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Ausgabe:

1891 Nr. 22

Spalte:

556-557

Autor/Hrsg.:

Grundemann, R.

Titel/Untertitel:

Die Entwicklung der evangelischen Mission im letzten Jahrzehnt (1878-1888) 1891

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. 22.

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Wortes über Lc. 8, 4—13 heifst es: ,Dort der Mann mit
dem wettergebräunten Geficht und den fchwieligen Händen
— ein Landmann ift's offenbar —, wie ftumpf ift
fein Blick. Freilich, als Jefus vom Acker und Säen anfing
zu reden, hat er einige Male genickt, als wollte er
fagen: ,ich begreifs'; dann aber find feine Gedanken
wieder zur Ruhe oder auf die Wanderfchaft gegangen.
Die grofse Welle der Volksbegeifterung hat den Mann
herangefpült; er ift mit gekommen und weifs kaum, wie;
er wird zurückkehren, aber ob er mehr mitbringt als die
Kunde: „Ich habe ihn gefehen"? Dort die frifche Dirne,
fie hängt mit ihren klug blitzenden Augen an den Lippen
des gefeierten Mannes, und das Bewegen ihres Herzens
fpiegelt fich auf ihrem Gefichte. Aber empfänglicher
noch als für diefes Wort wird fie für andere Rede fein.
Was wird aus des Propheten Worten werden, und wären
fie mit Engelszungen geredet, wenn jener Burfch, deffen
Blick von ihr nicht weicht, zu ihr geredet hat das alte
Wort von der Liebe, deren Eifer feft ift wie die Hölle,
deren Gluthen auch viele Waffer nicht mögen auslöfchen?'
Dies als ein Beifpiel für viele. Man wird an die moderne
altdeutfche Malerfchule erinnert, die abhold allem
Nazarenerthum den Herrn in unfere Wohnftube und an
unfern Mittagstifch führt; aber von dem Fehler bei Spitta
keine Spur, dafs Chriftus wird wie unfer Einer. Der
Schönfte unter den Menfchenkindern, der Eingeborne
vom Vater voller Gnade und Wahrheit, der Erlöfer von
uns felbft und unferer Sünde und unferem Tode, der
Siegesfürft und Ehrenkönig, dem grofse Menge zur Beute
wird und der die Starken zum Raube hat — ein Lieblings-
citat Spitta's — verleugnet fich niemals. Hand in Hand
mit folcher Zeichnung Chrifti ein fiegesfroher, auf Chrifti
Perfon und Werk gegründeter Optimismus, der gerade da
in heiliger Kraft fich entfaltet, wo der Prediger von
unferer Sünde und unferem Schaden redet.

Spitta ift vom Scheitel bis zur Sohle Künftler. Die
plaftifche Geftaltungskraft feiner Sprache ift defs Zeuge,
nicht weniger auch die Behandlung des Textes, die ganze
Art feiner Predigt. Der Mufiker fixirt einen Accord,
das Thema einer Fuge; die Predigt giebt die Variation
des Thema's und der Künftler wiegt fich auf der Fluth
des fchlichten Wohllauts nicht der Worte, fondern der
aus Chriftus quellenden Gedanken. Meift ift der ausgehobene
Accord mit glücklichem Griff gewählt; obgleich
fcheinbar nebenfächlich im Text ftellt er den Text in
neue und fchöne Beleuchtung. Justar omnium nenne ich
die pfychologifch meilterhafte Ausführung über ,der Verzicht
auf Liebeserweifung' (Mt. 15, 21—28). Allein wie
es bei folcher Art nahe liegt: die Unbekümmertheit um
das, was nicht in das Motiv der Ausführung unmittelbar
pafst, ift mitunter gar zu grofs. Wie der Herr dazu
kommt, dennoch dem kananäifchen Weibe wider feine
vom Vater empfangene Inflruction zu helfen, wird doch
kaum durch den Satz deutlich werden, Jefus erkenne
hier, dafs des Vaters Gebot feine Bedeutung verloren
habe. So kann es auch nicht auffallend fein, dafs der
Griff in den Text hie und da mifslingt. In der Predigt
von der ,Verklärung des irdifchen Berufes' über Mt. 4,
18—25 argumentirt der Herr Verf. mit dem Gedanken,
dafs der Fifcherberuf ein Gleichnifs des apoftolifchen fei;
was folgt daraus? Wohl dies, dafs gute, auch grofse, Gedanken
mit dem irdifchen Berufsleben unter Umftänden
fich vereinigen laffen, aber es folgt nicht der Gedanke,
worauf es in der Predigt ankommt, dafs das Berufsleben
felbft ein Dienft im Reiche Gottes fein könne und folle.
Oder die Predigt über ,die Liebe Chrifti' (Mt. 26, 1—16).
Der heilige Idealismus der grenzenlofen Selbfihingabe
wird an Jefus und an Maria von Bethanien fehr fchön
dargeftellt; aber auf die Frage: giebt es nicht auch eine
zwar fehr opferfreudige, aber in ihrem Zweck und in ihren
Mitteln fehr thörichte Liebe? erhalten wir keine, wenig-
ftens keine genügende Antwort.

