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Ausgabe:

1891

Spalte:

554-556

Autor/Hrsg.:

Spitta, Friedr.

Titel/Untertitel:

Predigten. 2. Band: Sonntagspredigten aus der festlichen Hälfte des Kirchenjahres 1891

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. 22.

554

eine Art von dichterifchem Motto den Text zu gebrauchen.
Steht Chriftus der Herr im Mittelpunkt feines Glaubens
und feiner Gedanken, fo wird er durch freie Verfenkung
in das Wort, das von Ihm zeugt, in dem Rcichthum
diefes Wortes den überwältigenden Eindruck der Perfon
des Herrn verfpüren, aus dem jener Reichthum quillt.
Wie feinfinnig und hingebend weifs Dryander hch in
feinen jedesmaligen Text einzuleben und Hörer und
Lefer für den Text aufs lebhaftefte zu intereffiren; und
doch ift er weit entfernt von engherziger Buchftäbelei,
die das Wort zum Götzen macht. Wie wohlthuend berührt
die geradherzige Befcheidung vor der Erzählung
von den gergefenifchen Befeffenen Mc. 5: ,Ich fpreche
von vornherein aus, dafs ich eine Anzahl der Schwierigkeiten
des Textes für unlösbar halte, dafs alfo an der
Hand diefer Gefchichte mehr Fragen fich aufwerfen laffen,
als wir im Stande find zu beantworten' (S. 140), — oder
bei der Verklärungserzählung Mc. 9: ,Es ift unmöglich,
alle Fragen zu beantworten, welche Neugier, Wifsbegier
oder Zweifel aufwerfen können. Es ift vergeblich, Ge-
heimnifse enthüllen zu wollen, welche der Herr wie mit
einem Schleier bedeckt hat' (S. 308). Da ift nichts von
jenem ,fprichwörtlichen Paftorenhochmuth', in welchem
der Prediger fich den Anfchein giebt, als habe er Sitz
und Stimme in dem Wirklichen Geheimen Rathe Gottes.
Die docta ignorantia ift da der einfachen Wahrheit ge-
mäfs und ihre Ausfprache erweckt das fchöne Vertrauen,
dafs der Prediger mit feinen Hörern, um mit Calvin zu
reden, nichts Anderes fein will, als escoliers de Jesus-
Christ. _ Von dem in feiner Gedankenfülle entfalteten

Textwort aus ergiebt fich die Fruchtbarmachung desfel-
ben für die gegenwärtige Gemeinde dem Inhalte nach
in völlig ungezwungener Weife. Nicht immer allerdings
auch der Form nach; die Anwendung ift meift nicht in
die Entwicklung der Predigt verwoben, wie die ftrenge
Homiletik es verlangt, fie wird gewöhnlich an die Erläuterung
des Textwortes angefügt, entweder in jedem
der Theile, oder (wie bei der genannten Verklärungspredigt
) als befonderer Theil. Homiletifch nicht völlig
correct, fteif und auf die Dauer ermüdend, aber troft-
reich für uns Andere, dafs auch Meiftern der Predigt der
Transitus und die Applicatio eine crux bedeutet. Durch
den Inhalt freilich wird der formelle Mangel ausgeglichen;
der Prediger fleht mitten in dem Gewoge Berliner Gemeindelebens
, er kennt die Verfuchungen und Gefährdungen
feiner Hörer, die auch feine eigenen find, und darum
ift er ein ficherer, bei allem Ernfte freundlicher Führer,
dem man gern fich anvertraut. — Die Sprache Dryan-
der's ift rein und fchön; in wohllautendem Ebenmafs,
ohne "leichförmig zu werden, fliefsen die Perioden dahin;
hie und da eingeflochtene kurze Erzählungen beleben
das Intereffe. Eine claffifche Ruhe breitet fich über die
Predigt aus, dem äfthetifchen Eindruck fehr günftig, nicht
fo dem ammum movere, das Steigerung des Affectes verlangt
. Die Form der Predigten ift meiftens analytifch;
doch findet fich auch die Gattung der f. g. Kunfthomilie
(ein fchönes Beifpiel S. 112 ff. über Mc. 3, 31—38)- Nicht
immer ift auf die Propolition Sorgfalt verwendet; neben
Predigten ohne Partition (z.B. S. 142. 151. 305) finden
fich folche ohne Thema (z. B. S. 103. 133. 319); eine Unbekümmertheit
gegen homiletifche Schulregeln, welche
eine Prärogative der Meifter, aber nur diefer, ift.

Marburg. E. Chr. A che Iis.

Stockmeyer, Antiftes Dr. Imman., Das Gebet des Herrn,

in neun Predigten ausgelegt, aus einer Reihenfolge
von Predigten über die Bergpredigt. Bafel, Reich,
1890. (114 S. 8.) M. 1. 30.

