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Ausgabe:

1890 Nr. 25

Spalte:

636

Autor/Hrsg.:

Döllinger, Joh. Jos. Ign. v.

Titel/Untertitel:

Briefe und Erklärungen über die Vaticanischen Decrete 1869 - 1887 1890

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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635

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 25.

636

Zwickauer Propheten — (welche Tuchmacher waren,
S. 128, die Webergilde ift aber auch eine Hauptträgerin
jener geheimen evangelifchen Oppofition, S. 318)— und
Thomas Münzer's, welche zwar nicht Vertreter der böh-
mifchen Brüder waren, fondern den Reften jener Ketzer-
Gemeinden angehörten, die fich in den vereinfamten Ge-
birgsthälern des Erzgebirgs und Böhmerwaldes aus
früheren Epochen behauptet, im Laufe der Zeit aber
jede Fühlung mit den Brüder-Gemeinden im Reich und
in Böhmen verloren hatten (S. 128): als fie in Luther den
Entfchlufs zur Reife brachten, alle Verbindung mit den
älteren Gemeinden abzubrechen, da nahm die entscheidende
Entwickelungsphafe der Reformation ihren Anfang
. Nicht nur die böhmifchen Brüder, die ihn bis
dahin als einen der Ihrigen angefehen hatten, wandten
fich von da an von ihm ab, fondern auch Staupitz wurde
ihm entfremdet, wie dies befonders aus feinem letzten
Brief an Luther vom 1. April 1524, namentlich aus dem
Schlufs desfelben deutlich hervorgehen foll. (Aber die
dort ausgefprochene Klage, dafs Unzählige das Evangelium
mifsbrauchen zur Freiheit des Fleifches, hat ja
auch Luther felbft oft genug erhoben!) Auch in Nürnberg
trat nun in den Parteiverhältnifsen ein völliger Um-
fchwung ein: die Staupitzianer, mit Ausnahme des Einen
Lazarus Spengler, zogen fich von Luther zurück, ja
traten ihm feindfelig gegenüber. Denn foweit kam es,
,dafs in aller Stille damals Erwägungen und Erörterungen
über die Frage, wie man auf den Lauf der Dinge unter
Mitwirkung des Staupitz Einflufs nehmen könne, ftatt-
gefunden haben' (S. 180), wie Keller aus verfchiedenen Gründen
glaubt vermuthen zu follen, von denen er jedoch —
foviel ich wenigftens fehe — nur Einen anführt und auf
diefen wiederum feine ganze Anficht flützt. Am 2. Mai
1524 Schreibt nämlich Luther an Spalatin bei Gelegenheit
der Mittheilung, dafs er den letzten Brief Staupitzens
noch nicht beantwortet habe: dafs, wie er höre, zu Nürnberg
grofse Drohungen an den Tag kämen {ingentes minas
Nurmbergae parturiri). Aber wenn Luther das hätte
fagen wollen, was ihn Keller fagen läfst, würde er dann
nicht Nurmbergensesftatt Nurmbergae gefchrieben haben?
Die beiden Sätze Sehen in gar keinem Zufammenhang.
(Keller liefs fich durch die falfche Interpunktion de Wette's
II, 509: Staupitio nondum rcspondi, audio etc., wofür
er freilich nicht verantwortlich zu machen ift, zu feiner
gewagten und unhaltbaren Hypothefe verleiten; in dem
in Zerbft befindlichen Originale fleht: respondi. Audio
etc. — nicht blofs der Punkt, fondern auch der Zwischenraum
zeigt klar, dafs etwas Neues beginnt; wir würden in
diefem Fall eine neue Zeile anfangen.) Die Sätze beziehen
fich wohl auf Stellen in dem uns nicht erhaltenen Spala-
tin'fchen Briefe, die Luther hier mit kurzen Worten nach-
fchriftlich beanwortet, wie er dies oft thut, fo dafs wir
häufig die Veranlaffung und die nähere Beziehung der
Worte nicht mehr feftftellen können. Was es aber mit
diefen ,grofsen Drohungen zu Nürnberg' auf fich hat,
erfehen wir wohl am bellen aus der um die nämliche
Zeit gefchriebenen commentatiuncula Pirkhcimer's deper-
secutionibus evangelicae veritatis {opp. ed. Goldast. p. 385),
wo er z. B. fagt: ,Als Dürften und Edle fich [nach Schlufs
des Reichstags 18. April 1524] entfernt hatten, fingen fie
[die römifche Partei] das alte Unwefen wieder an, und
fchrieben nicht nur gottlofe und drohende, fondern
auch von Lügen ftrotzende Decrete zufammen' etc. Luther
konnte mit diefen (Drohungen' auch recht gut — und das
wl mir das Wahrfcheinlichfte dünken — an Drohungen
denken, die gegen den Kurfürften fich richteten; es war
1524 nicht das erfte Mal, dafs die Gegner drohten, man
müffe ihn wegen des Schutzes, den er Luther angedeihen
liefs, der Kur entfetzen. Nachdem Keller auf diefe
Weife die Sodalitas Staupitiana fich von Luther hat
loslöfen und in feindliche Oppofition zu ihm hat treten
laffen, beftanden in Nürnberg jetzt drei Parteien: die
Römifchen, die Lutherifchen und die Evangelifchen. ,Ich

