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Ausgabe: | 1890 Nr. 26 |
Spalte: | 648-653 |
Autor/Hrsg.: | Zahn, Theodor |
Titel/Untertitel: | Geschichte des neutestamentlichen Kanons. I. Bd.: Das Neue Testament vor Origenes. 2. Hälfte 1890 |
Rezensent: | Jülicher, Adolf |
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Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 26.
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Aus der weiteren Gefchichte der Parteien, wie der
Verf. fie gefchaut hat, fei noch Folgendes hervorgehoben.
Die Partei der Frommen wurde fpäter von ihren Gegnern
mit dem Namen der Sectirer (Pharifäer) belegt (S. 251 f.);
daneben kam aber für fie auch der Name Effäer auf.
Sie pflegten nämlich bei den Procefiionen Hofchia-na zu
beten, und fo nannte fie das Volk die Hofäer (= Hofcha-
Rufenden)! Die Form Eaatvoi (fo fchreibt Sack ftatt
Eanrjvm) erklärt fich gleichfalls aus Hofcha, denn letzteres
endigt mit einem Ain, welches ,gewifs einen Nafenlaut
enthielt' und daher von Jofephus durch n wiedergegeben
wurde (S. 253—256). —Während alfo urfprünglich Pharifäer
und Effäer Bezeichnungen derfelben Partei find, wurden
fpäter beide Namen üblich für zwei Sonder-Rich-
tungen, die durch Spaltung der einen Partei fich bildeten.
Die Pharifäer ,fchwammen im Strome des öffentlichen
Lebens' (S. 290) und befreundeten fich mit dem Opfer-
cultus, die Effäer bildeten mönchifche Gemeinfchaften,
chaburoth (S. 288 ff.). — Durch mannigfache Schwankungen
geht nun die Entwickelung weiter, bis endlich
in den erften Decennien nach der Zerftörung Jerufalems
der Talmudismus dauernd zur Herrfchaft kommt. In
diefer Thatfache fieht der Verf. etwas fehr unerfreuliches.
Er conflatirt ,in den R eligion sideen der Juden fortgefetzten
Rückfehritt und zunehmende Verun-
ftaltung' (S. 606). Diefe ,geift- und meiftens finnlofe'
Geflaltung des Gefetzes (S. 608) ging auch in der folgenden
Zeit noch weiter. Erft in unferem Jahrhundert beginnt
die Wendung zum Beffern: der Talmudismus ift in
ftarkem Verfall (S. 610f.). Aber was foll nun werden?
Wird die jüdifche Religion in die chriftliche aufgehen?
Doch nicht! Die Reform, die auch im Chriftenthum im
Gange ift, wird hier aufgehalten durch die fefte ftaat-
liche und kirchliche Organifation. Das Judenthum ift
dem Ziele bereits näher. Seine grofse Aufgabe ift, fich
von einer Volksreligion in eine Weltreligion umzuwandeln
. ,Die talmudifch-rabbinifchen Gefetzbücher müffen
in's Archiv für die blofs wiffenfehaftliche Forfchung gelegt
, und aus den biblifchen die echt humanen religiös-
ethifchen Principien und Lehren, von denen fie durchdrungen
find, wieder hervorgeholt und dem Judenthum
als Charaktermerkmal eingeprägt werden, wie die alten
Propheten es erftrebt haben' (S. 611).
Wir haben zum Schlufs noch über einen Punkt zu
berichten, auf welchen der Verf. auch feine Forfchungen
erftreckt hat: die Entftehung des Chriftenthums.
Das Refultat ift: dafs Jefus überhaupt niemals
exiftirt hat. Der eigentliche Stifter des Chriftenthums
ift Johannes der Täufer, ,ein eminenter Effäer' (S. 429).
Jefus ift nur ein anderer Name für den als auferftanden
geglaubten Johannes. Der Verf. erwartet freilich felbft
nicht, dafs diefe feine Anficht bald in die religions-
gefchichtliche Forfchung eindringen werde. ,Von angewöhnten
, die ganze Denk- und Gefühlsweife beherrfchen-
,den Anfchauungen fich zu trennen, fällt fehr fchwer und
,ift für Manche ganz unmöglich' (S. 483). Für den Unbefangenen
ift aber doch die Sache ziemlich leicht zu
beweifen. Johannes hat nämlich den Effäismus in folgenden
Punkten umgebildet: I) Die efläifchen Reinigungen
wurden auf einen einmaligen Taufact als Fertigmachung
fürs Himmelreich befchränkt. 2) Die dreijährige Prüfung
wurde aufgehoben. 3) Die effäifche Gütergemeinfchaft
wurde in eine Gemeindecaffe verwandelt. 4) Die effäifchen
Mahlzeiten wurden zunächft auf Ein tägliches Mahl, das
Abendmahl, eingefchränkt und diefes wieder im weiteren
Verlauf auf Sabbath- und Feiertage und befondere feierliche
Anläffe. 5) Das Princip der Ehelofigkeit wurde ab-
gefchwächt (S. 434—44°)- Damit war im Wefentlichen
das Chriftenthum fertig. Als dann Johannes der Täufer
hingerichtet worden war, wurde fein Tod als fühnender
Opfertod zur Entfündigung des Volkes aufgefafst; und
bald verbreitete fich auch das Gerücht, dafs der heilige
Prophet einigen feiner Jünger an einem Berge in Galiläa
erfchienen fei. Er war alfo der Anfang der Auferftehung,
Urfache und Urfprung des ewigen Heils oder, geiftig
und finnbildlich aufgefafst, das Heil felbft, yiö Jefus
(S. 443)-
Ob es wohl nur dogmatifche Verftocktheit ift, wenn
das fchwere Gefchütz der hiftorifchen Argumente des
Verfaffers an uns chriftlichen Theologen wirkungslos abprallt
?
