Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1890

Spalte:

525-527

Autor/Hrsg.:

Baader, Frz. v.

Titel/Untertitel:

Baader‘s Gedanken über Staat und Gesellschaft, Revolution und Reform 1890

Rezensent:

Köhler, Karl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

525

526

danken einer ,fo ftark peflimiltifch und myftifch gefärbten
Religion', wie das Chriftenthum fei, habe Lotze gerecht
zu werden vermocht. Nur foviel bleibt nach Hartmann
übrig, dafs Lotze dem fpeculativen Theismus (unter
deffen Vertretern S.43 auch [K.Chr.] Planck und [Adolph]
Steudel erfcheinen!) die Grundlage einer Erkenntnifs-
theorie gegeben habe. Der Erkenntnifstheorie und Me-
taphyfik Lotze's wendet fich daher Hartmann in einem
zweiten Theil feiner Schrift zu: er fucht nachzuweifen,
dafs durch die Ontologie Lotze's der Zwiefpalt zwifchen
dem Monismus und dem Princip des Fürfichfeins der
Einzelfubftanzen fich hindurchziehe, dafs bei ihm in den
Fragen betreffend Raum und Zeit, fowie den Geltungsbereich
der Denkformen eine realiftifche Auffaffung mit
einer idealiftifchen ftreite, dafs endlich in der Frage
nach der Bewufstheit oder Unbewufstheit des abfoluten
Subjects der Lotze'fche Beweis für die erftere mifsglückt
fei. — Man kann mit der Kritik Hartmann's, foweit fie
Widerfprüche in Lotze's Gedankenentwicklung aufdeckt,
zu einem guten Theil einverftanden fein, trotzdem aber
in der Gefammtbeurtheilung für Lotze gegen Hartmann
eintreten. Denn bei Lotze ringen fich aus den Banden
der fpeculativen theiftifchen Metaphyfik die gefunden
Triebe einer kriticiftifch gerichteten, auf die Erfahrungs-
wiffenfchaften hinlenkenden Erkenntnifstheorie und einer
richtigen Auffaffung von dem Charakter einer religiöfen,
infonderheit der chriftlichen Weltanfchauung überall hervor
. Mag Lotze auch die chrifUichen Grundgedanken
nicht erfchöpfen und befonders das Problem des Uebels
und des Böfen verflachen, doch entfpricht die entfchie-
dene Ueberordnung eines teleologifchen Glaubens über
diefe Räthfel und die energifche Anwendung einer fittlich-
religiöfen Betrachtung auf Welt und Leben nicht nur
den Wünfchen ,freifinniger jüdifcher Theologen', fondern
dem Chriftenthum, während die Einfpannung der teleologifchen
Weltbetrachtung in eine peffimiftifche An-
fchauung vom \ eltganzen dem chriftlichen Glauben zuwider
ift.

Stuttgart. Max R ei fehle.

Baaders, Frz. v.. Gedanken über Staat und Gesellschaft,

Revolution und Reform. Aus fämtlichen Werken
mitgeteilt von Johs. Cl aa fs en. Gütersloh, Bertelsmann,
1890. (VII, 88 S. 8.) M. 1.—

In 225 aus Fr. v. Baader's Werken gezogenen und
ohne eigene Zuthat an einander gereihten, meift kurzen
Sätzen giebt der Herausgeber, wie er fagt, eine ,Rechts-
philofophie und Socialethik im Kleinen'. Fr. v. Baader
(-+- 1841) fteht deFmodernen Zeit fern; gleichwohl kann
man dem Herausgeber nicht Unrecht geben, wenn er
von ihm fagt, er habe in den Gefchichtsereignifsen, die
er erlebte (Revolution, Reftauration, Julirevolution) mit
Scharfblickendem Geifte ,die treibenden letzten Urfachen
und die verborgenen Gefetze erkannt', fo dafs ihm ,die
Gegenwart zum Symbol und Typus der Zukunft wurde',
daher feine Gedanken ,unferer Zeit wie auf den Kopf
gefchrieben' feien. Die Begründung auf die eigenthüm-
Hchen theofophifchen Anfchauungen Baader's tritt in den
mitgetheilten Sätzen wenig hervor. Sie geben die Grundlinien
einer organifchen Staats- uud Gefellfchaftslehre.
Die Betrachtung von Staat und Gefellfchaft als einem
lebendig organifchen Wefen, befeelt von einem ihm allgegenwärtig
einwohnenden ,organifirenden Princip' (S. 3),
daher die Nothwendigkeit eines ,pofitiv organifchen Bandes
' zwifchen Volk und Regenten (anftatt dafs die modernen
Regierungsfyfteme der autokratifchen fchlechten
Willkür,die fchlechte Willkür der Menge'entgegen fetzen),
die Forderung einer organifchen Gliederung der durch
die Revolution in einen ,Grundbrei' aufgelösten Gefellfchaft
(S. 20. 21) find die grundlegenden Gedanken. Staat
und Gefellfchaft follen fich aus dem ftets fich felbft
gleichen Princip heraus in ltetigem Fortgang zu immer

