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Ausgabe:

1890 Nr. 5

Spalte:

121-123

Autor/Hrsg.:

Heidemann, Jul.

Titel/Untertitel:

Die Reformation in der Mark Brandenburg 1890

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 5.

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briefe zurückziehen wollte oder nur eine vorübergehende
Gültigkeit der apoftolifchen Vorfchrift mit
Ofiander annehmen wollte. Man kann nicht anders, als
das Materialprincip als das Beherrfchende in den Vordergrund
Bellen und Luther's Wort zur Geltung bringen:
Was Chriftum nicht treibt, das ift nicht apoftolifch, wenn
es gleich S. Peter oder Paulus fchreibt.

Nabern bei Kirchheim u. Teck

(Württemberg). G. Boffert.

Heidemann, Jul, Die Reformation in der Mark Brandenburg.

Berlin, Weidmann, 1889. (VIII, 363 S. gr. 8.) M. 5. —
Gegenüber anderweitigen Bearbeitungen der märkifchen
Reformationsgefchichte, in denen die Stellung des
Fürftenhaufes zur Reformation und der äufsere Verlauf
der von den Fürften durchgeführten Reform in den
Vordergrund geftellt ift, will Heidemann mit vollem
Recht die reformatorifche Bewegung innerhalb der
märkifchen Bevölkerung kräftig betonen und eihgehend
fchildern. Kann er doch, und feine Darfteilung beftätigt
es, fagen: ,üas Erhebendfte an der märkifchen Reformationsgefchichte
ift die Thatfache, dafs allen kurfürftlichen
Verboten und aller Gegenagitation der katholifchen Geift-
lichkeit zum Trotz die evangelifche Lehre auch bei ungenügender
, behinderter Verkündigung alle Stände und
immer breitere Schichten der Bevölkerung ergriff und
innerlich von den Feffeln des Papftthums löfte. Die
Römifche Kirche verfiel und verödete lange fchon vor
der Einführung der Reformation; und als Joachim II.
am 1. Nov. 1539 zur proteftantifchen Kirche übertrat,
war die märkifche Bevölkerung bis auf eine geringe
Minderheit bereits durchaus lutherifch gefinnt'. Zur Ausführung
feines Planes hat Heidemann auch fchöne Studien
im geheimen Staatsarchiv in Berlin gemacht und neue
Quellen erfchloffen. Aber feine Arbeit legt unwillkürlich
zwei Fragen nahe. Ift es ihm gelungen, fich von
dem feine Vorgänger beherrfchenden Princip loszufagen,
die Reformation in der Mark vorwiegend vom Gefichts-
punkt des Verhältnifses der Fürften zur Reformation zu
betrachten? Ein Blick in Heidemann's Werk zeigt, dafs
ihm das nicht fo gelungen ift, wie er gewollt, denn ganze
Capitel feines Buches befchäftigen fich nur mit dem kurfürftlichen
Haufe. Der ganz richtige Gedanke Heidemann
's ift unwillkürlich von dem bereitliegenden Stoff
etwas zurückgedrängt worden. Es ift das ganz erklärlich,
fobald wir fragen: Ift es bereits Zeit, die von Heidemann
angeftrebte Darftellung der Entwicklung des Reformationstriebs
von unten, aus dem Innerften des märkifchen Volks-
gemüths und Volkslebens heraus, zu geben? Sehen wir
auf die von Heidemann für feine Arbeit benützten gedruckten
und nicht gedruckten Quellen, fo fragen
wir unwillkürlich: Sind das die Knaben alle? Offenbar
Banden dem redlichen Streben Heidemann's noch
nicht genug Quellen zu Gebot. Man wird die Reformationsgefchichte
noch vielmehr mit Hilfe der örtlichen
Quellen, der Gemeinde- und Familienarchive erforfchen j
müffen, ehe es gelingt, das von Heidemann glücklich auf-
geftellte Princip für die märkifche Reformationsgefchichte
zum vollen Sieg zu bringen. Die Entftellungen durch
die ultramontane Gefchichtsfchreibung erheifchen ein
energifches Graben und Forfchen in den einzelnen Gemeinden
, ehe ein zufammenfaffendes Bild mit annähernder
Vollftändigkeit gegeben werden kann. Darauf weift
fchon das überall zu Tage tretende Bedürfnifs jener j
provinciellen Blätter für Kirchengefchichte, wie fie fich
Von Jahr zu Jahr mehren. Aber Heidemann hätte fich |
feine von ihm felbft gefleckte Aufgabe wefentlich er- !
leichtert, wenn er die gedruckte Literatur ausgiebiger
benützt hätte. Man wird künftig für jede provincielle
Reformationsgefchichte die von Kolde in der Einleitung
zu feinem Martin Luther gegebenen Gefichtspunkte ins
•^uge faffen müffen, um die geiftigen Strömungen vor

