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Ausgabe:

1892

Spalte:

183-185

Autor/Hrsg.:

Fleischmann, Otto

Titel/Untertitel:

Das Christentum und seine Gegner. Eine wissenschaftliche Untersuchung 1892

Rezensent:

Clüver, J.

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Theologifche Literatur

zeitung. 1892. Nr. 7.

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fich in einer ganz anderen Sphäre bewegen als meine
Erörterungen. Oder, er treibt fein Spiel mit Worten.
Wenn ich gefagt habe, es liege eine gewiffe Willkür im
gewöhnlichen Wiffen, und auch die Wiffenfchaft komme
nicht darüber hinaus, fo fafst er diefe Willkür nicht der
gegebenen Erklärung gemäfs, fondern im Sinne bewufster
Auswahl, um ein Feft der Widerlegung zu feiern. Weiterhin
fpielt er mit dem Wort ,Wille', fafst es bald fo und
bald anders, unbekümmert um das, was von mir einzig
darunter verftanden wird. Häufig genug befteht die
Methode der Widerlegung darin, dafs der Verf. mit
feiner Analyfe der Erkenntnifsformen an einem früheren
Punkt hängen bleibt und mir, was fich ihm hier präfen-
tirt und was ich an und für fich niemals beftritten habe,
als Widerlegung entgegenhält. Z. B. was die Einheit
des Dings betrifft — ift nicht der Baum eine Einheit
von der Wurzel bis zur Spitze des Blatts? Und ift
nicht die ganze Welt voll von Caufalität? Ja gewifs!
Aber daran knüpfen fich nun eben die Fragen, das ift
nicht das Refultat, fondern das Object der Unterfuchung.
Wen das nicht intereffirt, wer diefe Fragen nicht als
folche empfindet, der laffe die Finger davon. Aber er
meine doch nicht, dafs er mit dem blofsen Zurückgreifen
auf diefe Thatfachen des Bewufstfeins den Verfuch, die
Fragen in einem beftimmten Sinn zu faffen und zu beantworten
, widerlegen kann. Der Verfuch mag irrig
fein, aber wer das zeigen will, mufs fich auf die Sache
einlaffen und auch feine Gedanken ernfthaft zufammen-
nehmen, mit einem folchen Drüberhinfahren ift es jedenfalls
nicht gefchehen. Indeffen, ich kann nicht alles aufzählen
, was zu erwähnen wäre. Nur zweierlei fei noch
genannt. Es kann ja nicht anders fein, als dafs in
meinem Buch manches gefagt ift, was auch mein Kritiker
anerkennt, weil es für einen Chriften felbftverftänd-
lich ift. Wie ftellt er fich denn dazu? Da erklärt er
einfach, dafs ich nicht das Recht habe, fo etwas zu
meinen oder zu fagen, weil mir die Prämiffen dafür
fehlen! Und dann dies: wiederholt werden mir Wider-
fprüche aufgebürdet, mit befonderem Triumph S. 361.
Er ruft aus: dies Beweisverfahren ift anftöfsig! auf 2
einander folgenden Seiten wird das gerade Gegentheil
gefagt! In Wahrheit ift auch kein Schatten eines Wider-
fpruchs vorhanden, fondern mein Kritiker hat fich nur
wieder keine Zeit zur Ueberlegung genommen. Nun
handelt es fich aber an der betreffenden Stelle um eine
Frage (Vorfehungsglaube und Naturgefetz), in welcher
eine Folgerung aus allem Vorangegangenen gezogen
wird. Man mufs diefes mit einigem Nachdenken gelefen
haben, um die Folgerung zu verftehen — eine Forderung,
die ich meinen Kritikern nun einmal nicht erfparen kann.
Darf ich denn nicht fagen, der Verfaffer ftelle fich mit
jenem Urtheil felber das Zeugnifs aus, dafs er der Aufgabe
nicht gewachfen gewefen? Und doch wäre er es
vielleicht, wenn er fich mehr Zeit liefse und etwas tiefer
grübe. Ich will daher mit dem Rath fchliefsen, er möge
fich des fchnellen Büchermachens entfchlagen. Das taugt
für ihn fo wenig wie für andere. Läfst er es nicht, dann
wird bei feiner Arbeit nichts herauskommen.

Berlin. Kaftan.

Fleischmann, Otto, Das Christentum und seine Gegner.

Eine wiffenfchaftliche Unterfuchung. Leipzig, Fr.
Richter, 1889. (VII, 223 S. 8.) M. 3.—

Diefe Arbeit ift veranlafst durch die heftigen Angriffe
, welche feit geraumer Zeit gegen die chriftliche
Religion gerichtet worden find. Der Verf. fucht durch
fie zugleich ein perfönliches Bedürfnifs zu befriedigen:
durch eine unparteiifche Prüfung fich Klarheit zu ver-
fchaffen, ob die Einreden der Wiffenfchaft gegen das
Chriftenthum der Art find, dafs fie zum Aufgeben der
chriftlichen Ueberzeugung nöthigen müffen. Er weift im

