Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1890

Spalte:

130-131

Autor/Hrsg.:

Harms, Friedr.

Titel/Untertitel:

Begriff, Formen und Grundlegung der Rechtsphilosophie 1890

Rezensent:

Ehrhardt, Eugen

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

(2t)

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 5.

fchichtlichen VVeltanficht feit Kant. Diefe geiftvolle
Ueberficht über die Gefchichte der Ethik wird auch den
anfprechen, der mit diefer, vielleicht etwas fummarifchen,
Kubricirung eines bedeutenden gefchichtlichen Stoffes
nicht übereinftimmt.

Es folgt nun das .Syftem der Ethik' in zwei Theilen:
I- die llttliche Erkenntnis als Wiffenfchaft, 2. die ethifche
Weltanlicht. In welcher Weife ift die Ethik als Wiffenfchaft
möglich? In höchft anziehender Weife widerlegt
der Verf. den ethifchen Senfualismus, den cthifchen Empirismus
— er hätte vielleicht beffer gefagt Traditionalis-
mus —, und die Ethik als Conflruction der Gefchichte, und
kommt zu dem Schlufsergebnifs: ,Die Ethik mufs lieh
darauf gründen, dafs es ein Allgemeines giebt', fie ift
die Wiffenfchaft vom Idealen, im Gegenfatz zur Phyfik,
der Wiffenfchaft vom Realen. Man kann fich nür freuen
darüber, wie klar Verf., fo vielen modernen Verfuchen
gegenüber, jeder blofs desriptiven Wiffenfchaft von den
Sitten das Recht abfpricht, lieh eine Ethik zu nennen.

DerAbfchnitt von der fittlichen Welt handelt zuerft
von der Freiheit. Die Erörterungen des Verf.'s wird Jedermann
mit Intereffe lefen, wenn ihm auch nicht Jedermann
darin Recht geben wird, dafs die Widerlegung des
erkenntnifstheoretifchen Senfualismus zugleich einen Beweis
der Freiheit enthalte.

In dem Abfchnitt von der littlichen Welt betrachtet
Verf. zuerft ihre Formen, fodann ihre Objecte, endlich
ihre Subjecte. Die Formen der fittlichen Welt find Tugenden
, Pflichten und Güter. Es ift eigenthümlich, dafs die
Lehre von den Gütern der von den Pflichten und Tugenden
nachfolgt. Zweck des ethifchen Wirkens ift ja die
Realifirung der ethifchen Güter, und von diefer aus find
Tugenden und Pflichten zu beftimmen. Der etwas abftracte
Charakter der Erörterungen über diefe beiden Formen
der fittlichen Welt ift jener Reihenfolge zuzufchreiben.
Als höchftes Gut betrachtet Verf. die Einigung der Natur
mit dem freien Willen; die Menfchheit foll fein und werden
das Bild des Abfoluten, des Vollkommenen, welches Gott
ift. Einen beftimmten Inhalt jenes Begriffs der Einigung von
Natur und Willen giebt er nicht Weder handle es lieh um
eine Einigung auf dem Gebiet der blofsen Erkenntnifs, noch
vermöge der Begriff der Liebe das höchfte Gut erfchöpfend
zu bezeichnen. Objecte der fittlichen Welt find die fittlichen
Lebensformen. Verf. unterfcheidet deren fünf: Das wirth-
fchaftliche, das wiffenchaftliche, das kunftlerifche, das
religiöfe Leben und das Gemeinfchaftsleben in Familien,
Staat und menfehlicher Gefellfchaft, welche Collectivwefen
dann andererfeits wieder als Subjecte der fittlichen Welt
in Betracht kommen. Die 2. 3. u. 4., der fittlichen Lebensformen
werden zufammengefafst als innere Güter der
immanenten Seelenthätigkeit. Unter der Rubrik: ,Das
eigenthümliche Bewufstfein' kommt hier neben der Kunft
auch das religiöfe Leben zur Befprechung. Die Religion
wird ausfchliefslich unter dem Gefichtspunkt eines zu verwirklichenden
Gutes betrachtet, ,fie befteht, heifst es, in
Gefühlen der Harmonie und Disharmonie'. Von der erziehenden
und gemeinfchaftbildenden Macht der Religion
ift keine Rede. Kirche und kirchliches Leben werden
gar nicht in Betracht gezogen. Diefe Lücke hat ihren
Grund in der einfeitigen Auffaffung der Religion als Gefühlsfache
. Es wäre erforderlich gewefen, das Verhältnifs
vonReligion undSittlichkeitprincipiellzuerörtern, ltatteine
Macht, welche, wie die Religion, Anfpruch daraufmacht,
nicht nur dem Menfchen einen Genufs zubieten, fondern den
fittlichen Procefs in ihrer Weife anzuregen und zuleiten, und
die fittlichen Principien, von denen Verf. felbft ausgeht in
ihrer Weife zu erkennen, nur einfach neben die Kunft zu
ftellen. Verf. Hellt fich auf den Standpunkt einer rein philo-
fophifchenGotteserkenntnifs, von einem religiöfen Moment
in derfelben abftrahirt er völlig, ebenfowenig kennt er ein
rHigiös beftimmtes Wollen. Seine Ethik ifi ganz ohne Herzuziehung
des fpeeififeh religiöfen Elementes conftruirt, darum
findet die Religion keinen angemeffenen Platz in derfelben.

