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Ausgabe:

1891 Nr. 16

Spalte:

410-411

Autor/Hrsg.:

Schuch, Thilo

Titel/Untertitel:

Friede und Freude im Herrn. Predigten aus den J. 1887-1890 1891

Rezensent:

Everling, Otto

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409 Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. 16. 410

Weltanfchauung der Reformationszeit' uns erneuert wieder
gefchenkt hat, ebenfalls in zweiter Auflage erfchienen ift.
Immer wieder ift mir beim Lefen die Erinnerung jener
Stunde des Hörens vor die Seele getreten.

Denn das ift die Bedeutung diefes Buches, einem
Mann, der der Gegenwart feines Volkes froh und für
alles Grofse um ihn her begeiftert, ebenfo dem Materialismus
in Gefinnung und Wiffenfchaft feind, wie den
fittlichen Aufgaben des Lebens zugewandt und von der
Ueberzeugung durchdrungen ift, dafs der Sieg des Guten,
wie ihn die Kunft ahnend darftellt und die Religion
glaubt, trotz der entgegenftehenden Mächte Wirklichkeit
werden mufs, einem folchen Mann die wiffenlchaftlichc
Begründung feiner Ueberzeugung zu geben. An einzelnen
Stellen, wie dort, wo er über Rechts- und Staatsordnung
Ipricht (Aufl. 2, 276 ff. Aufl. 1, 260 ff.), hat der Lefer
die Empfindung, hier wird eben das, was wir haben, als
das menfchlicher Entwickelung vorfchwebende Ziel gedacht
. So ift der urfprüngliche Entwurf des Buches aus
jener marathonifchen Zeit geboren, wie fle uns nach dem
grofsen Erfolg unferer Siege für eine kleine Weile angebrochen
fchien.

Carriere's Buch läfst fleh etwas mit Lotze's ,Mikrokosmos
' vergleichen, nur dafs jener feinen Standpunkt
von Anfang an da nimmt, wo diefer zuletzt ankommt,
in der fittlichen Weltanfchauung. Aber darin find fich
beide gleich, dafs Ge von unten herauf, von der Welt-
beti achtung her, wie fle die Naturwiffenfchaft voranftellt,
zu den höchften ethifchen und religiöfen Ideen empor-
fteigen. Carriere z. B. bekennt fleh wefentlich zum Darwinismus
, fo entfehieden er deffen vermeintliche Folgerungen
ablehnt. ,Natur' ift fein erftes, ,Gott' ift sein
letztes Capitel, die dazwifchen liegenden führen in auf-
fteigender Reihenfolge von dem einen zum andern hinauf:
die Natur wird nicht durch den Materialismus, fondern
durch den ,Idealismus' richtiger den ,Realidealismus'
recht gedeutet. Durch diefen wird die Freiheit und
die flttliche Welt in ihrer Möglichkeit und ihrer That-
(ächlichkeit gewonnen, die im fittlichen Leben des Einzelnen
fleh darfteilt. So gewinnen wir die Ueberzeugung
von einem ,Emporgang des Lebens in Natur und
Gefchichte', dem auch das Leid und das Böfe in der
Welt dienftbar fein müffen. Ueber das letztere weift der
Unfterblichkeitsglaube hinauf, der dem Verfaffer gewifs
ift, obfehon er da, ,wo Hoffnung und Ahnung ftatt der
Erfahrung walten, der Phantafie ihr Recht gelaffcn und
darum lieber in Gedichten als in Profa fleh ausgefprochen
hat'. (Seite 369). So werden wir zur Kunft und höher
noch zur Religion emporgeführt, die das gottinnige Leben
der Liebe, der Glaube an die fittlichc Weltordnung ift.
Denn in Gott wird alles Welterkennen erft Wahrheit,
und in Gott findet das Leben der Welt feinen Ausgang
wie fein Ziel. ,Das Eine entfaltet fleh im All und das
All findet fleh wieder im Einen; im Wollen und Wiffen
wird das Wefenhafte durch die Freiheit Verwirklicht und
empfunden, das heifst: Gott ift die Liebe'.

