Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1890 Nr. 10

Spalte:

264-265

Autor/Hrsg.:

Uhlhorn, G.

Titel/Untertitel:

Die christliche Liebesthätigkeit. 3. Bd. Seit der Reformation 1890

Rezensent:

Löber, Richard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

263 Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 10. 264

Gebrauch der ,Loofungen' deutlich hervorgeht. Verglichen
mit dem Umgang mit dem erhöhten Chriftus
können aber diefe aus jedem Zufammenhang herausge-
riffenen, noch dazu durch angehängte Liederverfe einer

ausgedehnter Citate eine reiche Bluthenlefe fchöner und
fruchtbringender Gedanken zerftreut oder, leider, in den
ungeniefsbaren Stil des Verfaffers eingewickelt. Ebenfo
durchweg aber wird er gut thun, bei dem fcheinbar

Rumpenheim. S. Eck.

fremden Deutung ausgefetzten Sprüche nur die Bedeu- j reinen Goldklang diefer YVorte es fich gegenwärtig zU
tung haben, als Orakel des Erhöhten zu gelten. Und halten: si duo dicunt idem, 11011 est idein. Denn ich bin
dafs fie vielfach fo angewandt worden find, unterliegt überzeugt, dafs jede fernere Unterfuchung von Zinzen-
keinem Zweifel. Ebenfo wie bei den Gemeinden zeigt dorf's Frömmigkeit und Theologie in die Irre gehen wird,
fich alfo auch hier im religiöfen Leben des Einzelnen, wenn fie die Gefichtspunkte unberückfichtigt läfst, welche
dafs der gefchichtliche Chriftus und die Offenbarung, die 1 Ritfchl's Arbeit an die Hand giebt,
in feinem Wort vorliegt, für Zinzendorf's Frömmigkeit
nicht genügte.

In dem Allen aber liegt der deutliche Anlafs zur
Verwirrung in Z.'s Chriftologie vor. Denn es ift undenkbar
, dafs derjenige, der als das alleinige und eigentliche
Object religiöfen Glaubens aufgefafst wird, auf die Dauer
in feiner gefchichtlichen Menfchheit angefchaut werden
könnte. Vielmehr das Object aller Religion ift Gott.
Und wenn eine unevangelifche Frömmigkeit fich das
Recht anmafst, von dem erhöhten Chriftus Offenbarungen
zu empfangen, die aus feinem gefchichtlichen Lebensbild
nicht zu entnehmen find, fo ift es nur ein kleiner Schritt
weiter, der nicht nur zu rein-mythologifchen Praeexiftenz-
vorftellungen, fondern ebenfo zur Verwechslung der
Perfon Chrifti mit der Gottheit als folcher führen mufs.
So gewifs aber die Frömmigkeit, welche zu diefen abenteuerlichen
Gedankenbildungen geführt hat, die eigentliche
und abfichtliche Form von Z.'s Chriftenthum bildet,
fo gewifs find diejenigen Elemente feiner Theologie,
welche fich direct auf Luther zurückführen laffen, nicht
fein urfprüngliches und felbfterworbenes Eigenthum.
Es frägt fich nur, wie er fich diefelben hat aneignen
können?

Indem ich nun hier von Anderem abfehe, — Luther-
ftudium felbft, Einflufs der beginnenden Aufklärung —
finde ich die Erklärung in Folgendem. Loofs hat uns

Uhlhorn, Abt Dr. G., Die christliche Liebesthätigkeit.