Kiel. E. Schürer.
1. Zahn, Theodor, Einige Bemerkungen zu Adolf Harnack's
Prüfung der Geschichte des neutestamentlichen Kanons
(1. Bd. 1. Hälfte). Leipzig, Deichert Nachf., 1889,
(37 S. gr. 8.) M. -. 60.
2. Zahn, Prof. Dr. Theodor, Geschichte des neutestamentlichen
Kanons. 1. Bd.: Das Neue Teftament vor Ori-
genes. 2. Hälfte. Leipzig, Deichert Nachf, 1889. (III
u. S. 453—968. gr. 8.) M. 12.—
In Nr. 7 des vorigen Jahrgangs diefer Ztg. haben
wir aufser der erften Hälfte von Bd. I der Zahn'fchen
Gefchichte des NTlichen Kanons die von Harnack- alsbald
veröffentlichte, eingehende Kritik derfelben be-
fprochen: auf die Kritik Harn.'s antwortet Z. mit der
oben genannten Brofchüre. Bei aller Entrüftung über
den fcharfen Ton, den Harn, ihm gegenüber angefchlagen,
beweift er von Anfang bis zu Ende am beften das, dafs
er für fleh das Recht, Andersdenkende in giftigen und
verletzenden Worten abzufertigen, in Anfpruch nimmt.
Seiner Sache wird er durch dies Pamphlet nicht gedient
haben. Er verzichtet auf den Disput über Einzelheiten;
er greift nur einige Hauptfragen heraus. Sehr breit und
advocatorifch fucht er zu rechtfertigen, dafs er feine
Aufgabe als Gefchichte nicht eines von dogmatifchen
Vorftellungen wie über Infpiration umgebenen NTlichen
Kanons, fondern einfach einer gottesdienftlich gebrauchten
und heilig geachteten Sammlung gefafst habe; aber
den Werth diefer Erörterung mag man nach der Thatfache
bemeffen, dafs Zahn bei ihrem Abfchlufs nur zwei
offenbare Unwahrheiten vorträgt, die zugleich erhärten,
was man von feiner Befähigung zum Exegeten zu halten
hat. Er imputirt Harn., derfelbe gebe fich S. 3 die Miene
eines Priefters, der an eine Recenfion von Zahn .feine
koftbare Zeit opfert'; ein Blick auf Harn.'s Text ergiebt,
dafs diefer an ein ganz anderes Opfer gedacht hat. Und
fodann verkündet er feierlich, Harn.'s Satz S. 12 (,dafs
— bei Zahn — mit der Sammlung fofort eine durch
das Herkommen begründete Geltung, fowie eine that-
fächliche Unterfcheidung von anderen Schriften gefetzt
fei') bleibe eine Unwahrheit, bis die Stelle feines Buchs
angegeben werde, wo dies ,fofort' zu lefen fei. Nun
aber bezieht fich dies .fofort' bei Harn, gar nicht auf ein
aus Zahn citirtes Zeitwort, fondern auf Zahn's Thun,
wie Harn, es beurtheilt; daher das .fofort' überhaupt
nicht in Z.'s Buch geflieht werden darf; und Harn.'s Ur-
theil ift richtig; denn Niemand konnte bisher aus Z. er-
fehen, dafs er Sammlung und andere Schriften überragende
Geltung der NTlichen Bücher zeitlich getrennt
haben will. Nicht anders fleht es um die ,Verdrehungen
fchlimmfter Art' (S. 21), ,die Unwahrheit' (22 n. 1), die
Harn, verbrochen haben foll, wenn er bei Z. ausge-
fprochen fand, dafs um 200 die Kirche ein einheitliches,
feftgefchloffenes, dem A. T. gleichftehendes, unantastbares
N. T. befafs. Z. will nur gefagt haben, das N. T.
galt als ein abgefchloffenes Ganze, die Abgefchloffen-
heit der Sammlung wurde behauptet; er habe ,nicht
eine objective Beschreibung der damaligen Befchaffen-
heit des N. T.'s, fondern Befchreibung einer damals weitverbreiteten
Vorftellung von demfelben gegeben'. — Und
wie lieft man S. 429? Die Kirche befafs um 200 ein
! N. T. allerwärts, apoftolifche Schriften, Vorlefebücher