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Ausgabe:

1890 Nr. 22

Spalte:

551-555

Autor/Hrsg.:

Wiese, L.

Titel/Untertitel:

Der evangelische Religionsunterricht im Lehrplan der höheren Schulen. Ein pädagogisches Bedenken 1890

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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551 Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 22. 552

die fcharfe Gliederung und BefHmmung der Begriffe,
die den klaren Fortfehritt der Entwickelung niemals
vermiffen läfst.

Zwar gerade in diefer Begriffsbeftimmung ift ein
Punkt, vielleicht der einzige, über den ich mit dem Verf.
rechten möchte. In dreifachem Sinn fafst er das Wort
,Ideal'. ,Einmal verfteht man unter Ideal ein Ziel, das
zu hoch ift, als dafs es jemals erreicht werden könnte'.
,Sodann nennen wir Ideale diejenigen Perfonen und Er-
fcheinungen, in denen fleh der ihnen innewohnende Begriff
möglichft oder ganz vollkommen darftellt'. Das j
Ideal im dritten und höchfter Sinne ift ,ein Urbild aus
dem Bereich des Heiligen und Wahren, des Guten und
Schönen, das von der Phantafie in all feiner Herrlichkeit
erkannt wird, und uns nun derart bezaubert, dafs wir
alles daran fetzen, ihm nachzuftreben'. Aber ift das
wirklich ein dreifacher Sinn? Ift es nicht der an zweiter
Stelle genannte, der auch die anderen Bedeutungen in
fich fafst? Je nachdem man den einzelnen Begriff irgend
welcher Art, oder den Gefammtbegriff des Menfchen
nach feiner hohen Beftimmung in's Auge fafst, wird dann
,Ideal' in jener mehr nüchternen zweiten oder in feiner
umfaffenden dritten Bedeutung genommen werden. Die
Unerreichbarkeit ift dann eine Eigenfchaft, die aus den
täglichen Erfahrung abgeleitet ift. Darin aber hat Verf.
Recht, dafs er die Einfeitigkeit betont, mit der z. B.
Schiller das Ideal im Schönen fucht, indem er freilich
das Schöne felbft fo weit fafst, dafs es auch fittliche Güter
mit in fich fchliefst. Der volle Idealismus wird das
höchfte Gut in Gott finden 'und eben in ihm die Bürgschaft
fehen, dafs er kein leerer Wahn ift. Was dann
über Idealismus in feinem Verhältnifs zum Realismus und
die Nebeneinanderftellung beider im .Wallenftein' wie
im ,Taffo' gefagt wird, ift ebenfo vortrefflich, wie die
Durchführung des Gedankens, dafs der rechte Optimismus
im Leben der Glaube an das Ideal ift, während der
Peffimismus eben aus dem Unglauben an das Ideal
flammt.

Was hier im Allgemeinen gefagt wird, wird noch
auf die verfchiedenen Gebiete der Religion, der Wiffen-
fchaft, des Lebens, der Kunft angewendet. Wir können j
nur dankbar beiftimmen undwünfehen, dafs unfere Jugend
aller Stände und Berufsarten fich von diefem Idealismus
durchdringen laffen möge.

Leipzig. Härtung.

Wiese, Dr. L., Der evangelische Religionsunterricht im Lehrplan
der höheren Schulen. Ein pädagogifches Bedenken
. Berlin, Wiegandt & Grieben, 1890. (79 S. gr.
8.) M. I.—

Der hochverdiente, ehrwürdige Herr Verfaffer be-
fchenkt uns aus der thätigen Mufse feines Alters heraus
mit einer Schrift, welche bereits in Fachkreifen berechtigtes
Auffehen erregt hat und zu mancherlei anregen- |
den und heilfamen Erörterungen Anlafs geben wird. Der |
Inhalt ift kurz folgender.

Aus der gegenwärtigen Stellung des Religionsunterrichts
innerhalb des höheren Schulwefens und aus feinem
verhältnifsmäfsig geringen Ertrage für das praktifche j
Leben, welcher in Kürze treffend dargelegt wird, mufs auf j
die Reformbedürftigkeit diefes Unterrichtszweiges ge-
fchloffen werden (1 —10). Ein knapper und lichtvoller
Ueberblick über die Gefchichte des Religionsunterrichts
an höheren Schulen (11—29) zeigt die wechfelnde Beein- 1
fluffung der Schule und ihrer religiöfen Unterweifung
von Seiten der Kirche, des Staates und der allgemeinen
Bildung und Zeitgefchichte in den verfchiedenen Zeitaltern
. Darauf wird das Ergebnifs des gefchichtlichen
Verlaufs zufammengefafst, und die heutige Praxis und 1
Methode, die Aufgabe und Grenze des Religionsunterrichts
auf der Schule fowie feine Stellung im Ganzen der j

