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Ausgabe:

1891

Spalte:

208-209

Autor/Hrsg.:

Cremer, Hermann

Titel/Untertitel:

Die Fortdauer der Geistesgaben in der Kirche 1891

Rezensent:

Eck, Samuel

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Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. S.

208

der Menfch ohne Weiteres als vom Unendlichen im Gefühl
ergriffen vorfinde. Das Trachten nach einem höchften
Gute gehört zu den Grundelementen der Religion. Zum
Irrthum wird die Befolgung diefes Grundfatzes nur dann,
wenn man den Gedanken des höchften Gutes und den geifti-
gen Vorgang der Religion eudämoniftifch deutet, oder, was
dasfelbe ift, ihn aus dem thierifchen Leben ableitet.

An dem vortrefflichen Buche, das ich mit dankbarer
Freude begrüfse, habe ich folgendes auszufetzen. Erftens
hätte der Verf. die Thatfache, dafs die Mannigfaltigkeit
der religiöfen Vorftellungen in der heil. Schrift oft die
Zufammenfaffung in eine einheitliche Lehre unmöglich
macht, nicht nur hervorheben follen, wie er mehrfach
thut. Er hätte vielmehr jede Gelegenheit benutzen follen,
durch diefe überaus wichtige Thatfache das Wefen des
Glaubens und das Verhältnifs der religiöfen Vorftellungen
zum Glauben deutlich zu machen. Ohne folche Vorftellungen
kann es freilich Glauben nicht geben. Es ift auch
durchaus richtig, beftimmte Vorftellungen, deren man fich
als unentreifsbarer Elemente des Glaubens bevvufst ift,
als folche zu fixiren. Aber ebenfo wichtig ift es, die
Thatfache zu würdigen, dafs der Glaube nicht etwa in
einer logifchen Explication beftimmter Vorftellungen fein
Leben fortfetzt, fondern in der Erzeugung neuer Vorftellungen
, deren logifche Einheit mit den früheren nicht
zu erweifen ift, und in denen fich dennoch eine neue
Tiefe derfelben Offenbarung dem Geifte erfchliefst. Was i
die fyftematifche Theologie oft fo langweilig macht, ift |
doch gerade dies, dafs darin die Welt des Glaubens wie j
etwas Fertiges erfcheint. Das ift fie in Wahrheit ficher-
lich nicht, wenn fonft der Glaube ein Verkehr mit dem ;
ewigen Gott und eine Kraft ewigen Lebens ift. Den j
Laien aber ift es doppelt nöthig, dafs ihnen dies an der j
Hand des N. T.'s deutlich gemacht wird. Denn fie pflegen
in diefer Beziehung unter dem fchädlichen Einflufs eines
Unterrichts fchwer zu leiden, der aus naheliegenden Gründen
den Eindruck erweckt, es handle üch um die Einführung
in einen feften Kreis unwandelbarer Vorftellungen. Zweitens
hat der Verf. in dem Beftreben, das Chriftenthum
zu zeigen und nicht das Gefüge der fyftematifchen Theologie
, bisweilen unterlaffen, den fyftematifchen Zufammen-
hang hervorzuheben, wo dies gerade der Verdeutlichung
der Sache gedient hätte. Das gilt, wie mir fcheint, ins- |
befondere von dem fonft fehr reichhaltigen Cap. XV.
Es genügt für den Zweck des Verf.'s keineswegs, ,die
wefentlichen chriftlichen Tugenden kurz aufzuzählen und '
zu fchildern', denn diefe Zerfplitterung giebt eben kein
Bild von der Wirklichkeit. Der Satz auf S. 252 ,Es giebt
keine wirkliche Pflicht, der nicht auch eine Tugend ent-
fpräche' ift wohl nicht richtig. Denn keine Pflicht kann
wirklich erfüllt werden, ohne dafs alle Tugenden dabei
mitwirkten. Drittens meine ich, dafs der Verf. nicht
feft genug auf allen Punkten die Gemeinfchaft mit der
katholifchen Art des Glaubens aufgehoben hat. In den
Ausführungen über die Auferftehung Jefu in § 34 unter-
läfst der Verf. nicht, hervorzuheben, dafs die Berichte
von den Erfcheinungen des Auferftandenen einen Zweifelnden
nicht überzeugen können. Damit giebt der
Verf. zu, dafs der Glaube eines Chriften an die Auferftehung
Jefu nicht als fides historica entftehen könne.
Jener Glaube bedeutet die Zuverficht, dafs Jefus den Tod
überwunden hat, indem er nach feinem Tode den Seinen
bezeugt hat, dafs er lebe und mit ihnen in Verbindung
bleibe. Alfo diefe Zuverficht kann in keinem Menfchen
durch die Berichte deffen, was die erften Gläubigen ge-
fehen haben, erzeugt werden. Wie kann fie dann aber
überhaupt in uns entftehen? Wenn darauf keine Antwort
gegeben wird, fo ift es faft unvermeidlich, dafs diejenigen
, die gern glauben möchten, wieder auf die katho-
lifche Art des Glaubens zurückkommen und fich ge-
waltfam etwas aneignen, was noch nicht ihr inneres
Eigenthum fein kann. Wir müffen deshalb zu verliehen
fuchen, dafs jene Zuverficht zwar nicht ein Werk der

