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Ausgabe:

1890 Nr. 21

Spalte:

524-525

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Ed. v.

Titel/Untertitel:

Lotze‘s Philosophie 1890

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 21.

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verfchiedenen Wefen wird die Gleichstellung der Natur
mit dem Geifte allerdings abgefchwächt; aber doch ift
bei Kr. in letzter Linie die Liebe Gottes die in allem
Leben fich darlebende Lebensfülle (Nr. 1. S. 258). Wie
dies auch in einer Abfchleifung des Gegenfatzes von
Natur- und Sittengefetz (das Sollen = der Urtrieb; auch
die Natur hat „Urfache zu Reue und Befferung" Nr. 1.
S. 168), in der Auffaffung der Sünde, in der Lehre von
der (Wiederbringung' aller Wefen hervortritt, darauf kann
ich nicht weiter eingehen. Auch der Begriff der Perfön-
lichkeit Gottes verliert in diefem Zufammenhang etwas
von feinem christlichen Inhalt: denn der letztere hängt
nie daran, mit welchem Mafs von Selbftbewufstfein man
Gott ausstattet oder in welchem Verhältnifs man Trans-
fcendenz und Immanenz Gottes balancirt, fondern daran,
wie das Verhältnifs Gottes gegenüber von persönlichen
fittlichen Wefen gedacht wird. — Mit Kr.'s Teleologie
verglichen ift die des christlichen Glaubens befcheidener:
Sie glaubt nicht, dafs ihr ,das Herz aller Dinge' (Nr. 1.
S. 76), wohl aber, dafs ihr Gottes Herz gegen uns Men-
fchen offenbar fei; fie ift aber zugleich kühner: fie lebt
des Glaubens, welchen Kr. für eine Quelle des Aberglaubens
anfleht (Nr. 1. S. 97), dafs die Natur — mag
fie immerhin für Gott auch ihren eigenen Werth haben
— dem Menfchen ,zu Füfsen gelegt' fei. — Eine Teleologie
desGlaub ens'ift diefe Anschauung in der chriftlichen
Religion; darin befteht der Artunterfchied zwifchen
ihr und Kr.'fcher Philofophie: denn diefe will durch eine
,von Gott aus abwärts in Gott' leitende Wiffenfchaft
das abfolute Wiffen von Gottes ewigen Zwecken gewinnen
. Das Triebrad der deductiven Entwicklung ift
das bekannte Gefetz der Antithefis und Synthefis aller
Sphären in Wefen, befonders aber die Regel: jede göttliche
Grundwefenheit gilt von jeder göttlichen Grund-
wefenheit' (Nr. 2. Bd. 2. S. 106. vgl. S. 145); durch diefe
Regel ift ein nimmer ruhendes combinatorifches Rechnungsverfahren
in Gang gebracht, welches immer neue
Kategorien complicirtefter Art hervorbringt (vgl. den
oben angeführten ,Wefenfpruch j. Der Boden der Erfahrung
wird dabei ganz verlaffen; Kr. giebt felbft zu,
dafs man, wenn man zu einem Glied der rein idealen
Entwicklungsreihe ein entsprechendes Glied der Erfahrungswelt
fuche, fehlgreifen könne (z. B. Nr. 1. S. 208).
Diefe teleologifche ,Wiffen Schaft' ift nun nicht nur
im Widerfpruch mit der kriticiftifchen Philofophie, fondern
ebenfo mit dem chriftlichen Glauben: denn das
religiöfe und Sittliche Leben verliert jener Wiffenfchaft
gegenüber feine Selbständigkeit; die intellectuale Schauung
des Ewigen wird zur Grundlage der Sittlichkeit und
Gottinnigkeit: alfo die für die fpeculative Philofophie bezeichnende
Ueberordnung der yiaoig über die ngäS-igl
Das religiöfe Leben felbft aber nimmt eine myftifche
Färbung an: es ift nicht getragen von dem Glauben an
eine das Gewiffen weckende und tröftende Erweifung
Gottes im gefchichtlichen Leben der Menfchheit, fondern
von der ahnend-fchauenden Ueberzeugung, dafs Gott
als Urfache alles Lebens ,individuell in allen Individuen
waltet' (Nr. 5. S. 62). —

Aufser den transfcendentalen und teleologifchen
Unterfuchungen ift es aber noch ein Drittes, worin die
Bedeutung der fpeculativen Syfteme zu liegen pflegt:
direct oder indirect beftimmen Sie auch Methode und
Ziel der wiffenfchaftlichen Arbeit, welche Sich auf die
Einzelerkenntnifs der Natur und Geifteswelt richtet; Sie
fpiegeln ein Ideal der wiffenfchaftlichen Forfchung
wieder. So waren Plato und Aristoteles mit ihren Systemen
die Gefetzgeber für den ganzen Wiffenfchaftsbe-
trieb der Folgezeit. Wie fteht es in diefer Hinficht mit
Kraufe? Bei flüchtiger Kenntnifsnahme macht das Syftem
Kraufe's, ebenfo wie das eines Sendling und Hegel den
Eindruck, dafs hier durch die Natur- und Geiftesphilo-
fophie für eine wiffenfchaftliche Erforfchung der Natur-
und Gefchichtsthatfachen überhaupt kein Raum mehr ge-

