Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1891

Spalte:

153-154

Autor/Hrsg.:

Linder, Glieb.

Titel/Untertitel:

Simon Sulzer und sein Antheil an der Reformation im Lande Baden, sowie an den Unionsbestrebungen 1891

Rezensent:

Kawerau, Gustav

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

153

Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. 6.

'54

fprungen ift. Man hat [ich der Apotheofe des Papftes
erft entgegengeftelit, als es bereits zu fpät war.

Die in der erften Abtheilung (S. 1 — 158) vereinigten
kleinen Schriften Döllinger's flammen fämmtlich aus den
JJ. 1848—53. Seine deutfche Art tritt fchon hier hervor,
und unter dem Eindruck der Folgen des J. 1870 erfcheinen
fie uns heute in einem neuen Lichte.

Berlin. A. Harnack.

Linder, Pfr. Gheb., Simon Sulzer und fein Antheil an der
Reformation im Lande Baden, fowie an den Unions-
beftrebungen. Heidelberg, C. Winter, 1890. (IV, 170 S.
gr. 8.) M. 3. -

Schon feit einer Reihe von Jahren befchäftigt fich
Pf. G. Linder mit der Erforfchung der Lebensgefchichte
des Basler Antiftes S. Sulzer; zum Heidelberger Univer-
fitätsjubiläüm veröffentlichte er bereits unter dem Titel
,Sulccrana Badaisia' die von ihm gefammelten, auf die
Reformation der Markgraffchaft Baden(-Durlacff) bezüglichen
Correfpondenzen Sulzer's. Er fetzt darin die Arbeiten
feines Verwandten J. R. Linder (y 1879) fort, der
1869 in der Zeitfchrift für lutherifche Theologie einen
Lebensabrifs Sulzer's gegeben und 1870 in der Zeitfchrift
für hiftorifche Theologie ein intereffantes Acten-
ftück aus dem Kampf des Kryptolutheraners mit feinen
zwinglianifchen Collegen (Erzberger's Predigt) veröffentlicht
hatte. Sulzers Leben bietet auch Stoffs die
Fülle für eine kirchengefchichtliche Monographie. Ein
kurzer Befuch des jugendlichen Berner Theologen bei
Luther und Melanchthon (1536) hatte ihn für alle Zeiten
für das Lutherthum gewonnen; feitdem bemüht er fich
unabläffig, von nur einer kleinen Zahl gleichgefinnter
Genoffen unterflützt, innerhalb der Schweizer Kirchen
eine der Luther'fchen nahekommende Abendmahlslehre,
vor allem auch lutherifche Cultusbräuche und Inftitu-
tionen (z. B. Nothtaufe und Krankencommunion) einzubürgern
. So fehr diefes Wirken Sulzer's den gewaltigen
Eindruck bezeugt, der von Luther's Perfönlichkeit ausgehen
konnte, fo trübt fich doch das Bild eines folchen
Kryptolutheraners durch die gezwungene und fchiefe
Stellung, in die derfelbe zu dem Bekenntnifslland feiner
Gemeinde geräth. Es geht ohne Mentalrefervationen,
ohne Verfchleierungen der Wahrheit, ohne diplomatifche
Gefchmeidigkeit nicht ab. In der Berner Kirche unterliegt
Sulzer völlig; in der Basler findet er günftigere Bedingungen
für feine Beftrebungen, erzielt wenigftens Momenterfolge
(Annahme der Wittenberger Concordie durch
die Basler; Wiederherftellung des Orgelfpiels u. dgl.)j
aber der natürlichen Anziehungskraft der fchweizerifchen
Reformation vermag er doch fein Bafel nicht zu entziehen.
Mit feinem Tode zerbricht auch das, was er fo mühfam
angellrebt.

So intereffant dies Schwimmen gegen den Strom in
Sulzer's Kryptolutheranismus auch für den Kirchenhifto-
riker ift, verglichen mit den gleichzeitigen Windungen
und Gefchicken des Kryptocalvinismus in Sachfen, fo
dankenswerth alfo auch Linder's Forfchungen auf diefem
Gebiete find, fo ift es doch m. E. ein mifsliches Ding,
für ein folches Leben die weiteren Kreife der evang.
Gemeinde intereffiren zu wollen, wie der Verf. mit feiner
Publication beabfichtigt. Theils ift der Stoff dazu nicht
angethan, derfelbe bereitet wenigftens grofse Schwierigkeiten
, theils fehlt dem Verf. dafür die Kraft des Geftal-
tens und Verarbeitens des Stoffes. Er will feinen Le-
fern das Theologifche jener Händel möglichft vorenthalten
; aber damit bleibt von den Händeln auch in feiner
Behandlung kaum anderes übrig als Gezänk und leidige
Parteiung. Und wenn er z. B. S. 46 ff., um feine Lefer
nicht mit den dogmatifchen Streitpunkten näher zu behelligen
, ihnen nur den Abendmahlsartikel aus verfchie-
denen lutherifchen und fchweizerifchen Bekenntnilsen
neben einander abdruckt, fo fürchte ich, werden nicht-

