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Ausgabe:

1890

Spalte:

561-568

Autor/Hrsg.:

Rohde, Erwin

Titel/Untertitel:

Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen 1. Hälfte 1890

Rezensent:

Duemmler, Ferdinand

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. zu Berlin, und D. E. Schürer, Prof. zu Kiel.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

m 23.

15. November 1890.

15. Jahrgang.

R oh de, Pfyche. 1. Hälfte (Dümmler).
Liefe brecht, Beiträge zur Jefaiakritik (Siegfried
).

Bachmann, Präparation und Kommentar zu

den Pfalmen, 1. Heft (Siegfried).
Cramer, De Brief van Paulus aan de Galatiers

(H. Holtzmann).

Sabatier, La vie intime des dogmes (Harnack
).

Kukula, Die Mauriner Ausgabe des Augultinus
(Reufch).

Lea, Chapters from the Religious History of
Spain (Reufch).

Veen, Zondagsrust en Zondagsheiliging in de
zeventiende eeuw (Eck).

Dal ton, Die evangelifche Kirche in Rufsland
(Eck).

Janffen, Zeit- und Lebensbilder (Harnack).
Neue Chriftoterpe (Kühn).

Rohde, Erwin, Pfyche. Seelencult und Unfterblichkeits-
glaube der Griechen. 1. Hälfte. Freiburg i. Br.,
J. C. B. Mohr, 1890. (294 S. gr. 8.) M. 7. —; feine
Ausg. M. 8. —
Gleich dem rühmlich bekannten Buche über den
griechifchen Roman vereinigt auch dies Werk Rohde's
V orzüge, welche fich feiten beifammen finden. Das eindringende
Studium des Stoffes ordnet fich den leitenden
Gefichtspunkten bei aller Kunftfertigkeit fo natürlich
unter, dafs jeder gebildete Lefer aus dem Buche reiche
Anregung und Belehrung fchöpfen wird. Der Reiz,
welchen die Leetüre ausübt, beruht zum Theil darauf,
dafs hier zum erften Male Gefichtspunkte, welche zuerft
auf dem Gebiete der vergleichenden Culturgefchichte
aufgetreten find, für das griechifche Alterthum fruchtbar
gemacht werden. Das Buch fetzt die Arbeiten Tylor's,
Spencer's, Lippert's und anderer voraus, aber ohne fich
in der Beweisführung auf fie zu flützen (S. 156 Anm. 2).
Die Auswüchfe, welche die animiftifchen Theorien bei
der zu rafchen Verwerthung ungleichartigen und ungerichteten
Materials naturgemäfs getrieben hatten, hatten
es dem humaniftifchen Freunde des Alterthums, der fich
feine Kreife nicht ftören laffen wollte, leicht gemacht,
mit einem Schein von Recht diefe ganze Betrachtungsweife
abzuweifen, obwohl lieh bereits im Alterthum be-
achtenswerthe Anläufe zu ihr finden. Rohde liefert den
Nachweis, dafs auch die Zeugniffe griechifchen Seelenglaubens
allein auf denfelben primitiv finnlichen, oft
kindlich rohen Anfchauungen beruhen, welche wir bei
fogenannten Naturvölkern noch heute in Kraft fehen.
Wie überhaupt in der Religionsgefchichte ift auch
im griechifchen Seelenglauben keine geradlinige abge-
fchloffene Entwickelung zu beobachten. Alterthümlich
rohe Anfchauungen brechen nach der Culturarbeit von
Generationen wieder hervor, die Sitte hält Gebräuche
und Begehungen mit Zähigkeit feft, welche im Glauben
der Zeit längft keine Rechtfertigung mehr finden und
daher mit Sicherheit auf frühere Zuftände fchliefsen laffen.