1. Theil: ,Das Chriftenthum und die Wiffenfchaft' zu-
nächft nach, ,dafs die Philofophie nirgendwo einen haltbaren
Beweis geliefert habe, welcher geeignet wäre, das
Chriftenthum in feinen Grundlagen zu erfchüttern oder
ihm gar den Untergang zu bereiten' (S. 15—24). Er
wendet fich fodann zu den Naturwiffenfchaften und zeigt,
dafs die echte Naturwiffenfchaft, die den Standpunkt des
Wiffens wirklich inne hält, bis zu der Frage nach dem
Urfprung der Welt noch gar nicht gelangt fei; fie habe
noch fo viele Vorfragen zu erledigen, dafs jene Frage
als eine vollftändig offene erfcheine. Sie wiffe nicht den
Urfprung des Lebens zu erklären, nicht das Bewufstfein;
was Kraft und Materie fei, könne fie nicht fagen. Kurz,
,was die wirkliche Naturwiffenfchaft bis jetzt weifs, kann
mich nicht veranlaffen, den Glauben an einen Schöpfer,
an die menfchliche Willensfreiheit, an die Möglichkeit
der Herftellung wahrer Sittlichkeit auf Erden aufzugeben'
(S. 24—38). Der Verf. unterzieht fodann die ,falfche
Naturwiffenfchaft' (Materialismus, Darwinismus) und den
Monismus einer fcharfen und eindringenden Kritik
(S. 39—69) und gedenkt endlich der mafslofen kritifchen
Behandlung, welche fich die Bibel habe gefallen laffen
müffen (S. 69—75). Zu einer unbefangenen Würdigung
diefer Erfcheinung ift er nicht gelangt. Der Gefichts-
punkt der ,untergefchobenen Machwerke' ift nur geeignet,
das Urtheil zu verwirren. Der zweite Theil: ,Das Chriftenthum
und die Cultur' erörtert zunächft den engen Zu-
fammenhang zwifchen Religion und Sittlichkeit (S.79—95).
In ausführlicherer Darlegung zeigt fodann der Verfaffer,
dafs innerhalb der Chriftenheit ein fittlicher Fortfehritt
ftattgefunden habe, und dafs von den chriftlichen Völkern
eine ungleich höhere Sittlichkeit und Kulturftufe erreicht
fei, als von den übrigen (S. 95—190). Das Schlufs-
capitel ift dem Nachweife gewidmet, dafs die Anfchauung,
der wahre Fortfehritt vollziehe fich durch das fortfehrei-
tende Wiffen, wie fie in Buckle's Gefchichte der Civili-
fation in England vorliegt, eine verfehlte fei.

Das Buch ift lebendig und frifch, mit vielfeitiger
Kenntnifs und meift gefundem und unbefangenem Urtheil
gefchrieben. Manche Ausführungen, wie die Kritik Buckle's,
find in ihrer Art ganz vortrefflich. Trotzdem wird mancher
Lefer die Schrift mit einer gewiffen Enttäufchung
aus der Hand legen. Denn was hat der Verf. bewiefen ?
Nur diefes: dafs bis jetzt Philofophie und Naturwiffenfchaft
nichts vorgebracht haben, was zum Aufgeben des
chriftlichen Glaubens nöthigen könnte, dafs bis jetzt in
der Chriftenheit ein fittlicher Fortfehritt zu conftatiren
fei, der mit Vertrauen in die Zukunft blicken laffe. Diefes
Ergebnifs fchliefst nicht aus, dafs die Wiffenfchaft einft
eine unwiderlegliche Einrede erheben könne, und die ge-
fchichtlichen Betrachtungen des Verf.'s führen auch nicht
weiter, als dafs die chriftliche Religion einen tief eindringenden
Einflufs ausgeübt habe, wobei die Möglichkeit
immerhin offen bleibt, dafs eine zukünftige Religion den
Fortfehritt in noch anderer Weife fördern könnte. Dafs
der Verf. kein befriedigenderes Refultat erreicht hat,
rührt offenbar daher, dafs er die entfeheidenden Fragen
nicht klar und beftimmt genug geftellt hat. Er geht fehr
fchnell über fie hinweg. Kurzer Hand ftellt er die
Sätze auf: Die Grundlagen, auf denen das Chriftenthum
beruht, könnten niemals gewufst, fondern nur geglaubt
werden. Was nicht ,dreidimenfionale (körperliche) Seinsweife
' habe, bleibe der Wiffenfchaft unzugänglich, fei
Gegenftand fubjectiver Ueberzeugung und Gewifsheit
d. h. des Glaubens. Denn das menfchliche Wiffen fei
von der Erfahrung durch die Sinne abhängig. Es wäre
der Mühe Werth gewefen, diefe Sätze des Näheren zu
begründen. Jedenfalls erwartet man nicht, dafs der Verf.
nach diefen Sätzen es als feine Aufgabe bezeichnen
würde, zu unterfuchen, ob der Wiffenfchaft der Beweis
gelungen fei, dafs es nur eine ,dreidimenfionale Seinsweife
' gebe und geben könne, dafs es bei der Entftehung
der Welt eines Schöpfers nicht bedurft habe. Und noch