Es kann bei einem Werk, das fleh längft feinen
ehrenvollen Platz in der Literatur erworben hat, nicht
die Abficht fein, viel von Einzelheiten zu reden. Eins fei
nicht unerwähnt. Wenn es dem Verfaffer nicht verargt
fein foll, dafs er auch bei Gegenftänden, die fich mit
denen der Theologie eng berühren, theologifcher Arbeiten
kaum gedenkt, er hätte der Theologie und be-
fonders der Dogmatik dann lieber gar nicht Erwähnung
thun follen, als fo gelegentlich und mit einer Geringfehätzung
, die fie auch vom philolophifchem Standpunkt
nicht verdient und die bei gemeinfamen Gegnern, wie
Straufsu.A., fich nicht findet (vgl. z. B.S. 409). Der Grund
diefes mangelnden Verfländnifses für Anfchauungen, die
eine gewaltige Gedankenarbeit von Jahrhunderten hinter
fich und auch in der Gegenwart viele in gegenfeitiger
Achtung von dem Verf. genannte Vertreter für fich haben,
dürfte in diefem felbft liegen, in feinem gewifs liebenswürdigen
und höchft idealen Optimismus, der aber den
Gegenfätzen des Leids und der Sünde nicht gerecht wird.
Wenn gefagt wird, dafs das Böfe Selbftbeftrafung ift,
und dafs ,denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Beften
dienen', was übrigens nicht Jefus, wie Verf. S. 438 meint,
fondern Paulus Rom. 8, 28 gefagt hat, fo bietet das
Leben dazu zuviel Widerfprüche und läfst zu lange auf
die Verwirklichung oft warten, als dafs wir nicht Ver-
mittelungen und neue Bürgfchaften fuchen müfsten, wie fle
eben der chriftliche Glaube giebt, der dadurch zur vollen
Religion im Sinne des Verf.'s, zum Glauben an die fittliche
Weltordnung wird. Von folchen Erwägungen aus würdigt
fchon Ed. von Hartmann das Chriftenthum als Religion
der Erlöfung'. Aber es ift mehr, es ift die Religion
der Verfönung, denn fchwerer als das Leid drückt
die Sünde. Wenn aber diefe nur als Anfangs- und
Durchgangsfladium für das Gute zu verliehen ift, fo wird
weder ihre gewaltige Macht nach aufsen, über Millionen,
die in ihrer Knechtfchaft flehen, noch nach innen im Be-
wufstfein der Schuld dabei genügend beachtet. So dankbar
wir dem Verf. für feine Begründung der ethifchen
Weltanfchauung find, die Verhöhnung ihrer Diffonanzen
ift bei ihm doch im Grunde nur eine äfthetifche.

Der Unterfchied der erften und zweiten Auflage befiehlt
zunächft darin, dafs die inzwifchen erfchienenen Arbeiten
der Gegner, neben den Franzofen und Engländern
Völfs, Theob. Ziegler u. a. eingehend berückfichtigt werden
und auf diefe Weife ,die deutfehe Ethik gegenüber
dem franzöfifchen Egoismus und dem englifchen Utilaris-
mus' gerechtfertigt wird, andererfeits auch die Arbeiten
verwandter Denker, wie Henri Drummond, Wundt u. a.
herbeigezogen werden. Dadurch veranlafst hat Verfaffer
auch die Grundlegung der Ethik felbft einer erneuten
Bearbeitung unterzogen. Indem er mit der Frage ,wie
find moralifche Urtheile möglich?' an die bekannte Frage
Kant's anknüpft, geht er über Kant hinaus und begnügt
fich nicht, die Freiheit als Poftulat der praktifchen Vernunft
hinzuftellen, fondern fucht ihre Möglichkeit und
Thatfächlichkeit in der inneren Erfahrung inmitten der
unter dem Caufalitätsgefetz flehenden Erfahrungswelt und
für diefe Welt zu ervveifen. ,Es ift kein Widerfpruch
gegen die Caufalität, dafs es Triebwefen giebt, welche
in der eigenen Natur den Drang zur Bewegung tragen und
dadurch fich felbft bewegen'. Durch diefen Trieb der
Selbftbewegung ift der Menfch im Stande, fich vom Na-
turwefen, als das er geboren ift, zur Selbftbeftimmung
und zur Selbflentwickelung, zur Freiheit, emporzuarbeiten.
Die dies behandelnden Abfchnitte, die einzigen z. Thl.
völlig umgearbeiteten, gehören zu demWerthvollften, was
über diefe Frage gefchrieben worden ift.

Leipzig Härtung.

Schuch, Diak. Thilo, Friede und Freude im Herrn. Predigten
aus den J. 1887—1890. Leipzig, Fr. Richter,
1890. (VIII, 155 S. 8.) M. 2.—; geb. M. 3.—

Der gut ausgeftattete, kleine Band ift Herrn Geh.
Kirchenrath Flicke ,zur Feier des 25jährigen Jubiläums
feiner Leipziger Wirkfamkeit' gewidmet. Dem Inhalt
feiner Widmung nach fcheint der fich als Schüler Fricke's
bezeichnende Verfaffer ein Bewufstfein davon zu haben,
dafs er keine homiletifche Leiftung erften Ranges drucken
liefs. Die vierzehn Predigten find offenbar mit grofsem
Fleifse gearbeitet, haben die gewöhnliche, mehr als genügende
Länge und zerfallen in eine recht ausgedehnte
Einleitung, in den Abdruck des Textes, in einen Ueber-
gang zur Thema-Aufftellung, die mit forgfältig ausgefeilten
, oft gereimten oder auch in rythmifchem Wortfall
dargebotenen Dispofitionsangaben verbunden ift und
mit einem kurzen Gebet abfchliefst, und endlich in die
eigentliche Thema-Ausführung, in welcher mit einer lür
i meinen Gefchmack ermüdenden Gründlichkeit die Dis-