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Ausgabe:

1890 Nr. 5

Spalte:

128-130

Autor/Hrsg.:

Harms, Friedr.

Titel/Untertitel:

Ethik 1890

Rezensent:

Ehrhardt, Eugen

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Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 5.

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durch Offenbarung. Nun wird man ja bei einiger Nüchternheit
diefe Regelung nicht in's Einzelne hinein der
Bibel entnehmen. Aber man wird gewiffe ethifche Forderungen
der heil. Schrift mit focialen Ueberlieferungen
verknüpfen, unter deren Bann wir im Grofsen und Ganzen
flehen. Unvermerkt überträgt man dann die Heiligkeit,
welche jenen zufleht, auch auf diefe. Die faft unausbleibliche
Folge ifl, dafs man fich gegen die Anerkennung
ebenfo der qualitativen Umwälzung in den Wirthfchafts-
verhältnifsen der Neuzeit wie des durch fie hervorgerufenen
geiftigen Elends verfchliefst und dann mit
allerhand kleinen Hülfsmitteln fortzukommen hofft, während
doch der erfte Anfang wirklicher Hülfe in dem
Eingeftändnifs unferer augenblicklichen Rath- und Hülf-
lofigkeit befleht.

Zur Begründung des Vorflehenden nur folgende
Einzelheiten. Die Berechtigung des Privateigenthums
wird u. A. auf den unentbehrlichen Belitz von Arbeitswerkzeug
geftützt (une petite propriete sans forme d'in-
struments de travait). Diefe Begründung ifl finnlos gegenüber
der Mafchinenarbeit der Grofsinduftrie. Die ftatiftifch
feftftehende fletige Lohnfteigerung der letzten 50—60 J.
darf nicht als eine wirkliche Befferung in der Lage der
Arbeiterbevölkerung betrachtet werden. Denn es ifl
einfach unmenfchlich, bei der parallelen Steigerung der
Lebensbedingungen, der leichten Zugänglichkeit, ja aufdringlichen
Anpreifung allerlnduflrieerzeugnifse das Leben
der Arbeiter auf den Stand von anno 1830 zurückfchrauben
zu wollen, andernfalls aber über mafslofe Begehrlichkeit
und Bequemlichkeit bei denfelben Klage zu führen.
Sparcaffen, Confumvereine u. f. w. in allen Ehren, auch
Dank vor Allem all den Arbeitgebern, welche ein warmes
Herz für ihre Arbeiter beweifen. Aber der Kern der
Sache wird durch all diefe einzelnen Einrichtungen und
Wohlthaten kaum berührt, die Frage nämlich: wie foll
es möglich werden, diefe Erniedrigung aufzuheben, zu
welcher wir die Maffe der heutigen Menfchheit verurtheilt
fehen, oder: wie foll diefer offenkundige Widerfpruch
gelöft werden, dafs wir in der Beherrfchung der Natur
beifpiellofe Errungenschaften zu verzeichnen haben, aber
jeden neuen Fund mit einer weitergehenden, buchftäb-
lichen Feffelung menfchlicher Geifteskraft an die Natur,
die Reibung und Bewegung ihrer Elemente, bezahlen
müffen. Diefe Fragen find dem Verf. nicht unbekannt.
Aber das faft ftereotype Verfahren mufs endlich einmal
aufhören, welches diefe Dinge im Eingang, als Reizmittel,
fcheint's, für die Lefer, berührt, um fie hinterher ganz
zu vergeffen, als ob es fich doch nur darum handelte,
den Arbeiter fatt zu machen, ihm allenfalls neben
feiner Arbeit allerhand fachliche und perfönliche Wohlthaten
zu bereiten, übrigens aber die Mafchine ihr Räderwerk
forttreiben zu laffen wie bisher. Es handelt fich
um mehr. Wie kann dem Mafchinenarbeiter feine mecha-
nifche Thätigkeit vergeiftigt und demgemäfs erft wieder
lieb gemacht werden? Wer diefer Frage mit vollem
Ernft in's Angefleht fchaut, der wird den leichten Muth
heutiger focialer Welterlöfer fahren laffen, ihm werden
Kopf und Herz fchwer werden, und feine Erörterungen
werden wohl nicht viel weniger peffimiftifch oder fkeptifch
ausklingen, als das zweite Capitel des achten Buches von
Lotze's Mikrokosmus. Soll es dabei bleiben, dafs wir
der Materie diefe fchrankenlofe Herrfchaft über die
Arbeit Unzähliger einräumen müffen, wo nehmen wir
die Hoffnung her, dafs fie die wenigen übrigbleibenden
Zeittheile ihres Lebens unberührt laffen wird?

Zum Schlufs noch eine Kleinigkeit. Les traits d'une
civilisation riche et raffinie, vi als impie et egoiste, les an-
cicns Grecs nous les ont retraces dans la figurc de Pro-
methie. Diefe Deutung der Prometheusfage ift im vorigen
Jahre in Mainz auch von W. Baur vorgetragen worden.
Damit fie nicht durch fletige Wiederholung die Fertigkeit
einer irrigen Ueberlieferung erlange, erlaube ich mir
auf die Correctur hinzuweifen, die Seil an derfelben vorgenommen
hat. S. Monatsblätter f. inn. Mi ff. 1880. S. 195
(Baur), S. 243 (Seil).

