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Ausgabe:

1891 Nr. 7

Spalte:

183-185

Autor/Hrsg.:

Marschall, Adph.

Titel/Untertitel:

Religiöse Weltanschauung. Gedanken über Glauben, Religion und KIrche 1891

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. 7.

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welche auf eine Aufklärung darüber, warum wir Chrifti
fittliches Ideal für wahr halten, hinleitet. Ich wünfchte,
er hätte diefe Linie verfolgt und uns deutlich gemacht,
inwiefern nur Chrifti fittliches Gefetz uns dazu verhelfen
kann, dafs wir in der Stellung, in der wir als Menfchen
nun einmal find, die Würde fittlicher Perfönlichkeiten gewinnen
. Vielleicht wäre dann weiter auch ein Grund
dafür erkennbar geworden, dafs wir mit freudiger Ueber-
zeugung Chrifti Verkündigung von einer freien unbedingten
Liebe Gottes annehmen. Denn nur im Lichte einer
Erkenntnifs unteres fittlichen Ziels vermögen wir auch die
Wirklichkeit der göttlichen Liebe zu (chauen, welche
in Jefu Chrifto erfchienen ift. Freilich wird die uns Sünder
fittlich aufrichtende und erziehende Wirkung Chrifti nur
dann als eine Wirklichkeit göttlicher Liebe verftanden
werden können, wenn wir auf das fittliche Ziel, zu welchem
uns Chriftus führen will, den vom Verfaffer verpönten Begriff
des höchften fittlichen Gutes anwenden. — Doch
ich mufs weiteren Widerfpruch gegen einzelne Anflehten
des Verf.'s, befonders auch gegen einzelne kritifche
Urtheile über Kant zurückhalten. Nur eines noch! Der
Verf. rechnet es Kant als ,ein ungerechtes Urtheil über
Chriftus' an, dafs nach ihm ,Chriftus und andere theolo-
gifche Moraliften' in eine eudämoniftifche Begründung
der Sittlichkeit verfallen. Die Ungerechtigkeit ift hier
auf Seiten des Verf.'s: Kant hat dadurch, dafs er Chrifti
Moral (fei's mit Recht oder mit Unrecht) in autonomem
Sinn zu deuten bemüht war, jenes Urtheil von Chrifto
fernzuhalten geflieht. An der betr. Stelle nennt er
nicht ,Chriftus', fondern ,Crufius und andere theologifche
Moraliften'. — Doch es wäre angefichts der energifchen
Geiftesarbeit, die in dem Büchlein fleckt, geradezu Be-
fchränktheit, an ein folches Verfehen fich zu heften.

Stuttgart. Max R e i fch 1 e.

Marschall, Wirkl. Geh.-R. vorm. Minift.-Präf. Adph. Frhr.
v., Religiöse Weltanschauung. Gedanken über Glauben,
Religion u. Kirche. 3. vervollftänd. Aufl. der 1883 er-
fchienenen Religiöfen Weltanfchauung eines hochbetagten
Laien. Berlin, Reuther, 1891. (XII, 126 S. 8.)
M. 1. 50; geb. M. 2. —

Das hübfeh ausgeftattete Büchlein enthält fiebzig
Betrachtungen; fie find an lofem Faden aufgereiht; jede
ift mit befonderer Ueberfchrift verfehen. Ihr Umfang
ift fehr verfchieden (8 Zeilen bis 4 Seiten), auch ihre
Form nicht ganz gleichmäfsig: hübfehe anfprechende
Gedanken und fchlagende Bilder wechfeln mit umftänd-
lichen, etwas fchwerfällig ftilifirten Gedankenentwicklungen
. Das Nachdenken des Verf.'s befchäftigt fich mit
dem Wefen und den Quellen des chriftlichen Glaubens
(natürliche Religion, Offenbarung, Gewiffen, Bibel), mit
dem Werden, dem Fortfehritt und Ziel des chriftlichen
Glaubenslebens, mit Gott und Chriftus, mit dem Verhält-
nifs himmlifcher Wahrheit und wechfelnder irdifcher Dar-
ftellungen diefer einen Wahrheit, mit der Aufgabe und
dem Ideal der Kirche. Der Grundton in den Meditationen
des Verf.'s ift, dafs nur ein thatkräftiger lebendiger
Chriftenglaube d. h. hingebende Liebe zu Gott
und dem Nächften, glaubensfelte Ueberzeugung von
der Geifteseinheit Gottes und Chrifti, aufrichtiges Be-
ftreben zu denken, zu fühlen und zu thun, wie Chriftus
gelehrt und gethan, demüthige Reue und Bufse, Vertrauen
auf Gottes entfündigende Gnade, unabläffiges Gebet
um die Kraft feines heiligen Geiftes uns unferer göttlichen
Beftimmung entgegenführen könne. Sehnend Schaut
das Auge des Verf.'s aus nach einer Wiedervereinigung
der getrennten Chriftenheit in der Rückkehr zur einfachen
klaren Lehre Jefu, nach einem Zuftand nicht der Einförmigkeit
, fondern der Einigkeit im Geilte.