I theologifche Lefer dadurch noch lange nicht über die
Nüancen diefer Ausfagen und deren Bedeutung aufgeklärt
fein. Wollte er diefe Kämpfe darftellen, fo mufste
er vor allem feine Lefer über den Werth orientiren,
den diefe Formeln für die Streitführenden hatten. Ferner
zerpflückt der Verf. die Gefchichte Sulzer's viel zu fehr
in eine Maffe kleiner Epifoden, in denen Bedeutfames
und Nebenfächliches nicht genügend unterfchieden ift;
über einer Fülle einzelner ,Fälle' verliert man den Blick
für die einheitlichen Ziele diefes Theologenlebens. Man
hört vielerlei, auch viel Neues, über ihn, und lernt den
Mann felbft doch nicht recht kennen. Dazu verführt
das handfchriftliche Material, über welches der Verf.
verfügt, ihn zu der unglücklichen Form der Darftellung,
dafs er z. B. in einem guten Theil des Capitels, das
von der Reformation Badens handelt, die von ihm benutzten
Briefe Sulzer's vollftändig oder im Excerpt, alfo
den Rohftoff, den der Hiftoriker verarbeiten foll, einfach
aufreiht. So ift feine Arbeit eine fchätzenswerthe Chronik
zu Sulzer's Leben, die viele Einzelheiten forgfam überliefert
; vor höheren Anforderungen an eine Biographie
vermag fie nicht zu beliehen. Die Sprache leidet an

I fchweizerifchen Ausdrücken, die der gemeindeutfchen
Schriftfprache fremd find, z. B. ausfpitzen lt. zufpitzen,
mifsbeliebig, dannzumal, Zulage (im Sinn von Nachrede)
u. dgl. Verwunderlich ift der Satz (S. 5), dafs in Deutfch-
land hauptfächlich der Reichstag zu Worms das Werk
der Reformation angebahnt habe; ebenfo ift es unhifto-
rifch, Luther, um feiner beiden Katechismen willen, als
den zu bezeichnen, der mit der .Aufftellung genau for-
mulirter Wortbekenntnifse' den Anfang gemacht habe.
Dafs er die Confessio Sigismundi in feinem chronolo-
gifchen Verzeichnifs der evangelifchen Bekenntnifse (S. 7)
zwifchen 1562 und 1563 einreiht, alfo ein halbes Jahr-

J hundert zu früh, darf nicht unerwähnt bleiben. Für den

j prakt. Theologen hat das Cap. über Einführung der Pn-
vatbeichte, des Orgelfpiels und des Glockengeläutes in
Bafel (S. 50 ff.) ein befonderes Intereffe.

Kiel. Kawerau.

!-_____

Andrea, Kanzler Jak., Zwanzig Predigten aus den Jahren

IS57> 1559 und 1560, zum 300jährigen Gedächtnistag
feines Todes den 7. Jan. 1890 wieder hrsg. mit einem
kurzen Lebensabrifs Andreäs und dem Bericht feines
Kollegen Heerbrand über fein Ende von Dekan
Schmoller. Gütersloh, Bertelsmann, 1890. (VIII,
400 S. m. Bild. 8.) M. 5. —
Der Herausgeber ift aus Anlafs des 300jährigen Ge-
dächtnifstages des Todes des alten Concordien-B ormel-
Agenten bemüht gewefen, dem Manne, den man meift
nur ,als einen hartnäckigen, ftreitfüchtigen theologifchen
Polemiker erften Rangs und gewaltthätigen Kirchenpolitiker
' kenne, dadurch ein freundlicheres Andenken zu
fichern, dafs er den Prediger Andreä von den Todten
wiedererweckt. Ich bekenne, ich habe mit nicht grofsen
J Erwartungen diefe Predigtneudrucke zur Hand genom-
j men, bin aber fehr angenehm enttäufcht worden. Zwar
[ erweckt es eine fchiefe Vorftellung, wenn Schmoller den
Prediger Andreä geradezu als .Pectoraltheologen' an-
preift; dazu ift feine ganze Art viel zu lehrhaft. Aber
fein Lehrton ift fo fchlicht u. kräftig, fo an Luther's volks-
thumlicher Redeweife gebildet, ja in den zuletzt mit-
getheilten Kinderpredigten1) fo anfprechend und durch
paffende Gleichnifse dem jugendlichen Verftändnifs fich
anpaffend, dafs man diefe Predigten unbedenklich zu
den guten und geniefsbaren der Lutherepigonen zählen
' darf. Die Polemik der hier ausgewählten Predigten —
j aus den Jahren 1557—60 — richtet fich faft ausfchliefslich
gegen den Katholicismus; fie bietet das Erfreuliche, dafs

1) Mit Recht hat Chriftlieb HRE 2 XVIII 535 diefe befonders hervorgehoben
.