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Ausgabe:

1890 Nr. 26

Spalte:

644-645

Autor/Hrsg.:

Niese, Benedictus (Ed.)

Titel/Untertitel:

Flavii Iosephi opera. Vol. IV. Antiquitatum iudaicarum libri XVI - XX et vita 1890

Rezensent:

Schürer, Emil

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643

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 26.

644

Harnack der Hellenifirungsprocefs des Chriftenthums
vollzogen hätte, eine ziemlich mifsliche Sache fein'.

Diefe Ausführung hat mich in Erftaunen verfetzt;
denn was Kolde hier darlegt, find, wie jeder
Lefer meines Buches wiffen mufs, meine Gedanken
(f. Bd. I 3. Aufl. S. 39— 54)1), und es ift mir
nicht bekannt, dafs fie vor mir Jemand in die Dogmen-
gefchichte eingeführt hat. Natürlich freue ich mich, dafs
Kolde fie mir abnimmt — fie müffen wohl fehr einleuchtend
fein —; aber unfafslich ift es mir, dafs er fie
als fein Eigenthum in Anfpruch nimmt und gegen mich
ausfpielt. Das Erfte würde genügen, und ich hätte dazu
gefchwiegen; aber dafs er behauptet, dafs man dem ngwrov
rpevöog noch immer in derDogmengefchichte folge, welches
er hiermit aufgedeckt habe, ift eine Verkehrung desThat-
beftandes, wie fie mir noch nicht begegnet ift. Die nun
bei Kolde unmittelbar fich anreihende Satzgruppe lautet:
,Allein (von dem Hellenifirungsprocefs) darf ich hier
nicht handeln, und nur im Vorbeigehen will ich bemerken
, dafs ich von der Entwickelung im Grofsen und
Ganzen gerade die entgegengefetzte Vorftellung habe,
und dafs m. E. an der vielbefprochenen Hypothefe
doch nur fo viel wahr ift, als es fich von felbft verfteht,
dafs das beginnende chriftliche Erkennen, indem es nach
einer Art von wiffenfchaftlicher Faffung ftrebte, fich in
denjenigen erkenntnifstheoretifchen, ja auch metaphy-
fifchen Bahnen und Formen bewegte, welche es vorfand.
Das fcheint mir fo felbftverftändlich, dafs es mir völlig
unbegreiflich wäre, wenn es anders gewefen wäre. Das
ift nie anders gewefen und wird auch nie anders fein.
Und damit ift über den Werth des Dogmas noch nichts
ausgefagt'. Schnell lebendes Zeitalter! Im Handumdrehen
find neue Erkenntnifse zu Trivialitäten geworden:
man hat es nie anders gewufst! Auch darüber kann
ich nur meine Freude ausdrücken, wenn ich auch über
die Pflichten des Gefchichtsfchreibers in diefem Falle
anders denke als der Verfaffer. Was es aber mit der
,im Grofsen und Ganzen entgegengefetzten Vorftellung',
welcher der Verf. huldigt, auf fich hat, bleibt dunkel.
Es ift ein Orakelfpruch, den ich nicht zu deuten weifs,
deffen Deutung ich aber nach dem letzten Satze: ,damit
ift über den Werth des Dogmas noch nichts ausgefagt
' leider vermuthen mufs — es bleibt Alles beim
Alten.

Ich glaube gezeigt zu haben, dafs fich der Verf., indem
er eine ihm unbequeme Richtung in der kirchen-
hiftorifchen Arbeit cenfurirt, ftillfchweigend einige ihrer
wichtigften Ergebnifse angeeignet hat. Diefe Thatfache
wiegt fchwerer als die Cenfur, der es an Kraft und
Wahrheit gebricht. Auf diefem Wege werden wir nicht
weiter kommen. Wie follen wir von einer Kritik lernen,
die fich in allgemeinen Reden ergeht und, wo fie concret
wird, uns nicht berichtigt, fondern ausfchreibt?

Berlin. A. Harnack.

1) S. 48: ,Eben defshalb ift die apoftolifch-katholifche Glaubenslehre
in ihrer Vorbereitung und Begründung keine Fortfetzung deffen,
was man, freilich auch fchon fehr Disparates vereinigend, als .biblifche
Theologie des N. T.'s' zu befchreiben pflegt. Nicht die ,biblifche Theologie
', auch wenn man fie in verftändigen Grenzen hält, ift die Voraus-
fetzung der Dogmengefchichte — für die Controverfen, welche das apo-
ftolifche Zeitalter innerhalb des jüdifchen Chriftenthums bewegt hatten,
hatten die Chriften aus den Heiden kein Verftändnifs —, fondern die
Vorausfetzungen find in gewiffen Grundgedanken, beller Motiven des
Evangeliums, in dem jeder Deutung fähigen, in Hinblick auf Chriftus
und die evangelifche Gefchichte zu interpretirenden A. T. und in dem
griechifchen Geifte gegeben'. Ebenfo habe ich in dem Abfchnitt
über den Gemeinglauben der älteften Heidenchriften (S. 125—186) nicht
die Lehre der einzelnen apoftolifchen Väter dargeftellt, fondern habe
verflicht, nur das ihnen Gemeinfame darzuftellen unter behutfamer Be-
rückfichtigung der älteren und der fpäteren Literatur.