Ein theologifcher Beurtheiler darf zu allererft feine
Freude darüber ausfprechen, dafs ,ein hochbetagter Laie',

ein Mann, der feine Arbeit gethan und feine Ehre dafür
geerntet hat, fich gedrungen fühlte, von dem Glauben,
der ,gewifs unfer ficherftes, beftes und auch fr u Mitbringe
ndft es Eigenthum' ift, fich felbft Rechenfchaft
zu geben und Zeugnifs davon abzulegen, dafs nur der
wahre chriftliche Glaube den Menfchen zu einer in fich
harmonifchen, und ewiger Vollendung entgegenreifenden
Perfönlichkeit bilden kann. Der Verf. ilt, wie fchon aus
den kurzen Mittheilungen über den Inhalt hervorgeht, nicht
daran hängen geblieben, über einzelne Glaubensfätze apo-
logetifche oder kritifche Bemerkungen zu machen, fondern
er hat den chriftlichen Glauben als eine unfer Denken
, Fühlen und Wollen beftimmende Lebensrichtung,
deren Wahrheit nach Joh. 7, 17 praktifch erprobt fein
will, zu verliehen vermocht. Aus feiner Auffaffung von
dem chriftlichen Glauben fchöpft er auch die Freiheit,
die manigfaltigen kirchlichen Anfchauungen und Formen
als verfinnlichende und bildliche Darftellungen zu begreifen,
die gefchichtlich nothwendig waren; die Geduld, welche
vor jeder gewaltfamen Eilfertigkeit in der Befeitigung
veralteter Formen fich hütet und auf das Bedürfnifs der
Brüder liebevolle Rückficht zu nehmen bereit ift; zugleich
aber auch die Hoffnung, dafs dereinft die getrennten
Confeffionen zu einer Einheit im Geilte Chrifti gelangen
und dafs dann auch die noch bleibenden Verfchieden-
heiten menfehlicher Anfchauungsweifen keinen Gegen-
fatz mehr zu Stande bringen und die Geifteseinheit nicht
mehr ftören können.

So wohlthuend nun diefe Weitherzigkeit wirkt und fo
gerne ich bereit bin, anzuerkennen, dafs etwas von chrift-
licher Geiftesfreiheit in ihr lebt, kann ich doch mein
Urtheil nicht zurückhalten, dafs die Milde des Verfaffers
nicht frei ift von Verfchwommenheit. Diefe aber hat ihren
Grund darin, dafs der chriftliche Glaube, fo richtig er als
ein Leben im Geilte Chrifti verftanden wird, doch nicht
mit voller Schärfe erfafst ift. Der Verf. legt grofses
Gewicht auf die Uebereinftimmung des chriftlichen Glaubens
,mit dem natürlichen von Gott geborenen kindlichen
Gefühle und mit dem Glauben, der auch unferer Vernunft
unentbehrlich ift' (S. 80). Ja er findet, dafs Chriftus
uns felbft darauf hinweift, indem er ,uns auffordert zu
erkennen, dafs das Reich Gottes inwendig in uns fei
(Luc. 17, 21)'. Darin ift ja der richtige Gedanke enthalten,
dafs wir in der That eine Vollendung unferes persönlichen
d. h. fittlichen Lebens nur gewinnen können, wenn
wir von der Wirklichkeit göttlicher Liebe, welche in Chrifto
uns gegenübertritt, uns ergreifen laffen. Aber bei dem
Verf. gewinnt es den Anfchein, dafs die Wirklichkeit
Gottes fchon durch ,die Gottesidee, die gottesfürchtige
Empfindung', die ,mit dem Menfchen geboren ift', für
die Vernunft feftftehe, und dafs Chriftus uns nur anzuregen
braucht, immer mehr in die in uns lebende Gottesempfindung
uns zu vertiefen und fo es immer klarer und
wirkfamer zu empfinden, dafs Gottes Reich in unferem
Innern ift. So wird auch die Wiedergeburt des Menfchen
zu einer ,felbftthätigen Ifntwicklung der in ihm liegenden
fittlichen, intellektuellen und weltüberwindenden Kraft';
und die göttliche Gnade befteht darin, dafs der .Schöpfer
. . . den ernftlichen, wenn auch nicht ununterbrochen und
überall erfolgreich beftandenen Kampf für die That
nimmt und der That in feinen Folgen Sogar gleichstellen
I kann' (S. 31). Diefer Mangel an Schärfe in der Auffaffung
des chriftlichen Glaubens zieht es nach fich, dafs auch
die Weitherzigkeit des Verf.'s gegenüber den verschiedenen
Ausprägungen der chriftlichen Wahrheit den kräftigen
Proteft gegen die Verkehrungen derfelben vermiffen
läfst, welche an der Trennung der Confeffionen doch
eine Hauptfchuld tragen. — Dafs es auch der Schriftverwendung
des Verf.'s an Schärfe fehlt, zeigt fchon die
angeführte Benützung von Luc. 17, 21; in ähnlicher Weife
verfteht er den ?>d«oc in Matth. 22, 40 von dem ,Gefetz,
das der Schöpfer dem Gewiffen eines jeden feiner Kinder
anvertraut hat'; Joh. 4. 24 überfetzt er: ,Gott ift ein Geift'