Rumpenheim. S. Eck.

Harms, weil. Prof. Dr. Friedr., Ethik. Aus dem hand-
fchriftlichen Nachlaffe des Verfaffers hrsg. von Pfr.
Dr. Heinr. Wiefe. Leipzig, Th. Grieben's Verl., 1889.
(XI, 283 S. gr. 8.) M. 6. —

Eine bedeutende Gedankenarbeit ift in diefem Buch
in gedrängter, vielleicht allzu gedrängter, Kürze zufammen-
gefafst. Der erfte Theil handelt von dem Begriff der
Ethik. Harms unterfcheidet bekanntlich vier Haupttheile
der Philofophie: Die Metaphyfik, die den Zufammenhang
der Dinge, die Logik, die den Zufammenhang des Wiffens
von den Dingen darfteilt, und, inhaltlich beftimmt von
jener, formell von diefer, die Phyfik, d. h. die philofo-
phifche Wiffenfchaft — im Gegenfatz zur empirifchen —
von der Natur, und die Ethik, die er definirt einerfeits als
Philofophie der gefchichtlichen Wiffenfchaften, anderer-
feits als die Wiffenfchaft von den abfoluten Zwecken des
Willens. Der Nachweis des Zufammenhangs diefer beiden
Definitionen führt, u. E., zu keinem völlig befriedigenden
Refultat. S. 26 heifst es: ,Die fittliche Welt umfafst das
Leben und Sein der Dinge, fofern es beftimmt ift durch
den Findzweck, die phyfifche Welt, fofern es durch feinen
erften Anfang und durch äufsere Urfachen beftimmt ift'.
Allein Harms nimmt ja doch auch in der Natur Endzwecke
als wirkend an, fomit mufs fich auch feine Naturphilo-
fophie mit folchen befchäftigen. Wollte er die Erörterung
der Endzwecke überhaupt der Ethik zuweifen,
fo müfste diefelbe mehr fein, als die Wiffenfchaft von
den abfoluten Zwecken des Willens. Es ergiebt fich
auch aus dem Folgenden, dafs die Ethik nurvondendurch
den menfehlichen Willen zu verwirklichenden Endzwecken
handeln foll: ihr Gebiet ift das des Sollens. Diefe mehr
nur formelle Unebenheit der Darfteilung wird Niemanden
verhindern, anzuerkennen, dafs hier eine Auffaffung der
Ethik vorliegt, die weit genug ift, um alle, einer ethifchen
Betrachtung unterliegenden Fragen in Betracht zu ziehen,
und eng genug, um nicht in das Gebiet der Metaphyfik
hineinzugerathen. Plarms' Ethik ift nicht Welterklärung —
fie wäre es, wenn fie wirklich die Lehre von den Endzwecken
überhaupt umfaffen folltc— fie hatihreSchranken
darin, dafs fie nur das menfehliche Thun und Denken in
Betracht zieht. Diefes aber beherrfcht fie ganz, indem
fie es in zufammenhängender Weife unter den Begriff des
Sollens ftellt, einen Begriff, den fie nicht nur auf das individuelle
Leben und die Entwickelung des Individuums,
fondern ebenfo lehr auf das gefammte Leben und die ge-
fammte Entwickelung der verfchiedenen collectiven Einheiten
, welche die Individuen zufammenfaffen, anwendet.
Daneben foll nun aber die Ethik auch eine Wiffenfchafts-
lehre fämmtlicher hiftorifchen Wiffenfchaften fein, die
Grundbegriffe der gefchichtlichen Wiffenfchaften erklären
fie mit einer oder zu einer Einheit verbinden, (S. 14). Es
ift doch fehr fraglich, ob die Aufgabe der Ethik fo weit
reicht, oder ob fie nicht dadurch in das Gebiet der Logik
hinübergreifen, bezw. die Unabhängigkeit der hiftorifchen
Forfchung beeinträchtigen würde. Indefs da Verf. diefer
Seite feiner Definition der Ethik, obwohl er noch oft auf
diefelbe zurückkommt, keine weitere Folge giebt, fo kann
diefe Frage hier unerörtert bleiben. Es möchte wohl bei dem
allgemeinen Gedanken fein Bewenden haben, dafs, wenn
die Ethik das Sollen als den Nerv alles menfehlichen
Fhnzel- und Gefammtlebens aufweift, fie dadurch alle
hiftorifchen Wiffenfchaften dominirt und ihren Gang in-
direct beeinflufst.

Ein weiterer Abfchnitt behandelt die gefchichtlichen
Formen der Ethik. Verf. unterfcheidet deren fünf: die
griechifche, die indifche, die mittelalterliche Ethik, die
Ethik des Naturalismus vor Kant, und die Ethik der ge-