Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1890 Nr. 18

Spalte:

456-457

Autor/Hrsg.:

Staudinger, Frz.

Titel/Untertitel:

Die Gesetze der Freiheit. Untersuchungen über die wissenschaftlichen Grundlagen der Sittlichkeit, der Erkenntniss und der Gesellschaftsordnung. 1. Bd. Das Sittengesetz 1890

Rezensent:

Krauss, Alfred

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

455

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 18.

456

beziehen, dafs nach dem Tode der Apoftel etwa neue Dog- |
men für die Kirche von Gott geoffenbart würden, fondern
entweder auf die klarere Erkenntnifs und Ausein-
anderfetzung der in der Schrift oder Tradition verhüllt
fchon gegebenen, oder auf die Offenbarung folcher göttlichen
Dinge, die nicht zum Glaubensgebiete für die
ganze Kirche gehören'. Aber der Verf. entnimmt die
.Belegftellen zu den einzelnen dogmatifchen Lehrpunkten
' feines Buches (S. 30) zum grofsen Theile fol-
chen ,Offenbarungen an Privatperfonen', und er fucht
es in der Vorrede ausdrücklich zu rechtfertigen, dafs fich
unter feinen .Belegftellen für die Glaubenswahrheiten
über die feligfte Jungfrau' auch viele aus der ,Geiftlichen
Stadt Gottes' der fpanifchen Nonne Maria von Agreda
(f 1665) befinden, einer Sammlung von .Privatoffenbarungen
' derallerbedenklichften Sorte, von welcherBene-
dictXIV. fagt, fie enthalte, eine neue, fremde, dem gewöhnlichen
Glauben der Kirche widerfprechende Lehre'').

Ausführlichere Mittheilungen über das, was der Verf.
über Maria vorträgt, find hier nicht am Platze2). Es genügt
zu erwähnen, dafs er die von Kolb mifsbilligten
Bezeichnungen Mariä als Miterlöferin und als Comple-
mentum, Ergänzung der allerheiligften Dreieinigkeit ausführlich
vertheidigt (S. 3. 22. 220) und u. a. behauptet:
.Maria itt die inftrumentale und theilweife die merito-
rifche Urfache unferer ewigen Auserwählung' (S. 19).
,Die natürliche Schöpfung fowohl als auch die übernatürlichen
Geheimnifse wurden vorzüglich Mariä wegen
ins Werk gefetzt' (S. 3). ,Sie erlangte den Gläubigen
hauptfächlich durch ihr Gebet und ihre Verdienfte die
Herabkunft des heil. Geiffes' (S. 13). ,Sie erklärte den
Apofteln das Geheimnifs der heil. Dreieinigkeit und das
Geheimnifs der hypoffatifchen Union' (S. 289J. ,Sie regiert
immerfort auf eine ganz befondere Weife alle
Stände der Kirche, insbefondere die Vorfteher und Prälaten
, fie leitet alles Weltliche in Hinficht auf das Befte
der Kirche, fie beeinflufst die Wahl der Bifchöfe . . . und
führt die Regierung über die Kirche, ähnlich wie Gott
über die ganze Welt, mit wunderbarer Weisheit' (S. 18).
,Sie hat volle und gewiffermafsen unumfchränkte Herrfchaft
über die ganze vernünftige und unvernünftige
Schöpfung, darum auch die Macht, alle möglichen Wunder
zu wirken. Deshalb nennen die heil. Väter Maria
unbedenklich allmächtig' (S. 244). .Beunruhige fich, wer
da will, mit der Löfung der Streitfrage, ob die ewige
Auserwählung zur Seligkeit in Rückficht auf unfere vor-
hergefehenen guten Werke gefchehe oder nicht: wenn
wir nur wahre Diener Marjä find und fie uns beifteht,
werden wir feiig werden' (S. 346). ,Die Vorworfenen
(Irrgläubige, Schismatiker u. f. w.), welche Maria haffen
oder wenigftens mit Gleichgültigkeit betrachten, haben
Gott nicht zu ihrem Vater, fo fehr fie fich deffen rühmen,
weil fie Maria nicht zu ihrer Mutter haben' (S. 341).

Das Buch foll nicht ein Erbauungsbuch, fondern ein
wiffenfchaftliches Werk fein. Die Begründung, die der
Verf. für feine Sätze beibringt, ift fehr charakteriftifch.
Von einem biblifchen Beweife kann natürlich nicht die
Rede fein, wenn man als folchen nicht Stellen gelten
laffen will wie folgende: ,Gott hat uns die Andacht zu 1
Maria mit ausdrücklichen Worten anbefohlen, a) im all- |
gemeinen durch das Gebot: Du follft Vater und Mutter
ehren, b) ganz fpeciell durch die Worte Chrifti am Kreuze:
Sohn, fiehe deine Mutter! die nach dem myftifchen Sinn 1
an Johannes als den Repräfentanten der von Chriftus Er-
löften gerichtet find' (S. 26). Den Beweis aus der Tradition
' erledigt der Verf. in vielen Fällen mit Phrafen
wie ,alle heiligen Väter find einffimmig', die er gewöhnlich
da anbringt, wo das Gegentheil wahr ift (S. 52. 54-
134 u. f. w.). Er citirt auch zwifchen Stellen aus der

1) Vergl. Reufch. Index, II, 232 und Deutfcher Merkur 18S9, 402,
WO das bisher geheim gehaltene Schriftftück Benedict's XIV. mitgetheilt ift-

2) Vergl. die Auszüge im Deutfchen Merkur 1890, Nr. 33 ff.