Eine Art von Abfchiedsgabe reicht uns der ehrwürdige
Antiftes von Bafel dar. Er hat fein Pfarramt
niedergelegt, nur die Profeffur an der Univerfität behalten
, und die Predigten über die Bergpredigt, von denen
die über das Gebet des Herrn ein Theil find, grüfsen
zum Abfchied die Gemeinde, welcher der treue Hirte in
reich gefegneter Amtsführung fo lange Jahrzehnte gedient
hat. Gut reformirt wollen die Predigten eine Auslegung
bieten; fo ift denn das Augenmerk auf die Auslegung
, nicht auf die formellen Erfordernifse der Predigt
zu richten. In einfachen, innigen, das Innenleben des
Chriften ftets in den Vordergrund ziehenden Betrachtungen
ergeht fich das Wort des Herrn Verf.'s; wie es
einem tiefgläubigen väterlichen Gemüthe entquillt, wird es
der pietätsvollen Hörerfchaft und einem ernftgefinnten
pietätsvollen Leferkreife eine reiche und gefegnete Gabe
fein. Allerdings tritt es u. E. nicht kräftig genug hervor
, dafs das Gebet des Herrn das Gebet der Kinder
Gottes ift, die in Unferem Vater im Himmel alles dankbar
als ihnen von Gottes Gnaden gefchenktes Eigenthum
preifen, was zu ihrer Seligkeit dient. Der Sinn der Kinder
Gottes thut fich darin kund, dafs ihnen die Heiligung
des Namens Gottes, das Kommen feines Reiches
und das Gefchehen feines Willens, ohne dafs fie an fich
felbft denken, über alles am Herzen liegt; es ift nicht
wohlgethan, in der Betrachtung der drei erften Bitten
den ,himmlifchen Egoismus' des Pietismus, dem die eigene
Seligkeit die Hauptfache ift, vorwiegend zum Worte
kommen zu laffen. Und wenn bei der zweite Bitte nach
der alten Schablone: Reich der Natur, der Gnade, der
Herrlichkeit verfahren wird, fo ift wohl nicht genügend
erwogen, dafs die freudige Gewifsheit, Gott habe auch
in der Natur alles in feinen Händen, um es den Zwecken
feines Reiches im Grofsen und Kleinen entfprechend zu
verwerthen, vornehmlich in unferen Tagen dem Chriften
erft erflehen kann auf Grund der Gewifsheit des Reiches
der Gnade und der Herrlichkeit. Dies, wenn man will,
apologetifche Moment, das auf genetifchem Wege in
r~orm des homiletifchen Beweifes geltend zu machen ift,
fcheint aufser Betracht geblieben zu fein.

Die Ausftattung des Büchleins ift würdig und dem
guten Inhalt entfprechend.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Spitta, Fnedr., Predigten. 2. Bd. Sonntagspredigten aus
der feftlichen Hälfte des Kirchenjahres. Strafsburg i/E.,
Schmidt, 1891. (VIII, 175 S. 8.) M. 2.40; geb. M. 3. 20!

Line eigenthümliche und in ihrer Eigenthümlichkeit
höchft werthvolle Predigtgabe. Name und Stellung des
Herrn Verf.'s, 1 owie die Bemerkung des Vorwortes; ,An-
dererfeits war es doch mein lebhafter Wunfeh, einen be-
fcheidenen Beitrag zu liefern zur Vertheidigung des Ideals
der Predigt, wie es vor meiner Seele fleht', geben der
Sammlung noch eine befondere Bedeutung. Das Bändchen
enthält 18 Predigten, je 4 aus der Adventszeit,
aus der Zeit nach Weihnachten, aus der Zeit der Vorbereitung
auf Oftern, aus der öfterlichen Freudenzeit, und
2 aus der Zeit zwifchen Himmelfahrt und Pfingften. Die
Texte find mit Ausnahme von zweien den altkirchlichen
und den im Rheinland und im Elfafs gebräuchlichen Peri-
kopen entnommen. Sämmtliche Predigten zeichnen fich
durch ihre Kürze aus; einige werden wohl nur etwa 20
Minuten gedauert haben. Die Sprache ift knapp, an-
fchaulich, mit wenigen Strichen malend, kraftvoll, doch
nie das Ebenmafs der Schönheit verletzend, ob auch hie
und da die bevorzugte Inverfion nicht erforderlich fcheint.
Doch nicht hierin liegt die werthvolle Eigenthümlichkeit.
Darin vielmehr befteht fie, dafs der Herr Verf. es mit
genialem Griff verfteht, den Herrn Chriftus ,uns vor Au,
gen zu malen als unter uns gekreuzigt', ihn als den uns
Angehörenden in unfere Gegenwart, in unfere Mitte zu
ftellen, und die Leute, mit denen er redet und handelt
als uns felbft und unfere Zeitgenoffen uns erkennen zu
laffen. In der Predigt von der Wirkung des göttlichen