Es foll ja nicht gefagt werden, dafs alle ethifchen Vorgänge
von dem Subjecte derfelben als religiöfe empfunden werden
müffen, allein eine auf dem Gottesbegriff gegründete Ethik
mufs doch die Verkettung des fittlichen und religiöfen
Lebens aufzeigen.

Von dem Böfen wird in dem Abfchnitt von der
Tugend gehandelt. Dasfelbe wird aufgefafst als freiwillige
Störung des Seelenlebens. Es ift als Thatfache
hinzunehmen, eine fpeculative Erklärung desfelben gilt
Verf. als ein Widerfpruch. Dafs das Böfe wider die
von Gott gefefzten Endzwecke geht, kommt ihm nicht
in Betracht. S. 128 ift zwar auch von einer religiöfen
Betrachtung der Pflichten die Rede, fomit mufs es auch
eine religiöfe Betrachtung der in den Pflichten vorausgefetzten
Gebote und deren Uebertretung geben, allein
diele wird nicht weiter verwerthet. Somit erfcheint das
Böfe zunächft nur als eine gewollte Seelenkrankheit, dte
allerdings ihre fchlimmen Folgen nach aufsen hat: Das
Böfe befteht im getheilten Willen, heifst es. ,Die Einheit
und Harmonie wird durch das Böfe Zwietracht und Disharmonie
, woraus die innern Vorwürfe kommen". Es
zeigt lieh hier, dafs der Gottesbegriff für Harms' Ethik
mehr Ausgangs- und Stützpunkt ift, als dafs er fie in
allen ihren Theilen beherrfchte.

Der Abfchnitt über Staat und Familie u. f. w. ift reich
an intereffanten Bemerkungen.

Als Frucht eines perfönlichen Denkens von durchgebildeter
Selbftändigkeit bietet Harms' Ethik eine kräftige
Anregung zum Nachdenken, mehr als eine ausführliche
Belehrung über die fo mannigfachen Gebiete des ethifchen
Forfchens. Die beftimmte Behauptung des idealen Charakters
der Ethik und ihre klare Gründung auf den Gottesbegriff
werden dies Werk namentlich auch dem Theologen
werthvoll machen.

Bifchweiler i.E. Eugen Ehrhardt.

Harms, weil. Prof. Dr. Friedr., Begriff, Formen und Grundlegung
der Rechtsphilosophie. Aus dem hanfdehriftlichen
Nachlaffe des Verfaffers hrsg. von Prof. Dr. Heinr.
Wiefe. Leipzig, Th. Grieben's Verl., 1889. (VIII, 151
S. gr. 8.) M. 3. -

Harms'( Rechtshilofophie hängt auf das engfte mit
feiner Ethik zufammen. Als Aufgabe der Rechtsphilo-
fophie bezeichnet er: in den Normen und Inftituten des
Rechts der verfchiedenen Völker und Zeiten das Allgemeine
, den gleichen Begriff des Rechts, aufzuweifen,
und feine Begründung in der Weltanficht zu gewinnen
(S. 23 und 24).

Diefe Definition deutet auf ein induetives und ein
deduetives Verfahren hin: Verf. fcheint feine Unter-
fuchungen auf eine Ueberficht über die politiven Rechtsnormen
gründen zu wollen, um dann dem fo gewonnenen
Rechtsbegriff feinen Platz in dem Ganzen der fittlichen
Weltanfchauung anzuweifen. Allein in Wahrheit verfährt
er doch faft ausfchliefslich deduetiv und fucht durch ab-
ftractes Raifonnement das Wefen des Rechts feftzuftellen.

Die Auffaffung des Rechts als unmittelbaren Ausdrucks
des göttlichen Willens wird zurückgewiefen. Verf.
drückt fich fo aus: Das Recht beruht zwarauf dem Wefen,
nicht aber auf dem Willen Gottes (S. 79). Vielleicht
würde er fich verftändlicher gemacht haben, wenn er gefagt
hätte, dafs das Recht zwar ein Moment in der gottgewollten
Entwickelung der Menfchheit ift, zunächft aber
doch nur einProduct menfehlichen Denkens und Wollens,
eine conventioneile Feftfetzung der Willens- und Machts-
lphären der verfchiedenen Glieder einer Gemeinfchaft,
hervorgegangen einerfeits aus den focialen und wirth-
fchaftlichen Verhältnifsen, andererfeits aus den fittlichen
und religiöfen Ideen, die jeweilige Geltung haben.

Dafs das Recht dem Gebiet des fittlichen Lebens
angehört, und nicht aus blofsen Naturtrieben hervorgeht.