neuer Geftaltung entwickeln, damit folchergeflalt durch
gefunde ,Evolution' die Gefahr der gewaltfamen, zerstörenden
Revolution fern gehalten werde (S. 66 ff.).
Auf dem wirthfehaftlichen Gebiet bekämpft Baader die
Anarchie der entfeffelten Selbftfucht: die wirthfehaftliche
Hilflofigkeit des Einzelnen fei nicht Freiheit (S. 36), und
die daraus erwachfende Herrfchaft des beweglichen Ca-
pitals; er fordert die regelnde Einwirkung des Staates,
welchem die Sorge dafür zukomme, dafs die Arbeit gut
lohnt (S. 44). Baader hat hier, worauf der Herausgeber
hinweift (S. 47), den Standpunkt des fpäter aufgetretenen
Friedrich Lift gegenüber der Freihandelslehre A. Smith's
fchon vorweggenommen. — Es ift bei der Fülle der in
knapper Form zufammengefafsten Gedanken nicht möglich
, auf alles Einzelne zuftimmend oder ablehnend einzugehen
. Im Ganzen wird für Baader's focialpolitifche
Ideen heute auf mehr Verftändnifs zu rechnen fein, als
bei ihres Urhebers Lebzeiten, wo der Gedankenkreis des
Rotteck -Welcker'fchen Staatslexikons die Geifter be-
herrfchte. Man kann nicht umhin, die Geiftestiefe zu
bewundern, womit Baader feiner Zeit in Vielem vorausgeeilt
ift. Faft prophetifch klingt Manches, was er fchon
damals über die herannahende fociale Gefahr und die
allein mögliche Art ihrer Ueberwindung gefügt hat
(S. 70 ff.). Die Aufgabe fei, ,einerfeits das Vertrauen der
erfteren (der Proletarier) der Regierung dadurch wieder
zuzuwenden, dafs fie in letzterer ihren Schirmer und
Helfer anerkennen in der Noth, felbft gegen alle
übrigen Volksclaffen, andererfeits ihre Religiosität wieder
zu wecken, indem man fie mit der Geiftlichkeit, und
zwar nicht blofs in der Kirche wieder in Verbindung
bringt'. (S. 84). Gegenüber einer falfch verftandenen Realpolitik
weift er fehr treffend darauf hin, dafs die idealen
Factoren im Völkerleben gerade die realften find. ,Den
praktifchen Staatsmännern unferer Zeit follte endlich ein
Licht aufgehen über die tiefe Bedeutung und Wirkfam-
keit der nicht materiellen Intereffen der Gefellfchaft, anftatt
in der Meinung zu beharren, dafs die Sache mit
der Beforgung des materiellen Wohlftandes eines Volks
und allenfalls mit der Bereithaltung der Bajonette fchon
abgethan fei' (S. 84). Dafs die focialpolitifche Bedeutung
der Religion ihre volle Würdigung findet, ift von der
Baader'fchen Anfchauungsweife aus nicht anders zu erwarten
. Nicht von der Regierungsform, wie es gemeinhin
angefehen wird, hängt die Wohlfahrt des Staates ab:
man bedenkt nicht, dals alle äufsere Befreiung, welche
diefe gewähren kann, werthlos, ja gefahrvoll ift ohne die
innere, fittliche Befreiung (S. 69). Diefe bringt allein
die Religion, d. h. das Chriftenthum. Das Band zwifchen
Staat und Religion zu löfen ift eine Unmöglichkeit (S. 68);
von einem Rechtsstaat ohne Chriftenthum zu reden nennt
Baader eine Stupidität (S. 55). Das Chriftenthum als die
Religion der Liebe ift die Religion der Freiheit (S. 52);
dafs es den Despotismus begünftige, ift unwahr (S. 54.
Die Verquickung des Chriftenthums mit der politischen
Verfaffung freilich, wie fie feit Conltantin eingetreten ift,
mufs verfchwinden. Religion und Kirche follen nicht
weltlich regieren, aber auch nicht weltlich regiert werden.
Die Kirche darf nicht Nationalkirche, d. h. vom Staate
abhängig werden, wenn gleich das Chriftenthum keineswegs
antinational ift (S. 60 ff.). Daran freilich hat Baader
nicht gedacht, welche ungeheuere Gefahr daraus entftehen
mufs, wenn in die religiöfe Grundlage des Volkslebens
felbft ein klaffender Zwiefpalt kommt, wie das bei uns
feit dem Wiederaufwachen des Ultramontanismus der
Fall ift. Der Gegenfatz der Confeffionen erfcheint ihm
als endgiltig abgethan, fein Wiedererwachen als eine
Sache, welche aufserhalb aller Wahrfcheinlichkeit liege;
es ekele ihn jedes Beginnen an, fagt er, ,die alte Fehde
zwifchen Proteftantismus und Katholicismus wo möglich
wieder anfachen zu wollen' (S. 69). Hier hat fich
Baader über den Standpunkt feiner Zeit nicht zu erheben
vermocht.