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Ausgabe:

1890 Nr. 17

Spalte:

429-433

Autor/Hrsg.:

Baur, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Christus und die Gemeinde. Ein Jahrgang Predigten über freie Texte 1890

Rezensent:

Diegel, J. Gustav

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429 Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 17. 430

jeder mit Dank begrüfst, der in Kunft-, Kirchen- oder
Profangefchichte fich mit der Stadt des heiligen Con-
ftanti nos befchäftigt.

Binnen bei Nienburg aW. Ph. Meyer.

Baur, Gen.-Superint. Dr. Wilh.. Christus und die Gemeinde.

Ein Jahrgang Predigten über freie Texte. Bremen,
Müller, 1889. (VII, 659 S. gr. 8.) M. 7. 50.
Mit langem, fchwerem Hauskreuze möge freundlich
entfchuldigt werden, dafs diefe Anzeige erft jetzt erfolgt,
und dafs ich nur die gröfsere Hälfte diefer Predigten
gründlich durcharbeiten konnte. Für das warm von
Herzen kommende Lob derfelben, zu dem es mich
drängt, hoffe ich um fo mehr volle Zufhmmung zu
finden, wenn ich vorausfchicke, dafs mein perfönliches
Streben bei dem Predigen nach anderen Seiten hin geht,
als den in obiger Sammlung hervortretenden, nämlich
nach gröfster Einfachheit und nüchternfter Genauigkeit
in jeder Beziehung. Hält man mir etwa entgegen,
meine Stellung YV. Baur gegenüber werde demnach die
der Talentlofigkeit gegenüber einer aufserordentlichen
Begabung fein, fo ift diefe Bemerkung zwar nicht unrichtig
, aber doch hoffentlich nicht erfchöpfend. Jedenfalls
mufs man, wenn nur die Hauptfache des Inhaltes
feiffteht, grofse Mannigfaltigkeit der Predigtweife wün-
fchen, und ich gedenke zu zeigen, dafs ich den Predigten
VV. B.'s, die mir hohen Genufs gewährten, mit Freuden
gerecht zu werden weifs. Zunächft gilt es, die Eigen-
thümlichkeit fcharf herauszuftellen. Wird zu diefem
Zwecke einiges erwähnt, welches fehlt, fo wird das kein
Verftändiger einen Tadel nennen, zumal wenn das Fehlende
nur zweifelhaften Werth für die Predigt hat. Aber
auch wirkliche einander widerfprechende Vorzüge in
einem Buche zufammen verlangen, wäre ebenfo thöricht,
als wenn man die Eisbahn des Januar, die Blüthenpracht
des Mai und die reiche Ernte des Auguft zugleich haben
wollte.

W. Baur's Weife ift nicht das ruhige, einfache,
gründlich - lehrhafte Darlegen und fcharf zufammen-
hängende Entwickeln, weder eine fehr genaue exegetifche
Erörterung des Textes oder befonderer Schwierigkeiten
desfelben, noch möglichft vollftändige Darlegung eines
Themas, überhaupt nicht die Befchränkung auf einiges
Wenige, um diefes eingehend zu erledigen. Statt deffen
findet fich eine grofse Mannigfaltigkeit des Inhaltes, ein
rafches Ueberfpringen von einem Gedanken zum andern,
natürlich unter einigenden Hauptgefichtspunkten, eine
äufserft lebendige Darftellung. Man wird von den ver-
fchiedenften Seiten aus angeregt. W. B. fchreibt mit
warmem Herzen und rafch geftaltender Phantafie. Er
hat in hohem Grade die Gabe glücklichen Auffindens
von Beziehungen, bildlichen Bezeichnungen und Gedankenverbindungen
, die einem gewöhnlichen Menfchen
verborgen bleiben. Natürlich wird der fcharf Prüfende
nicht jeden Ausdruck und nicht jede Auffaffung gleich
zutreffend finden, aber dem Verftändigen werden folche
Bedenken ein Geringes fcheinen gegenüber der Fülle
von überrafchend fchön und gut Gefagtem. Mit dem
angemerkten Bedenklichen könnte ich etwa Spalte
füllen, mit dem angemerkten Vorzüglichen dagegen mehr
als den jofachen Raum.

Die Texte find je nach den mannigfaltigen Bedürf-
nifsen der Gemeinde im Kirchenjahre vortrefflich gewählt
, zum Theile aus dem Alten Teftamente, der Art
und Länge nach fehr verfchieden. Den Predigten auf
Judica, Palmarum und Trinitatis find je drei Texte zu
Grunde gelegt. Wenn wie in vorliegenden Fällen ein
durch die Stellung des Tages im Kirchenjahre voll-
berechtiges Thema die Einheit gut herftellt, dann ift ein
mehrfacher Text als Ausnahme ganz wohl zuläffig. Ueber-
haupt freuen wir uns der Mannigfaltigkeit des Verfahrens

bei W. B. Steife, ängftliche Regelmäfsigkeit der Form
ift feine Sache nicht, fondern freie Bewegung. Es fcheint
fich Alles natürlich und leicht wie von felbft zu ergeben.
Der Kundige aber wird gerade darin das Wohlüberlegte
und den feinen Tact erkennen.

