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Ausgabe:

1890 Nr. 18

Spalte:

446-447

Autor/Hrsg.:

Schneider, J.

Titel/Untertitel:

Geschichte der evangelischen Kirchen des Elsass in der Zeit der französischen Revolution (1789 - 1802) 1890

Rezensent:

Will, L.

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445 Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 18. 446

Würdigung, welche die inneren Widerfprüche und die
Unzulänglichkeit der ariftotelifch-thomiftifchen Aufhellungen
gegenüber den Thatfachen der Natur und Ge-
Ichichte, wie fie die fortfchreitende Wiffenfchaft heraus-
geftellt hat, darlegt.

Die Darfteilung ifk eingehend und objectiv. Zum
hiuorifchen Verftändnifs des Thomas wäre allerdings
eine eingehendere Würdigung des neuplatonifchen Ein-
nuffes erforderlicli gewefen. Der Grundgedanke des
Thomas, dafs das VVefen Gottes über die Vernunft-
erkenntnifs hinausliegt, und dafs der Menfch in diefem
überweltlichen Gott feinen höchften Zweck hat, diefer
Grundgedanke, derebenfo für feine Verhältnifsbeftimmung
von Wnfen und Glauben, wie für die Beftimmung der Con-
templation als der höchften Stufe der Gottesliebe entscheidend
ift, kommt in Folge deffen bei dem Verf. nicht zu feinem
Fechte. Noch weniger weifs der Verf. die religiöfen Wurzeln
des Dogma, deffen Autorität Thomas fichernwill, hifto-
rifch zu würdigen; denn es ift ihm fchon ein Verderb
des urfprünglichen Chriftenthums, dafs die Meffiasidee,
unr von der Logosidee gar nicht zu reden, zu Chriftus
in Beziehung gefetzt, und Chriftus zum Gegenftand des
religiöfen Glaubens gemacht ift.

Die Kritik, foweit diefelbe fich nicht auf die vielfach
fcharfhnnige und zutreffende Aufdeckung der innern
Widerfprüche bezieht, nimmt zum Mafsftab nicht nur die
thatfachen der Natur und Gefchichte und nicht das
Chriftenthum des N. T.'s, fondern des Verf.'s eigenes
philofophifch.es Syftem, deffen Grundgedanke ift, dafs
die Welt aus einem linnlich-geiftigen, weltimmanenten
Geftaltungsprincip, der Weltphantalie, zu erklären ift, die
in einem nie abgefchloffenen Entwickelungsprocefs in
Natur und Menfchengeift zielftrebige Ideen realifirt, und
deren eigentliches Wefen daher immer nur fragmenta-

des Chriftenthums, der Lehre und des Lebens feines
Stifters beziehen mufs, dafs das fubjective Bedürfnifs
des Gemüths, nicht die verftändige Reflexion auf die
Welt als Factor für die Entftehung religiöfer Ueber-
zeugungen in Anfchlag zu bringen ift. Aber er theilt
viel zu fehr die Anfchauung des Thomas, dafs die
religiöfe Ueberzeugung eine Abart des Wiffens ift, um
bei der Ablehnung der thomiftifchen äufserlichen Addition
natürlicher und übernatürlicher Wahrheiten dem An-
fpruch des religiöfen Glaubens auf felbftändige Gewifsheit
gerecht werden zu können. Indem er die Problemftel-
lung von Thomas übernimmt, kehrt er einfach das Ver-
hältnifs von Wiffen und Glauben um und weift der
objectiven, unparteilichen Wiffenfchaft die Aufgabe zu,
die fubjectiven, parteiifchen, egoiftifchen hiftorifchen
Religionen zu prüfen und den Glauben auf die Wiffenfchaft
zu gründen. Es ift das die Emancipation des
Wiffens, zu der in der dem Katholicismus eigenthum-
lichen Verquickung von philofophifchem Welterkennen
und religiöfem Glauben, bei der beide als gleichartige
Gröfsen erfcheinen, immer der Antrieb liegt.

Giefsen. J. Gottfchick.

Schneider, Pfr. J., Geschichte der evangelischen Kirche des
Elsass in der Zeit der französischen Revolution (1789—1802).

Strafsburg i/E., C. F. Schmidt's Univ.-Buchh., 1890.
(VII, 212 S. gr. S.) M. 3. —

Nach dem Titel zu fchliefsen, würde das zur Be-
fprechung uns vorliegende Buch eine bedeutende Lücke
in der evangelifchen Kirchengefchichte des Elfafs ausfüllen
. Diefes Ziel ift nur theilweife erreicht worden: die
an fleh werthvolle Schrift bietet nicht, wie der Lefer
rifch"aüs° der bisherigen Entwickelung erkannt "werden | erwartet, eine pragmatifche Darfteilung der Ereignifse,

kann. Das ift eine Weltanfchauung, die wegen ihres Ver- 1 welche den Untergang der vor 1789 im Elfafs beliehen
zichtes auf abfolute Mafsftäbe der gefetzlichen Verftei- den, von einander unabhängigen Territorialkirchen her-
nerung folcherabfolutenMafsftäbe,diebeiThomasvorliegt, j beigeführt und den Aufbau der aus deren Trümmern
nicht gerecht werden kann. Das fchliefst nicht aus, dafs . hervorgegangenen, im Jahre 1802 neu organifirten Kirche

auch die fachliche Kritik viel Treffendes enthält. Fr. zeigt,
dafs der Neufcholafticismus Thomas fälfehlich im Gegen
fatz zu dem angeblichen Subjectivismus der modernen

vorbereitet haben. Man gewinnt keinen klaren Ueber-
blick weder über den ungewöhnlichen Verlauf diefes
merkwürdigen Entwickelungsproceffes, noch über die