Wie die griechifche Cultur überhaupt, fo tritt uns
auch der Seelenglaube in der älteften Urkunde, den
Homerifchen Gedichten, fogleich in einer Geltalt entgegen
, welche eine lange und hohe Entwickelung verräth,
die aufklärende Arbeit von Gefchlechtern vorausfetzt.
Zwar unterfcheidet fich der Homerifche Seelenbegriff
in Nichts von der primitiven Vorftellung andrer Völker.
Die Seele, welche mit dem Athem den Körper verläfst,
ift nicht etwa das gefonderte Organ der geiftigen Functionen
— diefe kommen ihr fo wenig wie dem Körper
allein zu — fie ift vielmehr ein vollftändiger Doppelffänger
des Menfciien, fein fchattenhaftes Abbild; fichtbar

Phänomenen des Traumlebens liegt in der Erfcheinung
des erfchlagenen Patroklos vor Achilleus noch klar zu
Tage. Indeffen in der Vorftellung vom Wirken der ab-
gefchiedenen Seelen zeigt fich ein bedeutfamer Unter-
fchied zwifchen Homer und dem Glauben primitiver
Völker. Während bei jenen die Seelen einen mächtigen
und unheimlichen Einflufs auf das Gefchick der Ueber-
lebenden behalten und durch beftändige Befchwichtigung
gnädig erhalten werden müffen, fchliefst fich bei Homer
nach der Verbrennung die Pforte des Aides für immer
hinter ihnen, fie können in die Erdengefchicke nicht
mehr eingreifen und haben folgerichtig auch keinen Cult.
Wohl treffen wir auch bei den Griechen nach Homer
einen entwickelten Seelen- und Ahnencult voll aber-
gläubifcher Furcht vor der Macht der Verdorbenen.
Diefe Aufeinanderfolge pflegt von denjenigen betont zu
werden, welche allen Seelencult erft aus verfallenem
Göttercult entftanden fein laffen. Ebenfo unbewiefen
ftellen andererfeits viele Ethnologen den Seelencult, da
er bei manchen Naturvölkern im Vordergrund fleht, an
die Spitze aller Culte, obwohl uns ja auch bei den fogenannten
Naturvölkern bereits Zerfetzungsformen entgegentreten
und ältere Stufen völlig verfchollen fein
könnten. Die Frage über die Urfpriinglichkeit der Homerifchen
Vorflellungen läfst fich zum Glück aus Homer
felbft beantworten, da das Epos noch zahlreiche Rudimente
von Gebräuchen zeigt, welche einen lebendigen
Glauben an die Macht und Furchtbarkeit der Abgefchie-
denen vorausfetzen.

Mit vollem Rechte führt Rohde aus, wie die Blut-
ftröme, mit welchen die Leiche des Patroklos umgeben
wird, fleh nicht aus blofser Pietät erkären, fondern nur
aus Furcht vor der Rache des mächtigen Geiftes. Sehr
fein bemerkt er auch, wie dem Sänger der Ilias die dem
Begräbnifs des Patroklos zu Grunde liegende Vorftellungs-
weife fchon fremd, ja unheimlich ift, fo dafs er über das
graufige Menfchenopfer mit ganz unepifcher Kürze hinweggeht
; er habe unter dem Zwange älterer Lieder oder
veralteter Bräuche geftanden, welche fich vielleicht nur
bei Fürftenbeflattungen erhalten hätten. Man wird beides
annehmen müffen. Schon Ariftoteles hatte die Frage
aufgeworfen, ob Achill die Leiche Htktor's aus Graufam-
keit um den Grabhügel des Patroklos fchleife, und mit
Recht verneint unter Hinweis darauf, dafs diefe Sitte
noch zu feiner Zeit in Theffalien beftand (schol B ad.
Q 15)l). Wir werden alfo auch für die übrigen grauenhaften
Begehungen bei jener Beftattung anzunehmen
haben, dafs fie zur Zeit .Homer's' von der ThclTalifchen
Heimath her im Brauche fo feft fafsen, dafs auch der
ionifche Sänger trotz menfehlifchen Schauders fie nicht

und erkennbar dem Schlafenden, nur dem Griffe fich 1 .) Das Schleifen dürfte alfo eh« aU n^WgBches Todtenopfer ■
entziehend. Der Urfprung diefer Vorftellung in den | als Mifshandlung zu falten fein (Pfyche S. 26, 1) «kopier,

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