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Ausgabe:

1890 Nr. 4

Spalte:

100

Autor/Hrsg.:

Schulz, Karl

Titel/Untertitel:

Der Gottesgedanke. Grundzüge einer geistesgeschichtlichen Betrachtung 1890

Rezensent:

Ehrhardt, Eugen

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99

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 4.

100

Reichs zu feinem Verfall (S. 190), alfo gerade im gün-
ftigften Zeitpunkt, fchuf Juftinian, von deffen gefetzgeber-
ifcher Bedeutung der Verf. mit fehr hoher Werthfehätzung
redet, fein grofses Rechtsbuch. In Juftinian's eigener
Gefetzgebung treten die chrifUichen Einwirkungen am
deutlichften hervor. Beflimmendes Ziel ifl überall der
Schutz der Kleinen und Bedrängten. Als Hauptgegen-
fland der kaiferlichen Fürforge erfcheint jetzt der Stand
der Kleinbürger; mit Vorliebe wird das Gebiet des Familienrechts
behandelt, dem Schutz der Frauen, der
Kinder, des Schuldners gegen den hartherzigen Wucherer
gelten zahlreiche Verordnungen, hier und da artet das
Beftreben, die Kleinen zu fchützen, fogar in Kleinlichkeit
aus (S. 180 ff.). So erhielt das in jahrhundertelanger
Entwickelung gewordene ,Weltrecht' fchliefslich feine
Zufammenfaffung in dem , Weltgefetzbuch'.

Diefe Bemerkungen müffen genügen, um einen Einblick
in den reichen Inhalt des Buchs zu geben. Was die uns
hier zumeift intereffirende Frage, die nach der Vereinbarkeit
des römifchen Rechts mit dem Chriftenthum, betrifft,
fo ziemt dem Nichtjuriflen grofse Zurückhaltung. Ifl es
geftattet, ein Laienurtheil mit allem Vorbehalt abzugeben,
fo geht es dahin, dafs das Recht der Römer unzweifelhaft
in feiner Entwickelung chriftliche Einflüffe erfahren
hat, nachdem fchon vorher in ihm felbft ein dem fitt-
lichen Geifte des Chriftenthums verwandter Zug hervorgetreten
war, dafs es jedoch durch diefe Einflüffe mehr
nur an einer Anzahl einzelner Stellen berührt, bez. um-
gehaltet worden ifl, als dafs es aus dem Geifte des
Chriftenthums eine Wiedergeburt in feinem inneren Wefen
erfahren hätte. Gleichwohl ifl dem Verf. darin zuzu-
ftimmen, dafs wir keine Urfache haben, der fortgehenden
Einwirkung desfelben auf das Rechtsleben der Gegenwart
grundfätzlich zu widerfprechen. Recht und Religion,
bez. die aus der letzteren entfpringende Sittlichkeit find
verfchiedene Dinge, welche nicht verwechfelt oder ver-
mifcht, aber auch nicht in Gegenfatz zu einander gebracht
werden dürfen. Die nothwendige Abgrenzung zwifchen
beiden ift von dem Verf. vielleicht nicht immer genug
beachtet worden. Ein von ihm mit unverkennbarer Mifs-
billigung angeführtes Urtheil eines höchften Gerichts
(S. 162) hat gleichwohl ganz Recht, wenn es fich dahin
ausfpricht, dafs ,das Recht, wenn auch nie unfittlich fein,
fo doch auch nie die idealen Vorfchriften zum Inhalt
nehmen darf, welche in der chriftlichen Sittenlehre gepredigt
werden'. Das Recht mufs den feflen Boden
fchaffen, auf welchem die freie Sittlichkeit, chriftlich ausgedrückt
: die aus dem Glauben geborene Liebe, fich entfalten
und ihr Reich fittlicher Zwecke aufbauen kann.
Es kann diefelbe nicht erfetzen, auch nicht hervorbringen,
aber es kann und mufs ihr vorarbeiten, den Weg bereiten
, und es fordert fie als feine unentbehrliche Ergänzung
. Infofern gehören beide, Religion und Recht, noth-
wendig zu einander. In diefer anerkennenden Stellung
zum Recht, insbefondere auch dem römifchen, können
uns weniger die Ausfprüche von Päpften, auf welche der
Verf. gelegentlich Bezug nimmt, beflärken, als die Ur-
theile unferer Reformatoren. Luther, welcher, wie bekannt
, nicht feiten mit den römifchen Juriften feiner Zeit
Icharf aneinander gerathen ift, hat fich doch unbefangen
dahin ausgefprochen: ,wenn jetzt alle Juriften in einen
Kuchen gebacken und alle Weifen in einen Trank ge-
brauen würden, fo follten fie nicht allein die Sachen und
Händel ungefaffet laffen, fondern auch nicht fo wohl davon
reden und denken können' wie das römifche Recht
(Erl. Ausg. 39, 331), und war der Meinung: ,es wäre am
heften, dafs gemeine kaiferliche Rechte durch das ganze
Reich gingen und gehalten würden' (E. A. 62, 269). Und
Melanchthon äufsert [Corp. Ref. 16, 446): Romano jure
utimur, quod est plenum Inunanitatis atque acquitatis, quod
ab liominibus reipublicae gerendae peritissimis scriptum
est, quod hanc gentem, cujus olim summa barbarics fuit, ad
mitiorem et liumaniorem vitam traduxit, Worten, in welchen
der Verf. zum Theil die von ihm felbft entwickelten
Anfchauungen wiederfinden wird.