Philofophie als Begründer der übjectivität des Erkennens verfchiedenen Umgeftaltungen des religiöfen Lebens und

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rühmt, und dafs Thomas gerade nicht zur Ueberwindung
des erkenntnifstheoretifchen Idealismus fähig ift, weil er
das active Verhalten der Sinne und des Intellects in der
Erkenntnifs verkennt, fowie dafs die thomiftifche Grundlage
, die ariftotelifche Auffaffung der Erfahrung, durch
den 'Fortfehritt der Wiffenfchaft zertrümmert ift. Er bezeichnet
es treffend als einen Grundmangel des ariftote-

der kirchlichen Zuftände während der 4 Perioden, in
welche der in Betracht kommende Zeitraum eingetheilt
wird. Das Buch zerfällt in 4 Abfchnitte: I. Unter der
Nationalverfammlung(5.Mai 1789—ßo.Sept. 1791); II. Unter
der gefetzgebenden Verfammlung (i.Oct. 1791—21. Sept.
1792); III. Unter der Nationalverfammlung (21. Sept.
1792—26. Oct. 1795); IV. Unter dem Vollziehungs-Direc-

.ifch-thomiftifchen Denkens, dafs es nur zu einer logifchen torium und dem Confulat (26. Oct. 1795—8. April 1802).
Claffification des Seienden in ftarren Formen führt, aber Schon aus diefer Eintheilung erfleht man, dafs der Ver-
unfähi^ ift, den eigentlichen Naturprocefs, diegenealogifche faffer, welcher bei dem Leferkreis, den er zunächft im
Ordnung den genetifchen Zufammenhang, die allmähliche j Auge hatte, den gefchichtlichen Gang der franzöfifchen
Entwickeluncr zu erfaffen, dafs die Behauptung ftarrer For- 1 Staatsumwälzung nicht als bekannt vorausfetzen konnte,
men als des eigentlichen Wefens der Dinge, ebenfo durch 1 nicht im Elfafs, fondern in Paris feine Anknüpfun^s-

die fortfchreitende Wiffenfchaft widerlegt wird, wie fie
ihrerfeits diefelbe durch die Verabfolutirung der Ergeb-
nifse einer vergangenen Stufe der Wiffenfchaft hindert.

Kerns der thomiftifchen Gedanken, der Verhältnifsbeftim-

punkte fuchte. So entftand unter feiner Hand nicht eine
,Gefchichte der evangelifchen Kirche des Elfafs', fondern
eine fummarifche und nothwendigerweife fragmentarifche

Am wenimften befriedigt feine Kritik des eigentlichen Gefchichte der Revolution. An diefelbe anknüpfend

zeigt er dann, wie die Zuftände in der entlegenen Pro-

mung von Wiffen und Glaube, natürlichen und übernatür- ! vinz von den Ereignifsen an der Seine bedingt""waren ■
liehen Wahrheiten. Zwar darin hat er Recht, dafs Thomas' j wie die in Paris fich abfpielenden Vorgänge im Elfafs
Beweife für das Dafein Gottes beftenfalls nur auf ein un- nachgeäfft wurden, in kleinerem Mafsftäbe bis ii/den
perfönliches Abfolutes, nicht auf den anthropomorphen entlegenften Dorffchaften fich wiederholten und auch auf
Gott der Religion führen, dafs Gott vielmehr als in der Natur i die Gefchicke des elfäffifchen Proteftantismus einen tief-
im Geiftesleben der Menfchheit zu erkennen ift, dafs die gehenden Einflufs ausübten. In höchft anziehender Weife
motiva crcdibilitatis, welche Thomas für die Vernünftig- wird uns gefchildert, wie die gewaltigen Wogen der in
keit der Unterwerfung unter die Offenbarung anführt, der Hauptftadt tobenden Stürme an& der Oftmark des
Wunder, Weisfagungen, Ausbreitung, Erhaltung, Dauer Reiches anprallten und, die Fundamente der evan<re-
des Chriftenthums, hierzu unzulänglich find, dafs der Be- lifchen^ Kirche unterhöhlend, an und in derfelben greu-
weis für die Vernunftgemäfsheit des Chriftenthums ftatt liehe Verheerungen anrichteten Selbft auf diefem Wege
auf eine formelle Auctorität fich vielmehr auf den Inhalt hätte der Verfaffer das im Titel in Ausficht geftellte Ziel

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