fage ausdrücklich: drei Parteien, denn die Evangelifchen
bildeten zwar keine Kirche, aber doch eine Partei, die
fich fowohl den Lutherifchen wie den Römifchen gegenüber
als befondere Partei fühlte' (S. 183). Beweis hiefür
— wiederum einziger! — die bekannte Schrift von
Hans Sachs aus dem Jahre 1524: ,Ein Gefpräch eines
Evangelifchen Chriften mit einem Lutherifchen, darin
der ärgerliche Wandel etlicher, die fich lutherifch nennen,
angezeigt und brüderlich geftraft wird'. Aber auch hier
hat fich Keller durch feine leitenden Ideen von einer
nüchternen Beurtheilung diefer Schrift, wie fie z. B.
neuerdings W. Kawerau in feinem ,Hans Sachs und die
Reformation' (Schriften des Vereins für Refgefch. XXVI)
S. 62 ff. giebt, abhalten laffen. An die Spitze diefer (Evangelifchen
Partei' tritt nun bald der 1523 nach Nürnberg
als Rector der Sebaldus-Schule berufene Joh. Denk, und
von ihm werden wir auf die Anfänge der (Taufgemeinden',
der fogen. Wiedertäufer hinübergeführt. Hier befindet
fich nun Keller auf einem Gebiete, das er als Specialift
beherrfcht, und bringt aus dem grofsen Schatz feiner Be-
lefenheit manches Neue bei, wofür ihm der Ref. in Wahrheit
recht dankbar ift, während er fich gegen feine An-
fchauung und Beurtheilung Staupitzens, Luther's und der
Anfänge der Reformation nur ablehnend verhalten konnte.

Oberrad. Enders.

Döllinger. I. v., Briefe und Erklärungen über die Vaticani-
schen Decrete 1869—1887. München, Beck, 1890. (Will,
163 S. 8.) M. 2. 25; geb. M. 3. —

Am 10. Januar 1890 ift der Neftor der katholifchen
Theologen Deutfchlands, I. von Döllinger, neunzig Jahre
alt geftorben, bis an das Ende beharrend in feiner Ueber-
zeugung von der Verwerflichket derVaticanifchen Decrete
vom 18. Juli 1870 und daher ausgefchloffen von der Kirche,
deren Gefchichte er wie kein anderer kannte, deren Lehre
er aus voller Ueberzeugung durch viele Jahrzehnte hindurch
mannhaft vertheidigt hatte. Niemals freilich die Lehren
ei nung von der Unfehlbarkeit! Wie Döllinger nun,
als die Frage brennend wurde, gegen eine Entfcheidung
im bejahenden Sinne auftrat, wie er vor dem Vaticani-
fchen Concile, während desfelben und nachher die ftets
von ihm gehegte, antiinfallibiliftifche Ueberzeugung aus-
fprach und trotz der über ihn verhängten Excommuni-
cation bis an den Tod nicht verleugnete, zeigen diefe
von feinem treuen Freunde Reufch in Bonn herausgegebenen
Briefe und Erklärungen über die Vaticanifchen
Decrete, die einen äufserft werthvollen Beitrag zu einer
Lebensbefchreibung des berühmten, durch feine Stand-
haftigkeit ausgezeichneten Mannes enthalten. Es finden
fich darunter neben den früher fchon einzeln gedruckten
Meinungsäufserungen Döllinger's höchft intereffante, bisher
nicht veröffentlichte Briefe an den Nuntius, an den
Erzbifchof von Steichele und an eine hochgeftellte Dame
fammt den Briefen, durch welche fie veranlafst worden
find. Auch einen Brief des Bifchofs Hefele hat der
Herausgeber gegen feine ,urfprüngliche Abficht' ,mit abdrucken
laffen, weil der Abfender felbft fich damit ein-
verftanden erklärt hat und weil in einem in mehreren
Zeitungen abgedruckten Artikel angedeutet war, Döllinger
's Freunde würden wohl nicht wagen, diefen von
ihm unbeantwortet gelaffenen Brief zu veröffentlichen'.
Er ift vom 10. Juni 1886 datirt und enthält eine eindringliche
Bitte an Döllinger, ,zur Freude von Engeln und
Menfchen' feinen ,Frieden mit der Kirche', welche er ,fo
lange und fo ruhmvoll' vertheidigt habe, zu machen.
,Krönen Sie durch diefen Frieden die ruhmvolle Laufbahn
Ihres fo reich gefegneten Lebens' — heifst es am
Schluffe. Es mag dem ehrwürdigen Greife fchwer geworden
fein, diefer Bitte nicht zu entfprechen, aber er
konnte nicht anders — um feines Gewiffens willen.

Krefeld. F. R. Fay.