Schulordnung und im Verhältnifs zu dem eigentlich
/kirchlichen' (d. h. Confirmanden-) Unterricht und zur
Confirmation kritifch beleuchtet, und zwar fo, dafs dabei
in erfter Linie der Religionsunterricht nach der Confirmation
nebft den dafür vorhandenen Lehrkräften, Lehrbüchern
, Lehrftoff und Lehrweifen in Betracht gezogen
wird, auch der kirchliche Charakter diefes Schulunterrichts
im Allgemeinen fowie der Schulen, Lehrercollegien
und Erziehungsanftalten im Befondern (30—45). Im
Anfchlufs daran entwickelt Wiefe — und dies ift die
praktifche Spitze der Brofchüre — feinen Abänderungs-
vorfchlag (46—57), für deffen Ausführung er im fünften
Abfchnitt (57—74I eine Reihe werthvoller Winke und Bemerkungen
giebt, während der Schlufs(74—88) gegenüber
einigen angedeuteten Bedenken Nothwendigkeit, Zweck
und Ausfichten der vorgefchlagenen Umgeftaltung zur Erwägung
empfiehlt. Seinen Vorfchlag fafst Wiefe felbft
in die Sätze zufammen: ,1. Nach der Einfegnung
wird den Schülern eigentlicher Religionsunterricht nicht
mehr ertheilt. 2. Was dafür zur Erweiterung und Vertiefung
der religiöfen Bildung eintritt, wird nicht in der
fchulmäfsigen Weife der andern Gegenftände behandelt,
hat keine Einwirkung auf die Verfetzung und wird in den
Cenfuren nicht erwähnt. 3. Ebenfo wird beim Abiturientenexamen
in der Religion nicht geprüft, und in das Ab-
gangszeugnifs ein Urtheil darüber nicht aufgenommen'.
| Wiefe will die fchulmäfsige Behandlung der Religion,
aber nicht ihre Behandlung überhaupt und ihre bildende
Kraft von der oberen Stufe der Schule verbannen. Er
denkt fich die religiöfe Unterweifung oder Weiterbildung
auch nach der Confirmation noch obligatorifch, und
zwar ,unabhängig von den fonftigen Claffenunterfchieden
in befonderen, etwa drei Stufen darfteilenden Abtheilungen
'. Ueber den Stoff foll fich die Schulbehörde mit
der kirchlichen Behörde, über feine Vertheilung die
Gruppe der betheiligten Lehrer einigen. Die Lehrweife
foll weder den Charakter der Erbauungsftunde, noch den
von akroamatifchen, akademifchen Vorträgen, noch auch
fchulmäfsigen Charakter tragen; fie foll nicht fyftematifch-
conftruetiv, nicht mit zu viel wiffenfehaftlichen Einzelheiten
belaftet fein, aber die Schüler felbft zu Fragen
anregen. Kein Aufgeben und Abfragen, keine feftbe-
grenzten Penfen, kein Fordern fchriftlicher Arbeiten (wo
kommt das noch vor?), fondern alles Freiwilligkeit und
felbftändiges Intereffe! Dazu ein Lehrbuch — aber
nicht ein Leitfaden und nicht ein Compendium — zum
Repetiren, Nachfchlagen, Nachdenken und Selbltftu-
dium!

Man kann fich zunächft einer warmen Sympathie
für faft alle diefe Vorfchläge und Gefichtspunkte nicht
erwehren. Aber es ift doch ein Glück, dafs die Ver-
werthung der feinen Beobachtungen, reifen Erfahrungen
und geiftvollen Gefichtspunkte, welche diefes Büchlein
bietet, nicht nothwendig an die Verwirklichung des hauptfächlichen
Reformplanes gebunden ift. Denn, fo fehr
wir hoffen, dafs alle Betheiligten alle die treffenden, anregenden
und bedeutenden Ausführungen aus der Brofchüre
felbft kennen lernen, fo flehen wir dem prak-
tifchen Vorfchläge Wiefe's doch mit Bedenken gegenüber,
von denen wir hier nur die hauptfächlichften hervorheben
wollen.

Zuerft erfordert die Verwirklichung diefes Planes
lange Zeit und die weitläufigften Vorbereitungen. Wie
viel ift zunächft noch zu befchaffen, ehe man an feine
Durchführung gehen könnte: eine fefte Ordnung für
Grenzen, Inhalt und Gang des Confirmandenunterrichts
von Seiten der kirchlichen Behörde und womöglich eine
einheitliche Fixirung der Confirmation auf ein ganz be-
ftimmtes Lebensjahr oder eine beftimmte Schulclaffe (—
und wenn die zur Confirmation vorbereiteten Schüler
fitzen bleiben? —); fodann eine völlige Aenderung der
Lehrpläne für den Religionsunterricht auf höheren Schulen
; eine Ordnung des Verhältnifses zwifchen den Schul-