laffen fei, und derlUnverftand meint, alle natur- und
gefchichtsphilofophifchen Ideen jener Männer fchon durch
die einfache Hinweifung auf die Ergebnifse der Erfah-
rungswiffenfehaften lächerlich machen zu können. Iu
Wahrheit flehen jedoch jene Ideen zu dem modernen
Ideal der empirifchen Wiffenfchaften in keinem notwendigen
Gegenfatz: ausdrücklich unterfcheidet z. B.
Kraufe zwifchen der ewigen Verurfachung durch Gott
und der zeitlichen Verurfachung (Nr. 1. S. 85 ff.), und
weifs gar wohl, dafs, wenn die Stellung irgend einer
Naturfphäre im ewigen Weltplan Gottes verstanden ift,
darum doch der zeitliche Caufalzufammenhangder betr.
Naturerfcheinungen noch erforfcht werden mufs; die
Grenze der philofophifchen Conftruction bezeichnet er
felbft dahin, dafs dieselbe niemals das Zeitlich-Individuelle
in feiner gefchichtlichen Beftimmtheit oder in feinen
Gröfsenverhältnifsen ableiten könne (Nr. 2. Bd. 1. S. 414-
431. Bd. 2. S. 184). Die Erforfchung der empirifchen
Naturgefetze ift alfo hier nicht ausgefchloffen; ja ich
möchte es Kraufe nicht einmal abftreiten, dafs gerade
durch die Naturphilofophie unter den Deutschen die
empirifche Naturwiffenfchaft neu belebt worden fei (Nr. 2.
Bd. 1. S. 385): fteht doch auch die ftrenge Wiffenfchaft
ftets unter der Macht allgemeiner Stimmungen und
Ueberzeugungen. — Andererfeits ift Kr. aber doch auch
ein Beweis dafür, dafs es die fpeculative Philofophie
thatfächlich nicht vermocht hat, den empirifchen Na-
turgefetzen ihr unbeugfames Recht und ihren unersetzlichen
Werth für die Wiffenfchaft in vollem Mafse zuzuerkennen
. Gerade weil ihm die volle kritifche Klarheit
über den Charakter der teleologifchen Weltbetrachtung
fehlt, hat er das Verhältnifs des ewigen (teleologifchen)
Zufammenhangs und der zeitlichen (caufalen) Verurfachung
doch nicht mit ganzer Schärfe zu erfaffen gewufst
und auch die richtig gezogene Grenze der philof. Con-
i ftruetion wieder vervvifcht; fo z. B. wenn er meint, die
! philof. Erkenntnifs fei nur ,noch nicht bis dahin ausgeführt
, um die Verhältnifszahlen .... der Perioden der
Erde und der Menfchheit anzugeben' (Nr. 5. S. 120; ein
anderes Beifpiel Nr. I. S. 36). Hier fchimmert ein trüberes
Erkenntnifsideal als in der modernen Natur- und Ge-
fehichtswiffenfehaft.

Durch Zerlegung habe ich Kr.'s Philofophie verständlich
zu machen gefucht; das geiftige Band, das die Theile
derfelben zufammenhält, ift die religiöfe Begeifterung
ihres Schöpfers, feine Ueberzeugung von feinem Prophetenberuf
und der Adel feiner Perfönlichkeit, welche wir
in ihrem Arbeiten, Ringen, Leiden und Beten kennen
lernen.

Stuttgart. Max Reifchle.

Hartmann, Ed. v., Lotze s Philosophie. Leipzig, Friedrich,
1888. (XII, 183 S. gr. 8.) M. 4.—

Nachdem Sich Hartmann in einer Reihe von monographischen
Abhandlungen und Journalartikeln mit Philosophen
der Gegenwart auseinandergefetzt hat (vgl. S. IX
und X), hat er das Bedürfnifs empfunden, auch Lotze's
Syftem, befonders nach feiner erkenntnifstheoretifch.cn
Seite, einer Kritik zu unterziehen, die mit bekannter Gewandtheit
und mit Scharfsinn ausgeführt ift. Darüber, ob
Sie mehr zur Charakteristik der Lotze'fchen oder der
Hartmann'fchen Philofophie beiträgt, kann man im
Zweifel fein. — Nach einem gefchickten Ueberblick über
Lotze's Schriften und fein Verhältnifs zu feinen Vorgängern
fucht H. in einer Erörterung über Lotze's Stellung
zur Naturwiffenfchaft und zum Chriftenthum nach-
zuweifen, dafs Lotze's Ruhm, zuerft eine Versöhnung
der fpeculativ-philofophifchen, insbesondere der chrift-
lich-fpeculativen Weltanfchauung und der naturwiffen-
fchaftlichen Welterklärung mit Erfolg unternommen zu
haben, nicht begründet fei; denn weder den berechtigten
Anfprüchen der Naturwiffenfchaft, noch den Grundge-