fides historica ift, wohl aber eine Entwicklungsftufe des
Glaubens, zu welcher der bereits Gläubige auf dem Wege
des Glaubens gelangen kann. Es mufs gefagt werden,
dafs chriftlicher Glaube vorhanden fein kann und mufs,
ohne bereits auf jener Stufe zu flehen. Er beruht nicht
auf der Thatfache, dafs damals Jünger den Auferftandenen
gefehen haben. Sondern er beruht darauf, dafs
das innere Leben Jefu ein uns fafsbares Element der
gefchichtlichen Wirklichkeit ift, in der wir flehen. Wenn
unfer Glaube aufrichtige Ueberzeugung feinfoll, fo kommt
es doch wohl darauf an, dafs feine Lebenswurzeln fich
immer tiefer in dasjenige einfenken, was für uns felbft
eine unleugbare Thatfache ift und eine fo inhaltvolle
Thatfache, dafs wir in ihr den Gott finden, der uns er-
löfen will. Es ift wahr, was wäre die chriftliche Ge-
! meinde, wenn nicht in ihrer Mitte Gläubige wären, die
von der Auferftehung Jefu aufrichtig überzeugt find! Ihr
i Zeugnifs foll gewifs nicht verdummen. Sie bilden in
| diefem ihren Zeugnifs eine Autorität für die Andern,
welche mahnt und erzieht. Aber das ift unmöglich, dafs
Andere durch diefes Zeugnifs oder auch durch hifto-
rifche Beweife gewaltfam auf diefelbe Stufe des Glaubens
erhoben werden. Sie können dazu nur kommen, wenn
fie treu bleiben, d. h. fich aufrichtig an das halten, worin
ihnen felbft Jefus als der Erlöfer fafsbar ift, in der Ausprägung
feines inneren Lebens im N. T. und in der
lebendigen Gemeinde. Nicht der Glaube, der viel glaubt,
ift das Senfkorn, das Wundermacht verleiht, fondern der
Glaube, der wahrhaftig glaubt. Der Verf. ift darin
ficherlich mit mir einverftanden. Um fo mehr bedauere
ich, dafs jene wichtige Erkenntnifs in feinem Buche nicht
völlig klar geftellt ift und auf feine Ausführungen nicht
den Einflufs geübt hat, der ihr gebührt. Seine forgfältige
Arbeit, zu zeigen, wie der reife Glaube denkt, ift deshalb
gewifs nicht verloren. Aber fie würde noch wirk-
famer fein, wenn darin der Glaube, wie er anfängt und
wächft ebenfo forgfältig und rückhaltlos dargeftellt wäre.

Marburg. W. Herrmann.

Cremer, D. Herrn., Die Fortdauer der Geistesgaben in der
Kirche. Gütersloh, Bertelsmann, 1890. (32 S. 8.) M.—.40.

,Wir verzäunen das Evangelium von der freien Gnade
Gottes mit taufend Zäunen. Wir wiffen nur zu gut, dafs
mit Werken nichts erreicht wird, ftellen aber andere Bedingungen
, ehe jemand foll glauben dürfen'. Ich fürchte
fehr, dafs der Verf. bei Vielen den Eindruck hervorrufen
wird, gerade im Sinne diefer berechtigten Klage zu verfahren
. In lebhaftefter Weife beftreitet er die Noth-
wendigkeit von Zeichen und Wundern für unfere Zeit.
Sie können uns nicht mehr helfen. Er weifs auch von
anderen Gaben desGeiftes, deren wir bedürfen. Trotzdem
,müffen (vom Verf. gefperrt) wir den Satz unferer
Väter zugeftehen, dafs jene Erfcheinungen — Zungenreden
, Weisfagen, Krankenheilen — ein fonderliches
Privilegium der Urkirche feien'. Unter den Vätern verlieht
der Verf. die Reformatoren. Ein Blick auf Köftlin,
Luther's Theologie (1 .Aufl.) II, S. 349 dürfte ihn belehren,
dafs er in doppelter Beziehung von Luther abweicht.
Denn diefer hat überall Wunder gefehen, auch wo fehr
gewöhnliche naturgefetzliche Erfcheinungen vorlagen —
man denke nur an feinen berühmten Coburger Brief. Er
hat andererfeits die Befcheidenheit nicht geübt, .wirkliche'
Wunder irgend einem bevorzugten Gefchlecht von Chriften
vorzubehalten. In beiden Fällen hat er offenbar von
diefer reichs- oder heilsgefchichtlichen Bedeutung wunderbegabter
Epochen nichts gewufst. Scheidet man aber
zwichen naturgefetzlichem Gefchehen, auch wo diefes
dem Gläubigen als Gebetserhörung, als Zeugnifs der
Fürforge des lebendigen Gottes, zum Bewufstfein kommt,
und Wundern, diefem .vereinzelten Aufleuchten der
Sonne einer andern Welt, die alsbald ihre Strahlen wieder
verbirgt', fo hat man in jenen Erfcheinungen der apofto-