Dafs Juriften böfe Chriften feien, ift oft gefagt worden
. Dafs jedoch die Regel zum Glück keine ausnahms-
lofe ift, davon giebt das vorliegende Buch ein neues,
hoch erfreuliches Zeugnifs. In diefem Sinne fei dem
Herrn Verf. auch von theologifcher Seite für feine Gabe
aufrichtiger Dank gefagt. Die Schrift ift die Beglück-
wünfehungsfehrift der juriftifchen Facultät in Marburg
zum 60jährigen Doctorjubiläum des Reichsgerichtspräfi-
denten Simfon.

Darmftadt. K. Köhler.

Schulz, Karl, Der Gottesgedanke. Grundzüge einer geistes-
gefchichtlichen Betrachtung. Leipzig, Duncker & Hum-
blot, 1888. (VII, 184 S. gr. 8.) M. 3. 60.

Es ift fchvver zu beftimmen, was eigentlich den Gegen-
ftand diefer Abhandlung ausmacht. Damit ift hingewiefen
auf ihren Hauptmangel, den nämlich an Klarheit und
Durchfichtigkeit. Ein Durcheinander von angefangenen
und wieder verlaffenen, fich kreuzenden und fich wiederholenden
Gedankenreinen, lange Excurfe, die nicht zur
Sache gehören, charakteriliren diefes Buch.

Der erfte Theil: ,Die geiftesgefchichtlicheBetrachtung
als Aufgabe der Erkenntnifslehre' zerfällt in 4 Unterabtheilungen
: 1) Die Grundfrage der Erkenntnifslehre,
2) Die geiftesgefchichtliche Betrachtung, 3) Selbftthätig-
keit und Gefetzlichkeit beim Denken und Sprechen,
4) Die durchgeiftigte Vernunft, eine Deutung des innern
Lebens. Er geht aus von einer Kritik der kantifchen
Erkenntnifslehre, und fcheint beweifen zu follen, dafs
die Erkenntnifslehre die Thatfache des Gottesgedankens
zu ihrem Ausgangspunkt zu machen, und von diefer
Thatfache aus die Entftehung und die Gefetze des
menfehlichen Erkennens zu beftimmen habe. Dabei wird
viel Mühe darauf verwendet, den Unterfchied zwifchen
geiftesgefchichtlicher und entwickelungsgefchichtlicher
Betrachtung zu erklären. In der That handelt es fich
hier um eine haltlofe Unterfcheidung, die durch einen
unglücklichen Sprachgebrauch — als ob Geiftesgefchichte
nicht eine species des genus Entwickelungsgefchichte
wäre — noch unbrauchbarer gemacht wird, als fie an
fich ift.

Der zweite Theil ift betitelt: Die Metaphyfik als
Gotteslehre. Er ift nichts Anderes als eine kurze Wiedergabe
von W. Dilthey's ,Einleitung in die Geifteswiffen-
fchaften' B. I. Buch II, S. 153—5'9, mit eingeftreuten
kritifchen Bemerkungen, welche den Zweck hat, die
Metaphyfik als ein Zeugnifs von der Macht des Gottesgedankens
nachzuweifen. Diefer Zweck wird aber keineswegs
erreicht, gegen Ende des Buches auch ganz aufser
Acht gelaffen. Der Verfaffer macht am Schluffe die
eigenthümliche Bemerkung, dafs er vorläufig mit dem
zurückhalten müffe, was er über die entwickelungs- und
geiftesgefchichtliche Stelle des Gottesgedankens zu fagen
habe, alfo mit der Hauptfache. Warum wird nicht gefagt
, auch keine Fortfetzung der Arbeit in Ausficht
geftellt.

Inwiefern Dilthey richtig wiedergegeben ift, vermag
ich nicht zu beurtheilen.

Neben fonderbaren Einfällen finden fich in diefem
Buche, unzweifelhaft, richtige Gedanken. Namentlich
wird mit Recht darauf hingewiefen, dafs Kant's Erkenntnifslehre
einen viel zu abftracten Charakter trägt und
den Thatfachen der Pfychologie und der Religionsge-
fchichte nicht gerecht wird. Jedoch auch das Richtige
ift unklar ausgedrückt, und entweder fchwankend und
unficher, oder gar nicht ausgeführt. Eine Förderung
feines theologifchen oder philofophifchen Denkens kann
Niemand von der Leetüre diefer Schrift erwarten.

Bifchweiler i/E. Eugen Ehrhardt.