquino, Kant und anderer uns übrig laffen. So wird
doch eine gewiffe Einführung auch in das Studium der
Gefchichte der Philofophie erreicht; erfchwert wird die-
felbe nur durch die Zerfplitterung des Stoffs, welche,
ebenfo wie eine Reihe von Wiederholungen, aus der
Anlage des Buchs fich ergab. In der That werthvoll ift,
auch für den evangelifchen Lefer, die verhältnifsmäfsig
eingehende Befprechung der katholifchen Erkenntnifslehre
und ihrer Richtungen; nicht nur das Mittelalter
wird dabei berückfichtigt, fondern ebenfo die Neuzeit
und — die katholifche Wiffenfchaft zeigt darin einen
internationalen Charakter — auch das Ausland.

Auf die breit angelegte fyftematifche Ausführung
im Einzelnen einzugehen, ift hier unmöglich; es-
kann nur der Standpunkt im Ganzen, befonders in feiner
eigenthümlichen Mifchung von Freiheit und Gebundenheit
, charakterifirt werden. Er ift bezeichnend für
die katholifche Philofophie der Gegenwart. Der Verfaffer
entwickelt gegenüber dem Skepticismus den Begriff des
methodifchen Zweifels und erweift die Nothwendigkeit
desfelben befonders für die philofophifche Erkenntnifslehre
. Darunter verfteht er eine probeweife, künftlich
eingenommene Zweifelsftellung, in welcher man die Wahrheit
erft auf's Neue von irgend welchen unerfchütter-
lichen Pofitionen aus ohne fubjective Voreingenommenheit
, ohne alles Vorurtheil, ohne vorgefafste Lieblingsmeinungen
, auch ohne Berufung auf irgend welche religiöfe
Autoritätsgründe zu erforfchen und wo möglich zu be-
weifen fucht. Aber diefer nur verfuchsweife, methodifche
Zweifel ift von dem ernftlichen praktifchen wohl zu
unterfcheiden. In dem Mangel diefer Unterfcheidung
findet der Verf. den fchweren Fehler der Lehre von
G. Hermes. Er felbft fpricht es als einen nunmehr auch