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Ausgabe:

1890 Nr. 3

Spalte:

67-68

Autor/Hrsg.:

Winterstein, Rich.

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Kirche im kirchlichen Vermögensrecht 1890

Rezensent:

Köhler, Karl

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Seite 1

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67

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 3.

68

Ganzen fall alle den gleichen Grundcharakter, d. h. den
proteftantifchen. (Der Verf. redet von der unity of the
national sentiment in allen wefentlichen religiöfen und
fittlichen Fragen, S. 55.) Wenn einmal die Religions-
lofigkeit (in deren Vordringen der Verf. eine flets wach-
fende Gefahr erblickt, S. 16) auf der einen, die römifche
Kirche auf der anderen Seite zu Mächten im öffentlichen
Leben herangewachfen fein werden, dann werden fich
auch dort religiöfe Fragen erheben, zu deren Löfung das
abftracte voluntary principle fchwerlich ausreichen wird.
Gebe Gott, dafs fich dann die Weisfagung des Verf.'s erfülle
(S. 83): the denominational discords will be solved
in the concord of Christ.

Von einem ,Finflufs des amerikanifchen Syftems auf
fremde Länder und Kirchen' (S. 83), d. h. auf Europa,
mit dem Verf. zu reden, ift wenig Grund vorhanden. In
Deutfchland wenigftens verfpürt man von folchem Ein-
flufs nichts. Die kirchlichen Dinge entwickeln fich hier
aus fich felbft heraus. Die Kenntnifs des Verf.'s von
den diesfeitigen Zuftänden erweift fich nicht immer als
fehr zutreffend. Dafs der Eraftianismus, d. h. die ,cäfaro-
papale' Beherrfchung der Kirche durch den Staat, in
modern Russia and the Protestant states of Europe herr-
fchend fei (S. 13), ift ein Satz von fehr problematifchcr
Richtigkeit: zwifchen dem ruffifchen Byzantinismus und
dem Kirchenregiment deutfcher evangelifcher Landesherren
ift denn doch ein meilenweiter Abftand. Und dafs
in Preufsen die evangelifche Kirche der humble servant
of the State fei (S. 104), hätte der Verf. nicht fo unbefehen
einer gewiffen Tendenzpreffe nachfchreiben follen. Min-
deftens durfte in diefem Zufammenhang nicht die eingreifende
Umgeftaltung, welche die öffentlich-rechtliche
Stellung der meiften deutfchen Landeskirchen durch den
Uebergang zur presbyterial-fynodalen Selbftverwaltung
erfahren hat, mit Stillfchweigen übergangen werden.
Auch die Behauptung, dafs in den State churches (beffer
gefagt Landeskirchen) the laity arc passive (S. 81), hätte
durch einen Blick auf das rege kirchliche Vereinsleben
im evangelifchen Deutfchland berichtigt werden können,
wenn gleich ja das fynodale Leben bei uns nur erft in
den Anfängen fteht. Der Verf. ift der Anficht, dafs die
Entwickelung der Dinge in der alten Welt unaufhaltfam
zum amerikanifchen Freikirchenfyftem hindränge. Ob
das richtig ift, wird die Zeit lehren, bis jetzt fprechen
die Zeichen nicht gerade dafür. Ein Segen für uns wäre
es nicht. Was in Amerika nothwendig und heilfam fein
mag, ift dies darum nicht auch unter ganz anders gearteten
gefchichtlichen Bedingungen und Vorausfetzungen.

Eine werthvolle Beigabe des Buchs bilden die am
Schlufs mitgetheilten Urkunden. Als Anhang erfcheinen
die bei der Einführung des Verf.'s als Profeffor am
theolog. Seminar in New-York gehaltenen Reden, von
welchen befonders die des Rev. Dr. Fewfmith über das
Studium der Kirchengefchichte Beachtung verdient.

Darmftadt. K. Köhler.

Winterstein, Dr. Rieh., Der Begriff der Kirche im kirchlichen
Vermögensrecht. Wien, Deuticke, 1888. (42 S.
gr. 8.) M. 1. —

,Die Frage nach dem Begriff der Kirche im Vermögensrecht
ift — wie der Verf. im Eingang fagt —
nichts anderes als eine Unterfuchung über den Eigen-
thümer des Kirchengutes'. (Gemeint ift überall die
kathol. Kirche.) Jene Frage wird von dem Verf., ohne
wefentlich Neues beizubringen, richtig dahin beantwortet,
dafs Eigenthümer des Kirchengutes im Sinn des kanoni-
fchen Rechts überall die örtliche Kirche als Inftitut ift,
nicht die Gemeinde als Corporation oder die vom Papft
vertretene Gelammtkirche. Der Nachweis dafür ift überzeugend
erbracht, die Beurtheilung abweichender An-
fchauungen im zweiten Theil zutreffend. Belehrend ift