Der geiftvolle, vom Evangelium durchdrungene

Künftler predigt. Natürlich, dafs den homiletifchen Schulpedanten
mitunter das Grufeln ankommt. Das Thema
klingt zwar durch, wird jedoch nur feiten genannt, und
die Theile werden auch nicht einmal angedeutet, weder
fachlich noch wörtlich; es ift, als ob der Künftler die
Feffel der Form nicht vertrüge. Und wenn das Thema
genannt wird, da kann es, wie bei der 5. Predigt, dem
Prediger begegnen, dafs es erft in der Mitte der Predigt
auftaucht, dafs alfo die Einleitung die volle Hälfte der
Predigt einnimmt. Wir wollen nicht Schulpedanten fein.
Aber wer nun nicht Künftler ift wie Spitta und nicht
ein genialer Mann wie er, darf der fo predigen, ich
meine: in diefer Textbehandlung und in diefer Unbekümmertheit
um alle Regeln homiletifcher Schulzucht?
Die Predigten find freilich ein nicht nur befcheidener,
fondern auch ein fehr werthvoller Beitrag zur Verthei-
digung des Ideals der Predigt, wie es vor Spitta's Seele
fleht. Aber das Ideal ift aus der Individualität Spitta's
geboren und auf diefe Individualität zugefchnitten. Wir
nehmen den Beitrag mit wärmftem Danke entgegen und
wünfchen zahlreichften Lefern die Freude und die Erbauung
, welche uns die Gabe gewährt hat.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Grundemann, Paft. Dr. R., Die Entwickelung der evangelischen
Mission im letzten Jahrzehnt (1878—1888). Ein
Beitrag zur Miffionsgefchichte, zugleich als Ergänzungsband
zur 2. Aufl. der ,Kleinen Miffionsbiblio-
thek'. Bielefeld, Velhagen & Klafing, 1890. (XI,
300 S. gr. 8.) M. 3. 60.

Neben D. Warneck, ,dem Begründer der deutfchen
Miffionswiffenfchaft, dem treuen Pfleger und tapferen Ver-
theidiger der evangelifchen Miffion', welchem vorliegende
Schrift als ,ein Denkftein 25 jähriger gemeinfamer Ar
beit' gewidmet ift, fleht der Verf. als eine der erften
Autoritäten in Miffionsangelegenheiten. Durch feine
Neubearbeitung der,Kleinen Miffionsbibliothek' von Burkhardt
(4 ftarke Bände), feinen Miffionsatlas, feine Gründung
und Leitung der Brandenburger Miffionsconferenz
(feit 1883) und durch zahlreiche Artikel in der Warneck-
fchen Allgem. Miff.-Zeitfchr. hat der Herr Verf. fich
einen hochgeachteten Namen erworben. Die Vorzüge
aller feiner bisherigen Arbeiten: ein unermüdlicher Fleifs,
der auch vor den mühfamften und kleinlichften Nachfor-
fchungen und Zufammentragungen nicht zurückfchreckt,
unbeftechliche Wahrhaftigkeit auch in Aufdeckung und
rückflchtslofer Bezeichnung der Schwächen und P'ehler
auch der nächft verbundenen Genoffenfchaften, daher, fo-
weit das bei fo maffenhaften Eunzelnotirungen überhaupt
erreichbar ift, unbedingte Zuverläffigkeit, zeichnen auch
dies Buch aus. Referent darf unter diefen Tugenden
die Wahrhaftigkeit, den abfoluten Mangel an aller ten-
denziöfen oderfchwachmüthigen und fentimentalen Schönfärberei
befonders hervorheben. Grundemann hat
diefe Tugend zuerft in grofsem Stil in jener Bearbeitung
der ,K1. Mi ff. Bibl.' geübt, und es ift, foweit ich fehe,
im Verein mit Warneck ihm vornehmlich zu danken,
dafs der Geift grofser Nüchternheit im Urtheilen und
Anfchauen fleh mit der begeiftertften Liebe zur Miffions-
fache in der evangelifchen Kirche zu vermählen weifs
überall, wo Hand an das Werk gelegt wird. Das ift ein
nicht genug zu fchätzender Vorzug, den evangelifcher
Miffionsbetrieb und evangelifche Miffionsgefchichtfchrei-
bung gegenüber der römifchen hat, und niemand möge
fich dadurch verftimmt fühlen, dafs vielleicht das suavi-
ter in modo bei dem fortissime in re nicht völlig hie und
da beachtet fcheint. Dafs bei der Nüchternheit der
Betrachtung und der fcharfen Kritik thatfächlicher Ver-
hältnifse dennoch ein erfreuliches Wachfen des Werkes
nach aufsen und nach innen konftatirt werden kann, ift
natürlich um fo werthvoller.