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Ausgabe: | 1892 |
Spalte: | 185-187 |
Autor/Hrsg.: | Keibel, Martin |
Titel/Untertitel: | Die Religion und ihr Recht gegenüber dem modernen Moralismus 1892 |
Rezensent: | Reischle, Max |
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viel weniger erwartet man das Ergebnifs: ein folcher
Beweis fei ihr bis jetzt nicht gelungen. Denn wenn es
feftfteht, dafs das Wiffen feiner ganzen Art nach auf das
Gebiet des Gegebenen und Thatfächlichen befchränkt
ift, fo ift die Möglichkeit von vornherein ausgefchloffen,
dafs aufserhalb diefes Gebietes ihm irgend ein Beweis I
jemals gelingen könne. Dafs der Verfaffer den entfchei-
denden Fragen nicht gründlicher nachgegangen ift, hat
auch feine ungenügende Würdigung der Philofophie zur
Folge. Die vorkantifche Philofophie erfcheint nach feiner
Darftellung als ein willkürliches Spiel mit Begriffen, die
als unmittelbar gewifs angenommen die Grundlage der
Syfteme bilden. Dafs er damit der Gedankenarbeit vieler
Jahrhunderte nicht gerecht geworden ift, liegt auf der
Hand. Diefes fcheinbar willkürliche Verfahren wird doch
verftändlich, wenn man erkennt, dafs jene Philofophie |
von dem Gedanken beherrfcht war, dafs das höchfte Gut i
des Menfchen im Erkennen zu fuchen fei. Damit war
der Glaube an das fchöpferifche Vermögen der Vernunft,
Erkenntnifse über alle Erfahrung hinaus zu produciren,
die Ueberzeugung von einer übernatürlichen Bedeutung |
der Denkgefetze, von felbft gegeben. Und Kant's epochemachende
Leiftung befteht nicht, wie der Verf. will, blofs
darin, dafs er dem die Grenzen der Erfahrung über-
fchreitenden Vernunftgebrauch ein Ende gemacht hat;
er hat auch den Gedanken befeitigt, dafs das höchfte
Gut auf dem Wege des Erkennens zu gewinnen fei; er
hat dasfelbe in eine fehr enge Verbindung mit dem fitt-
lichen Leben geftellt. Auf die Frage aber, worin das
höchfte Gut des Menfchen beftehe, und wie es zu erlangen
fei, kommt hier Alles an. In den Ausführungen
des Verfaffers nimmt fie nicht die entfcheidende Stelle
ein. Ein Unternehmen, welches darauf gerichtet wäre,
nachzuweifen, dafs das höchfte Gut im chriftlichen Sinne
wirklich das höchfte Gut der Menfchheit ift, und dafs
nur eine Erkenntnifs, für welche diefes der höchfte Ge-
fichtspunkt ift, die letzten und höchften Fragen in befriedigender
Weife zu beantworten vermag, würde den
Einreden der Gegner viel wirkfamer entgegentreten und
die chriftliche Religion viel eindringlicher als die ewige
Wahrheit darthun können, als es dem Verf. trotz alles
Trefflichen, welches er bietet, gelungen ift.
Mühlhaufen i. Th. J. Clüver.
Keibel, Dr. Martin, Die Religion und ihr Recht gegenüber
dem modernen Moralismus. Darftellung und Kritik der
,ethifchen Bewegung' unferer Zeit. Halle a/S., Pfeffer,
1891. (VII, 85 S. gr. 8.) M. 1.50.
Etwa die Hälfte der Schrift ift der Darftellung des
modernen religionslofen Moralismus gewidmet; in diefem
Theil (S. 22—65) liegt auch der Hauptwerth des Büchleins.
Allerdings werden die Anflehten und Beweggründe der
Hauptführer der religionsfeindlichen ethifchen Bewegung
nicht eingehend befprochen: bei Männern, wie Helvetius,
Bentham, L. Feuerbach, J. St. Mill, Stanton Coit, Gizycki
begnügt fich der Verf. mit der Anführung einzelner bezeichnender
Sätze aus ihren Werken und auf 1V2 Seiten
macht er die Frage ab, wie fich Sophiftik, Epikureismus
und Buddhismus zur Religion geftellt haben. Aber wir
erhalten doch einen Ueberblick, und befonders dankens-
werth ift es, dafs der Verf. aus der vorhandenen Literatur
und durch Privatmittheilungen foviel gefchichtlichen Stoff
zufammengebracht hat, um einen knappen Ueberblick
über die Entwicklung der moraliftifchen Gemeinfchaften
befonders in Deutfchland, Nord-Amerika, England und
Frankreich geben zu können. Diefe gefchichtlich-
ftatiftifche Abtheilung des Büchleins ift nun eingerahmt
von religionsphilofophifchen Unterfuchungen (S. 2—21:
Die Religion; S. 66—82: Das Recht der Religion gegenüber
dem modernen Moralismus). Da es die ausge-
fprochene Abficht des Verf.'s ift, das Recht der Religion
gegen den Anfturm des religionsfeindlichen Moralismus
zu vertheidigen (S. 30), fieht er fich veranlafst, ,auch die
Begriffsbeftimmung der Religion felbftändig zu erneuern';
er will dabei nicht nur ,die Lehre Bender's in einen kurzen
und zwingenden Gedankengang zufammenfaffen', fondern
glaubt auch ,durch die Berückfichtigung des Dankgebets
als einer befonderen religiöfen Leiftung neben dem Bittgebet
und durch engere Anknüpfung an Schleiermacher
einen Schritt über Bender hinaus wagen zu dürfen'
(S. III). — So überzeugt ich von der Berechtigung diefes
Schrittes bin, bezweifle ich doch, ob ihn der Verf. ganz
ficheren Fufses macht. Er befinnt fich zwar über die
einzufchlagende Methode und entfeheidet fleh für ein
vorwiegend pfychologifches Verfahren, welches nicht
die Genefis der Religion, fondern ihren Zweck innerhalb
des Ganzen des menfehlichen Lebens beftimmen
will. Dabei verfällt er aber in eine künftliche Conftruction.
