Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1890 Nr. 5

Spalte:

111-113

Autor/Hrsg.:

Renan, E.

Titel/Untertitel:

Histoire du peuple d‘Israel. Tome 2 1890

Rezensent:

Horst, L.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

111

Theologifche Literaturzeitung. 1S90. Nr. 5.

Tifchendorf hat den Text in feinen Monwnenta sacra
inedita, t. I, 1855 herausgegeben.

Die Bemühungen Swete's um Herftellung eines cor-
recten Textes und forgfältiger Collationen haben nachträglich
, nachdem faft das ganze Bändchen fchon gefetzt
war, noch eine fehr dankenswerthe Unterftützung dadurch
erfahren, dafs Neftle den Text und die Varianten des
Alexandrinus, Psalt. Turteense und der Londoner Fragmente
einer Revifion unterzogen hat, wobei ihm für die
beiden letzteren Handfchriften eigene Collationen zu
Gebote ftanden. Die hierdurch gewonnene Nachlefe ift
in der Appendix verwerthet, in welche fonft nur unwichtige,
nicht unter dem Text mitgetheilte Varianten aufgenommen
find.

Der Werth diefer kleinen und äufserft billigen Ausgabe
erhellt fchon daraus, dafs von den fechs hier benützten
Haupthandfchriften drei(Sinaiticus,/k,«/h Veronense
und Londoner Fragmente) in der grofsen Ausgabe von
Holmes und Parfons noch nicht berückfichtigt werden
konnten oder berückfichtigt worden find.

Giefsen. E. Schürer.

R enan, E.,Histoiredupeupled'lsrael. Tomell. Paris,Calmann
Levy, 1889. (IV, 545 S. 8.)

Mit Saul und David betritt der Gefchichtfchreiber
einen fefteren Boden. Nicht als ob von da an geringere
Vorficht in der Benutzung der Quellen geboten wäre;
der religiöfe und kirchliche Standpunkt der Sammler hat
den tiefgehendften Einflufs auf ihre Arbeit ausgeübt;
dennoch ift das Blatt nicht mehr ganz weifs oder nur
mit wenigen undeutlichen Zeichen befchrieben und die
Gefahr geringer, fich auf den Flügeln der Phantafie forttragen
zu laffen.

Renan's zweiter Band, von David's Regierung an bis
zur Zerftörung des Reiches Israel, ift dem erften weit
überlegen. Trefflich ift die Schilderung des davidifchen
Regiments, das man fich vorftellen könne als etwas fehr
einfaches und fehr ftarkes, etwa nach dem Mufter des
kleinen Königthums Abd-el-Kader's in Mascara oder
nach den dynaftifchen Verfuchen, welche heut zu Tage
in Abeffinien gefchehen. Auf die religiöfen Gefchicke
Israels hat David einen Einflufs erften Ranges ausgeübt,
aber nicht direct, fondern indirect, auf dem Wege der
Confequenzen. Er fchuf die zukünftige Hauptftadt des
Judenthums, die erfte heilige Stadt der Welt. Er ahnte
es aber nicht. Wenige Naturen fcheinen in geringerem
Grade religiös gewefen zu fein als David, wenige Anbeter
Jahveh's haben in geringerem Grade Sinn gehabt für das,
was eben die Zukunft des Jahveismus war, die Gerechtigkeit
. David war Jahveift, wie Mesa Kamoflft. Jahveh
ift ein Schutzgott, er ift ein Gott, der es feinen Lieblingen
gelingen läfst, und übrigens ein fehr nützlicher Gott, der
durch Abjatar's Ephod treffliche Orakel ertheilt. Und
das ift alles. Was jene Religion Jahveh's unter den Händen
der grofsen Propheten des 8. Jahrh. werden follte, das hat
David offenbar ebenfowenig geahnt als Gideon, Abimelech,
Jephta. Im übrigen aber, wie ilt es möglich, an Renan's
David vorüberzueilen, ohne der rofigen Gefichtsfarbe des
Jünglings zu gedenken, deffen feiner und lieblicher Züge,
deffen fanfter, leicht fliefsender Rede und E. Scherer's
Spottes? {yid. le Temps, 18 Nov. 1887).

Ebenfalls fehr gelungen ift Salomo's Bild, als eines
Chalifen von Bagdad, eines Haroun-al-Rasid, umgeben von
Sängern, Erzählern, geiftreichen Leuten aller Art, mit
denen er gerne im Ton des Collegen und Mitarbeiters
verkehrt, deffen Regiment, wie keines andern, zur Begründung
der grofsen Wahrheit beigetragen hat, dafs alles,
was nicht zum Fortfehritt des Guten und Wahren beiträgt
, nur Seifenblafe und morfches Holz ift, deffen Seele
mit Israels Seele fo wenig in Uebereinftimmung ftand,
der aber merkwürdiger Weife die vollftändige Perfonifi-

cation des jüdifchen Geiftes geworden ift, wie ihn die
gegenwärtigen Jahrhunderte gekannt haben (S. 181).