losephi, Flavii, opera, edidit et apparatu critico instruxit
Benedictus Niese. Vol. IV. Antiquitatum iudaicarum
libri XVI—XX et vita. Berlin, Weidmann, 1890. (X,
389 S. gr. 8.) M. 14. —

Ueber Niefe's Jofephus-Ausgabe hat Ref. zuletzt in
Nr. 4 diefes Jahrganges berichtet. Der vorliegende vierte
Band enthält Buch XVI—XX der Archäologie nebft der
Vita, während Buch XI—XV für den noch nicht er-
fchienenen dritten Band vorbehalten find. Die hand-
fchriftliche Ueberlieferung ift leider gerade für die letzten
fünf Bücher der Archäologie, welche von der Regierung
des Herodes bis zum Jahr 66 nach Chr. gehen, alfo
für den chriftlichen Theologen ein hervorragendes Inter-
effe haben, eine befonders dürftige. Niefe kann nur vier
in Betracht kommende Handfchriften namhaft machen,
und von diefen ift die befte, ein Palatinos saec. X oder
IX, defect: es fehlen Buch XVIII—XX. Für diefe drei
Bücher ruht alfo Niefe's Text nur auf drei Handfchriften:
einem Ambrosianus saec. XI, einem Mcdiceus saec. XV,
und einem Vaticanus saec. XIV (datirt vom J. 1354 n.
Chr.), wozu dann noch die Epitomc und der alte Lateiner
kommen.

Da eine genauere Befchreibung und Würdigung der
Handfchriften erft in den Prolegomenis zum dritten
Bande gegeben werden foll, fo mufs auch Ref. fich ein
näheres Eingehen auf diefelben für fpäter vorbehalten.
Vorläufig fei nur an einigen Beifpielen gezeigt, wie werthvoll
und wichtig fich Niefe's kritifche Berichtigung des
Jofephus-Textes für manche hiftorifche Einzelfragen erweift
.

Die Heiraths-Gefchichte des Herodes Antipas und der
Herodias erzählt bekanntlich Jofephus auf folgende Weife.
Herodes Antipas lernte die Herodias als Frau feines
Bruders kennen und verfprach ihr die Heirath. Von
diefem Plane erhielt die bisherige Gemahlin des Antipas,
eine Tochter des Araberkönigs Aretas, Kenntnifs und
fann darauf, zu ihrem Vater zu entfliehen. Ohne ihrem
Gemahle zu fagen, dafs fie fein geheimes Abkommen mit
Herodias erfahren habe, bat fie ihn, dafs er fie nach
Machaerus bringen laffe, welches damals ihrem
Vater gehörte. Antipas that dies arglos; die Frau
aber entfloh nun zu Aretas und klagte diefem ihr Leid.
In diefer Erzählung ift von jeher aufgefallen, dafs Machaerus
dem Araberkönig gehört haben foll (der
herkömmliche Text lautet: »lg zhv MayaiQorvxa rote
[Bekker conj. rbv xcp] xiazql avzrjg vjiozelfj). Wir wiffen,
dafs es vorher und nachher den jüdifchen Fürften gehört
hat. Herodes der Grofse erbaute dort einen prachtvollen
Palaft und verfah die Stadt mit ftarken Feftungswerken;
und Herodes Antipas liefs nicht lange nach jener Heirath
Johannes den Täufer dafelbft gefangen fetzen. Soll
es in der Zwifchenzeit wirklich dem Araberkönig gehört
haben? und wie konnte dann Antipas feine Gemahlin
dorhin bringen laffen, ohne irgendwelchen Verdacht zu
fchöpfen? Die Kritiker haben darüber fehr verfchiedene
Combinationen aufgeftellt, während Einzelne (Hitzig und
Ref.) bereits die Vermuthung ausgefprochen haben, dafs
der Jofephustext nicht in Ordnung fei (f. meine Gefch.
des jüd. Volkes I, 362 f. 364 f.). Wie berechtigt diefe
Vermuthung war, zeigt nun Niefe's Ausgabe. Nach ihm
lautet der Text Antt. XVIII, 5, 1: >) öe, 7iqoaneozäl/M
yaq ex nlet'ovog elg xbv MaraiQovi'za xm ze 7iaxqi avxitg
vnozelel, 7myz(nv elg xipv ndoi7roQi'cxv Irtoiiiaoiitviov vnh
xov ozQuzrjyov cliict xe 7iaqvx> xai dcpwQitCtzo elg zl]v 'Xga-
ßictv xoxndJJ xwv ozQctxrjyüv ex dtadr>xr}g 7iaQxlv xe vjg
xov naxega 77 xuyng xai. avrw xi)v 'Hgiödnv öidvotav
erroauv. Hier ift gar nicht' davon die Rede, dafs
Machaerus dem Araberkönig gehört hat, fondern im
Gegentheil vorausgefetzt, dafs es dem Antipas gehört
habe. Seine Frau hatte vorher Boten gefchickt ,nach
Machaerus und an das ihrem Vater Unterthänige*
(== an die ihrem Vater unterthänigen Stämme). Und