Er erfchafft fleh einen Menfchen, der, längft des Betens
entwöhnt, in äufserfter Noth Gott bittet, und einen andern,
der, nach einer Errettung aus höchfter Lebensgefahr,
von feinem Gefühl überwältigt Gott dankt. Bei einer
Analyfe diefer beiden Präparate findet er nun: der Betende
ift geleitet von dem Beftreben, die Ziele feines Strebens
auch da feftzuhalten, wo feine menfehliche Leiftungs-
fähigkeit aufhört, und zwar durch das Vertrauen zu dem,
was jenfeits diefer Grenze wirkt; wenn er diefe Macht
als Perfon denkt, fo gefchieht es nur, damit er fein Vertrauen
ihr gegenüber offen äufsern könne; denn nur hie-
durch kann er das Vertrauen felbft und damit den
wankenden Muth in feinem Innern neu beleben. Der
Dankende ift durch die ihn überwältigende Erfahrung in
fei nem Selbftgefühl gebrochen und von dem Verlangen
befeelt, feine trügerifche Selbftgenügfamkeit durch wahre
Demuth gegenüber der fein Leben beftimmenden Macht
zu erfetzen; wenn er diefe als Perfon denkt, fo gefchieht
es nur, damit er feine Bedingtheit ihr gegenüber ausdrücklich
anzuerkennen im Stande fei; denn nur dadurch
kann er die Stimmung der Demuth in fich dauernd be-
feftigen. Die Stärkung des Vertrauens und der Demuth
ift alfo der wahre Zweck der Bitte und des Dankes;
indirect wird dann dadurch auch ein gedeihlicher Fort-
fchritt unferer menfehlichen Arbeit herbeigeführt; denn
,um günftige Wendungen desSchickfals im rechten Augenblick
zu nützen, dazu bedürfen wir einer freudigen und
feften Zuverficht; aber die Früchte unferer Mühen gehörig
zu verwerthen, dazu mufs uns jene Demuth helfen,
welche unfer Selbftvertrauen mäfsigt' (S. 12). — Alles
ganz fchön! nur läfst fleh diefes Ergebnifs nicht aus der
Zergliederung jener elementaren Erfcheinungen der Religion
herausfchlagen: denn jener Beter in äufserfter Noth
perfonificirt gewifs nicht erft dazu die übermenfehliche
Macht, um ihr fein Vertrauen bezeugen zu können;
fondern weil ihm der Gedanke aufblitzt, dafs diefelbe
auf feinen heifsen Wunfeh vielleicht doch Rückfleht
nehmen könne, fpricht er feine Bitte aus, und zwar nicht
um fein Vertrauen zu Marken, fondern, um feinen Wunfch
zu erlangen. Und jener aus Todesgefahr Errettete denkt
Gott nicht erft in der Abficht als perfönlich, um ihm
gegenüber feine Demuth äufsern zu können, fondern weil
ihm die Ueberzeugung aufgegangen ift, dafs die Macht,
von welcher fein Leben abhängt, auf fein Wohl Rückfleht
nehme, bricht feine fich beugende Freude hervor,
und zwar ohne dafs die Abficht ihn leitete, dadurch feine
Demuth felbft zu befeftigen. Das, was der Verf. aus jenen
beiden Beifpielen herauslieft, hat er nicht wirklich den-
felben entnommen, fondern aus feiner eigenen religiöfen
Anfchauung gefchöpft, welche er auf Grund feiner Anficht
von der Beftimmung und Stellung des Menfchen in
der Welt fich gebildet hat. Die beherrfchenden Gedanken
derfelben find: dauerndes Glück ift nur zu erreichen
durch beftändige und erfolgreiche Arbeit; eben bei
diefer aber erfahren wir unfere Abhängigkeit von einer
Macht, welche jenfeits der Grenzen menfehlicher Leiftungs-
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