In unübertroffener Weife verfteht es Renan, hier z. B.
in Betreff des Tempels, die verfchiedenen, fcheinbar einander
widerfprechenden Seiten der Dinge hervorzukehren
(f. S. 149 s. 164. 166. 188).

Sehr anziehend ift die Schilderung der literarifchen
Bewegung im Volk Israel, fehr fein die Charakteriftik
der alten Elohimerzählung (Dillmann's B), des patriarcha-
lifchen Romans, und daneben der Heldenlegende, welche
der Gefchichte näher fleht und fo zu fagen im Sefer
I müchamot JaJiveh oder [und im] Sefer hajjascliar die
I Fortfetzung der Urväterfage bildet: beide, Urväterfage
| und Heldenfage, um 900 fchriftlich niedergelegt, beide
wohl im Nordreich zu Haus, bald untergegangen, in Auszügen
glücklicherweife uns erhalten, darunter manche alte
Liederverfe, Morgenfternen ähnlich, die fich in den Strahlen
der aufgehenden Sonne verlieren: keine heiligen Bücher,
j fondern Laienfchriften, keine Gefchichte ad iiarrandum,
noch ad probandam, fondern die Gefchichte ad delectan-
! dam, wie das Kitäb-al-Aghani, und der die Tage der
Araber betreffende Theil des Kitäb-al-Ikd. Auch Theologen
; haben das — und fchon längft — erkannt, der freien Luft
: des Heldengedichtes und des Volksliedes doch nicht fo
' ganz entwöhnt (f. S. 236), wiewohl es annoch welche
j giebt, die unzugänglich bleiben, und auch mancher Prote-
I ftant dem Spott nicht ganz entgeht, aus lauter Ehrfurcht
unachtfam geworden, fich an Abenteuern im Gefchmack
Antar's, heroifchen Raubzügen, kleinen feingefponnenen
und fein erzählten Intriguen mit Andacht zu erbauen.

Während der Jahveismus in Jerufalem ein Cultus
bleibt, wird er in den Prophetenfchulen des Nordens zu
j einem religiöfen Sauerteig der höchften Gewalt; der
] Prophetismus fchafft die heilige Gefchichte, die erften
! Anfänge der Thora; die Schrift des Jehoviften entfteht
■ um 850 etwa im Nordreich. Schon dreifsig Jahre fpäter
kommt in Jerufalem eine zweite Redaction der heiligen
j Gefchichte auf; ihr gehört der Dekalog an, wie das Bundes-
buch dem Jehoviften. Hier ift der Hauptunterfchied
zwifchen Renan und der herrfchenden Anficht der Reufs-
Graffchen Schule. Indem er die heilige Gefchichte feiner
jerufalemifchen Redaction von den Prieftergefetzen los-
löft, kehrt er, mutatis mutandis, zur urfprünglichen Stellung
Grafs zurück. Das ift fehr gewagt. Aber zu den
feinften Capiteln des Buchs gehören die Abfchnitte, in
denen die Bildung einer heiligen Gefchichte befprochen
wird.

Israels allmählicher Niedergang, AffyriensEinmifchung
in die paläftinenfifchen Angelegenheiten, die Wirkfamkeit
der Propheten und des Prophetismus Blüthezeit mit Jefaia
und Micha, der Uebergang der religiöfen Ueberlegenheit
auf Juda, Israels Todeskampf und Ende werden in den
j Schlufscapiteln gefchildert. Merkwürdig find die Ab-
I fchnitte über die Propheten, mit den zahlreichen fchönen
! Ueberfetzungsproben. Die Prophetengeftalten treten
I äufserft lebendig auf; manche der angeflehten geift-
j reichen Zufammenflellungen und Vergleiche modernifiren
| fie allzufehr; andere find trefflich. In der Kritik ift Renan
| hier fehr zurückhaltend. Die Reihenfolge ift Jef. XV. XVI,
i Arnos, Joel, Obadia, Zacharia IX—XI wohl von verfchie-
I denen Verfaffern, Hofea, Jefaia, in fofern derfelbe hierher
I gehört, Micha; aber er wird nicht müde, vor voreiliger
Annahme nachexilifcher Interpolationen zu warnen (S.435.
439 Anm.J. Ob nicht allzu confervativ?

Ein fchönes Buch, das im höchften Grade zum Nachdenken
zwingt, das nichts verloren hätte, wenn der frivole
Spott über den weinerlichen Gott des Chriftenthums weggeblieben
wäre (S. 504 und der nicht minder frivole
Satz, bei Gelegenheit der Legende Elia's, dafs Jefus, der
jenem fo unähnlich war, um fein Anfehen zu mehren,
fleh, wie man fagt, auf heimliche Unterredungen mit ihm
| auf unfichtbaren Bergen berief (S. 286).

Man weifs bei Renan oft nicht, ob er es ernft meint,