dem Auftreten Luther's in jeder einzelnen Provinz genauer
kennen zu lernen. Heidemann fchildert ausführlich
die Wunderfucht in der Mark, wie fie bei den Wunder-
hoftien und wunderthätigen Bildern hervortrat; aber er
giebt uns keine Auskunft, ob nicht auch in der Mark
1 das Jagen nach fonftigen neuen Gegenftänden und Mitteln
j der Andacht hervortrat. Wir erfahren z.B. nichts über die
Ausbreitung der Verehrung der h. Anna und des h.
Wolfgang, während doch Kolde z. B. von einer i486 in
Berlin geftifteten Bruderfchaft des h. Wolfgang zu fagen
weifs (Mart. Luther 1,362 Note zu S. 18). Gevvifs verdiente
das Bruderfchaftswefen in der Mark und die Noth-
wendigkeit, dem fieberhaft gefteigerten religiöfen Bedürfnifs
des Volks, das fich von den Heilsmitteln der alten
Kirche unbefriedigt fühlte, durch Gründung neuer Kirchen
und Zerfchlagung der ungeheueren Pfarrbezirke in kleinere
Gemeinden entgegen zu kommen, eingehende Berück-
lichtigung in einem Werk, das gerade die volksmäfsige
Seite der Reformationsbewegung fchildern will. Ebenfo
fcheint es doch nicht fo ganz ausgemacht, dafs die Mark
vom Humanismus nahezu faft unberührt geblieben. Heidemann
erwähnt nicht einmal Joh. Rhagius Aefticampanus
d. h. Joh. Rack von Sommerfeld.

Der Mangel in der Benützung der gedruckten Quellen
läfst fich aber auch an andern Capiteln feines Buches
nachweifen. Welch ein lebensvolles Bild hat Kawerau
in feinem Agrikola von der Interimszeit in der Mark
gegeben, und wie mager ift dagegen, was Heidemann
bietet! Wie gut wäre feinem Werk z. B. die Schilderung
jenes Predigers Hügel angeftanden, wenn er die Reformation
in der Mark gerade von der Seite des Volks-
gemüths gegenüber den Fürftenbeftrebungen fchildern
wollte!

Auffallend ift die geringe Benützung des gedruckten
Briefwechfels der Reformatoren, und doch wäre es Aufgabe
der provincialen Reformationshiftoriker, die in jenem
Briefwechfel oft nur angedeuteten Thatfachen in ihrem
Zufammenhang näher zu beleuchten. Ich greife aus
einer ganzen Reihe nur einige Beifpiele heraus. Ueber
die Kottbufer Barfüfser, die Luther's Schriften 1520 verbrennen
(De Wette, 1,533) erfahren wir nichts. Wer ift
der Abt von Chorin, für den Luther zu forgen hat (De
W. Seidem. 6,131)? Dafs abbas Curiniensis ein Abt von
Chorin ift, nimmt auch Burkhardt an (Luther's Briefwechfel
S. 326). Wer ift der bei Joachim II. beliebte Prediger,
der nach Melanchthon's Annahme offenbar durch Agri-
kola's Umtriebe beifeite gefchoben wird? {Corp. Ref. 4,922.)
Ich möchte an Stratner denken, der damals vom Schauplatz
abtrat. Warum werden die von Brandenburg zum
Wormfer Gefpräch abgefandten Gelehrten zu den Papillen
gerechnet? (C. R. 3,121). Ueber die Angabe von Lenz
S. 246 not. 1 hätte C. R. 3, 1161 einiges Licht gegeben.
Ueber die auffallende Gefchichte eines Mädchens in Frankfurt
an der Oder, über welche Andreas Ebert an Luther
berichtet (Kolde, Analecta L. S. 291) und die doch ungeheueres
Auffehen machte, erfährt man keine Silbe.
Recht auffallend ift, wie dürftig die Univerfität Frankfurt
in ihrer Stellung zur Reformation wegkommt. Einige
Bemerkungen über Wimpina und etliche Zeilen über die
Reformation der Univerfität S. 238 find alles, was man
zu hören bekommt.

Auch im Einzelnen vermifst man die rechte Sorgfalt.
Z. B. über die Sermoucs Meffel (?) S. 26 not. hätte die
theologifche Realencyklopädie ausreichendes Licht gegeben
und gezeigt, dafs zu lefen ift Meffreth. Der bran-
denburgifche Kanzler heifst in dem Briefwechfel der
Reformatoren Weinlaub, Weinleb, die Namensform Wein-
leben etc. beruht auf Mifsverftändnifs der Flexion des
Namens. Der Johanniter-Herrenmeifter S. 27 not. 2 heifst
nach Beckmann Hermann von Warberg, nicht Werberg.
Der Prediger Mag. Leonhard in Guben (S. 124) heifst
nicht Reiff, fondern Beyer, und ift der bekannte Ordens-
genoffe und Freund Luther's. Ein Blick in den Brief-