Agreda, aus mittelalterlichen und neueren Schriftftellern
u. f. w. Stellen aus Kirchenvätern; fie find aber durchweg
aus älteren Büchern abgefchrieben, wegen der Un-
genauigkeit im Citiren nicht controlirbar, grofsentheils
nachweislich falfch. Insbefondere citirt er eine Menge
von Schriften als echt, von denen felbft Kolb (a. a. O.)
bemerkt hat, fie feien anerkanntermafsen unecht, fo den
Brief des Ignatius von Antiochia an den Apoftel Johannes
, die Schriften des Dionyfius Areopagita, die im S.Jahrhundert
dem Auguftinus und Hieronymus untergefchobe-
nen Schriften über die Assiimtio Mariae, Marianifche Reden
des Athanafius, des Epiphanius und des Ildephonfus
von Toledo u. f. w., fogar die Chronik des .Lucius Dexter,
eines Freundes des Hieronymus' (S. 319), die bekanntlich
kurz vor 1600 der fpanifche Jefuit Ramon de la
Higuera zu dem Zwecke fabricirt hat, für die Immaculata
Conccptio und andere Lieblingsmeinungen der
Spanier die bisher vermifste gefchichtliche Beglaubigung
zu liefern (vgl. Döllinger, Akadem. Vorträge I, 249;
Reufch, Index II, 244).

Wenn ein Buch wie diefes mit bifchöflicher Genehmigung
erfcheinen kann, follte es da nicht beffer fein,
die Verordnung, dafs jedes Buch dem Bifchof des
Druckorts zur Cenfur vorzulegen fei, einfach aufzuheben?
Allerdings pflegt in einer bifchöflichen ,Genehmigung'
nur erklärt zu werden, das Buch enthalte nichts, was
contra fidem et mores verftofse. Aber verftöfst denn
wirklich keine der Behauptungen in unterem Buche gegen
den jetzigen römifch-katholifchen Glauben, und gilt das
i leichtfinnige und gewiffenlofe Citiren von notorifchen
Fälfchungen zur Begründung von angeblich katholifchen
Lehren nicht mehr als unfittlich?

Bonn. F. H. Reufch.

Staudinger, Gymn.-Lehr.Dr. Frz., Die Gesetze der Freiheit.

Unterfuchungen über die wiffenfchaftlichen Grundlagen
der Sittlichkeit, der Erkenntnifs und der Ge-
fellfchaftsordnung. I. Bd. Das Sittengefetz. Darmftadt,
Brill, 1887. (VI, 387 S. gr. 8.) M. 7. —

Es ift nur der erfte Band eines breit angelegten
Werkes, der uns vorliegt. In diefem .das Sittengefetz'
überfchriebenen Theile geht der Verf. darauf aus, durch
Darlegung der natürlichen Verhältnifse, der geiftigen und
fpeciell fittlichen Anlagen des Menfchen und der Com-
plicationen der mit und gegen einander wirkenden Kräfte
der menfchlichen Gefellfchaft fowohl die Gefetze zu entwickeln
, welchen unfer Handeln nothwendig unterliegt,
i als auch die Ideale aufzuzeigen, welchen wir nachftreben
follen und auch können.

Der philofophifche Standpunkt ift der des Intellec-
tualismus. S. 57: Jedenfalls ift daraus, dafs ein Zweck
den andern kreuzt, kein Einwand gegen die Thatfache
abzuleiten, dafs die Einficht und nur die Einficht den
Willen macht und lenkt'. Hierzu vgl. man S. 248: ,Eine
wahrhaft fittliche Weltanfchauung mufs nothwendig eine
wiffenfchaftliche Weltanfchauung fein'. Damit wären Alle,
welche fich zur Wiffenfchaft nicht zu erheben vermögen,
auch von der wahren Sittlichkeit ausgefchloffen. Nicht
zu verwundern ift es daher, dafs trotz vieler Verbeugungen
vor Jefus doch das Chriftenthum als eine überwundene
Stufe im Ganzen fchlecht wegkommt, namentlich der
Glaube an das Jenfeits. Mit den Gefühlen wird hart in
das Gericht gegangen. Sogar Ritfehl mufs fich S. 306
dafür tadeln laffen, dafs er feine Theologie auf Gefühls-
bedürfnifsen auferbaut habe. Schleiermacher dagegen
wird als Dogmatiker und als Ethiker einfach ignorirt.
Genauer fetzt fich der Verf. nur mit Kant (S. 139 ff.)
auseinander.

Nach einer Einleitung kommen 1. die Grundlagen,
2. die Gefetze, 3. die Werthe, 4. die Pflichten, und als
Schlufs die Freiheit. Eine genauere Befchreibung des