Die Dispofitions-Weife ift meift die analytifch-fyn-
thetifche. Die Gefahren derfelben, um des Themas
willen den Text und um des Textes willen das Thema
nicht zu vollem Rechte kommen zu laffen, werden mit
grofsem Gefchick zu meiden gefucht. Allerdings kam
die freie Textwahl zu Hülfe. Dann geftatteten auch die
häufig fehr weiten Themata oder vielmehr nur Ueber-
fchriften den Theilen genauen Anfchlufs an den Text.
Bei L. Harms findet man ein Aehnliches. Als Beifpiele
folcher weiten Ueberfchriften nennen wir für die Predigt
am 1. Pfingfttage: Ein gefegnetes Pfingften (hier
hätte das engere Thema ganz nahe gelegen1 und für die
Predigt am 1. Oftertage: Der Herr ift auferftanden. Letzteres
könnte freilich auch Thema fein, wird aber als
Ueberfchrift durch die Theile erwiefen, welche wir ebenfo
wie die Untertheile des 1. Theiles gern anführen, um
die Bündigkeit und Eigenthümlichkeit der Ankündigungen
von Theilen und öfter auch Untertheilen zu beweifen.
Die Theile lauten: 1) Was fucht ihr den Lebendigen bei
den Todten. 2) Was fucht ihr das Leben bei dem Tode.
Die Untertheile von I: a) die Schrift fagts; b) die Ge-
fchichte bezeugts; c) das Herz fpürts (nämlich, dafs
Chriftus auferftanden). Während die Ankündigung der
Theile vor Beginn der Ausführung erfolgt, werden die
Untertheile, falls folche vorhanden, zuweilen am Anfange
eines Theiles, öfter aber im Verlaufe desfelben genannt,
fo dafs die Anlage zwar als eine forgfältig überlegte
erfcheint, fich aber keineswegs fteif und auffällig hervordrängt
. Scheint auch einmal bei der Vorliebe für
fprachlich gerundete, fpannende Formen der Unterfchied
von Theilen oder die Stellung eines Theiles zum Texte
(wie Theil 1 in der Himmelfahrtspredigt) nicht ganz
klar, fo weifs doch die Ausführung über das Befremdende
leicht hinauszuhelfen. Oft aber wird man bewundern
, wie überrafchend glücklich fich aus dem Texte
Theilbildungen entwickeln, die man zunächft nicht erwartete
(vergl. die Predigt auf Oatli: Paffion und Mif-
fion). Der Schlufs pflegt rafch abzubrechen und eben
dadurch recht wirkfam zu fein. Die Einleitungen führen
meilt fogleich in Aufmerkfamkeit weckender, frifcher,
packender Weife zum Hauptgedanken der Predigt und
zur rechten Stimmung für diefelbe.

Die Themata und Ueberfchriften find, abgefehen
von einigen fchon angedeuteten, zu unbeftimmten Ausdrücken
, bei welchen die eigentliche Ankündigung dann
in den Theilen gegeben wird, nicht nur meift bündig
ausgedrückt, fondern auch oft fpannend und eigen-
thümlich. Dem Inhalte nach greifen fie in den Mittelpunkt
des Chriftenthums herein, in die eigentliche Heilswahrheit
. Der fchöne Titel: Chriftus und die Gemeinde
— ift berechtigt, denn Jefus Chriftus beherrfcht wirklich
die Theologie W. Baur's. Derfelbe fleht mit feftcr,
warmer Ueberzeugung und reicher Erfahrung in der
Schrift, insbefondere den evangelifchen Grundlehren, und
in den chriftlich pofitiven Strömungen der Neuzeit, mit
weitem Blicke auf die religiös angeregten und eifrigen
Evangelifchen aller Stände, von den Bauern an bis zu
den Dürften hinauf, mit weitem Blicke überhaupt auf
das geiftige Leben der Neuzeit. Unterftützt von einem
trefflichen Gedächtnifse, einer rafchen Aneignungsgabe
und einer glücklichen Lebensführung, die ihn zu den
verfchiedenartigften anregenden Verhältnifsen und Per-
fonen in Beziehung gebracht hat, ift W. B. nicht nur ein
Mann der äufseren und inneren Miffion fowie fonftigen
reichen kirchlichen Wiffens, fondern überhaupt ein auch
im Sinne allgemeiner Bildung fehr kenntnifsreicher
Mann, insbefondere auch mit einem offenen Herzen für
Poefie und Natur. Demnach ftrömt ihm für feine Pre-