befonders auch, was über die gefchichtliche Entwickelung
des Verhäitnifses mitgetheilt wird. Ucbrigens ift
unverkennbar, dafs die Gefammtkirchentheorie in der
Gegenwart immer mehr an Boden gewinnt. Es fcheint
fich in der herrfchenden Anfchauungsweife ein Umfchwung
von verhängnifsvoller Tragweite zu vollziehen, ähnlich
wie zur Zeit des Uebergangs von dem alten römifchen
Corporationsbegriff zur kirchlichen Inftitutentheorie. Be-
ftreitbar ift der Satz des Verf.'s (S. 4), dafs Vereine innerhalb
des Staates (wie z. B. die Kirche) für ihr eigenes
Gebiet Recht aus fich erzeugen können, auch wenn diefes
vom Staate nicht anerkannt wird. Recht im formalen
Sinne entfteht nicht ohne Zuthun des Staates. Genoffen-
fchaftliche Satzungen können für die Glieder der Ge-
noffenfehaft fittlich verpflichtend fein, auch für das innere
Leben derfelben eine dem Recht ähnliche Bedeutung
haben, der Rechtscharakter im eigentlichen Sinne jedoch
kommt ihnen an fich nicht zu. Auch wäre mit jenem
Satz dem Anfpruch der Kirche doch nicht genügt, denn
diefe denkt fich nicht als einen Verein im Staate, welcher
fich ein Vereinsrecht für feine inneren Angelegenheiten
fetzt, fondern als fouveränes Rechtsgebiet neben
und über dem Staate. Staatsgefetzliche Normen, welche
von der kirchlichen Satzung abweichen oder überhaupt
felbftändig über kirchliche Vermögensrechte verfügen
(S. 40 f.), find daher ftreng genommen für die gegenwärtige
Unterfuchung ohne Belang: das Vermögensrecht der
Kirche kann dadurch nicht berührt werden.

Darmftadt. K. Köhler.

Kurzgefasste Mittheilungen.
Martens, Regens a. D. Dr. Wilh., Heinrich IV. und Gregor
VII. nach der Schilderung von Ranke's Weltge-
fchichte. Kritifche Betrachtungen. Danzig, Weber,
1887. (91 S. gr. 8.) M. 2. —

Diefe Arbeit ift eine in's Einzelne gehende Kritik der Darfteilung,
welche Ranke dem Verhältnifs zwifchen Heinrich und Gregor gewidmet
hat. Sie erörtert deshalb eine gröfsere Anzahl Fragen über den Werth
der verfchiedenen Quellen wie über die einzelnen Ereignifse der Zeit. Die
Gefammtauffaffung kommt nicht in Frage, wohl aber theilt Verf. mit, dafs
er fich feit längerer Zeit mit einer gröfseren Arbeit über Gregor's hiero-
kratifche Wirkfamkeit befchäftige, K. M.

Weiss, Dr. Jof., Berthold von Henneberg, Erzbifchof von
Mainz (1484—1504). Seine kirchenpolitifche und kirchliche
Stellung. Freiburg i,Br., Herder, 1889. (VH,
71 S. gr. 8.) M. 1. —

Eine Darftellung der kirchlichen und kirchenpolitifchen Wirkfamkeit
diefes hervorragendften deutfchen Kirchenfürften am Ende des I5.jahrh.'s.
Die Arbeit zeigt Beherrfchung der einfehlägigen Quellen und ift allem
nach forgfältig gearbeitet. Die monographilche Bearbeitung folcher Regierungen
und der kirchlichen Zuftände innerhalb der einzelnen Diöcefen
am Ende des Mittelalters ift nur nachahmungswerth. Die fiscalifchen
Tendenzen der Reformarbeiten hätten noch viel beftimmter hervorgehoben
werden dürfen. K. M.

Söder, Dr. Rud., Biblische Parallelberichte oder ähnliche
Erzählungen aus dem alten und neuen Bunde, behufs
Erkenntnis der von den Verfaffern benützten Quellen-
fchriften nach dem Urtexte zufammengeftellt. Stuttgart
, Söder, 1889. (IV, 82 S. 8.) M. 1. 20.

Der Verf. ftellt fowohl aus dem A. als N. T. parallele Berichte in
deutfcher Ueberfetzung nebeneinander, um auch dem gebildeten Laien
einen Einblick in die Entftehungsart der betr. biblifchen Bücher zu ver-
fchaffen. Er ift mit Recht der Ueberzeugung, dafs er hiermit für die
Würde der heiligen Schrift eintritt, ,denn die mangelnde Unterfcheidung
zwifchen der naiven morgen- und der überlegten abendländifchen Auf-
faffungs- und Darftellungsweife, befonders die Ueberfehung der unbe-
fchränkten(?) Freiheit des öftlichen Gefchichtsfchreibers in der Stoffbehandlung
wie in der Quellenbenutzung ift die Urfache vieler fchweren
Mifsverftändnifse und unberechtigten Folgerungen'. Es ift in der That
nützlich, Bibellefer daran zu erinnern, dafs an die hiftorifchen Bücher
der heiligen Schrift nicht derfelbe Mafsftab wie an moderne hiftorifche
Schriften gelegt werden darf, dafs fie vielmehr unter ganz andern Gelichts-
punkten betrachtet werden mülfen. Denn man ift noch beiweitem nicht