3. Bd. Seit der Reformation. Stuttgart, Gundert,
1890. (VIII, 520 S. 8.) M. 7. —; geb. M. 8. —

Die chriftliche Liebesthätigkeit aller Jahrhunderte ift
uns als der durch die Liebe wirkfame weltüberwindende
Glaube von D. Uhlhorn mit fo tiefeindringendem und
umfaffendem Verftändnifs gefchildert worden, dafs es uns
jetzt erft recht klar wird, wie ungenügend felbft die
grofsen Gefchichtfchreiber der chriftlichen Kirche diefes
Gebiet bisher bearbeitet haben. D. Uhlhorn giebt uns
weder allgemeine Betrachtungen, welche über die viel-
geftaltige Wirklichkeit fich allzu leicht erheben, noch verliert
er fich in die einzelnen Lebenserfcheinungen, die
er mit fchier unbegrenzter gelehrter Specialkenntnifs uns
vergegenwärtigt und durch die dem Werke beigefügten
reichhaltigen Nachweife ficher Hellt; vielmehr beherrfcht
er die unendliche Fülle der Lebenserfcheinungen der-
mafsen, dafs fie feinen von grofsen Gefichtspunkten aus
dargebotenen univerfalen Anfchauungen auf allen Punkten
lebendige Farbe und dramatifche Bewegung geben.

Um ,die chriftliche Liebesthätigkeit feit der Reformation
' gefchichtlich darzuftellen, fchildert er uns zunächft
kürzlich in feinem fchönen Leitfaden der Dogmenge- I die erfchreckende Bettelplage, unter welcher das Ge-

fchichte die fpätmittelalterliche Myftik unter der Ueber-
fchrift vorgeführt: ,Predigt und Erbauungsliteratur als
Wegbereiter einer Reduction des praktischen Chriften-
thums auf die Sphäre der Heilslehre'(S. 187fr.). gegenüber
den einfachen Grundgedanken der Myftik (Freiheit
und Seligkeit in Selbft- und Weltverleugnung vorausfetzender
Contemplation, in myftifcher Gottes- und
Jefusliebe) mufsten Kirche und Dogma auf die zweite
Stufe' zurücktreten. Diefe Situation wiederholt fich bei Z.
der neuen Orthodoxie gegenüber. Nun liegt aber nicht nur
jene Reduction, zu der die Myftik den Weg bereitet, in Lu-
ther's Chriftenthum fertig vor, fondern es ift gewifs, dafs
infolge diefer Verwandtfchaft (f. Kattenbufch, Th. Lit. Z.
1879 S. 386t.) jene einen nicht geringen Einflufs auf
Luther geübt hat. Gilt aber das auch für unfer genauer
abwägendes Urtheil, wie viel weniger wird der, deffen
Auge durch die eigene Contemplation getrübt ift, hier
zu unterfcheiden vermögen, was eigentlich zu feiner
Frömmigkeit pafst und was ihr fremd gegenüberfteht.
So wird es verftändlich, wie Z. fich von Luther ftark
hat angezogen fühlen können, wie er auch Gedankenreihen
hat nachdenken oder felbft bilden können, die
denjenigen des Reformators zu gleichen Rheinen, wiewohl
er von Luther's praktifchem Chriftenthum (Glaube,
Beruf, Volkskirche) nichts begriffen hat. Dabei foll ja
nicht geleugnet werden, dafs gerade unter diefen Um-
ftänden die Kenntnifs und Verwerthung von Luther's
Schriften für die Färbung und in gewiffer Weife auch

fchlecht der Reformationszeit im ganzen Abendlande
fchwer zu leiden hatte. Der Verfaffer erklärt diefelbe
theils aus der im 15. und 16. Jahrhundert fich vollziehenden
wirthfehaftlichen Krifis, theils aus der unfruchtbaren
Verfchiebung der Befitzverhältnifse, welche namentlich
durch die reichen Klöfter und durch die unermefsliche
Anhäufung von Geld zu fcheinbar cultifchen Zwecken
herbeigeführt worden. Man hatte für das Seelenheil der
Todten fo viel Korten aufzuwenden, dafs die Lebendigen
darunter leiden mufsten.

Nun hat zwar auch die ,Kirche' des 15. Jahrhunderts
gelehrt, dafs es Pflicht des Menfchen fei, zu arbeiten nnd
dadurch feinen Lebensunterhalt fich zu erwerben; aber
die Kraft folcher Ermahnung wurde durch die Verfiche-
rung abgefchwächt, dafs das contemplativ-unthätige
Klofterleben und der damit verbundene heilige Bettel
als eine höhere Stufe des Chriftenthums zu gelten habe.
Der Verfaffer erinnert uns ferner daran, dafs die fehr in
die Augen fallende Liebesthätigkeit, welche im 15. Jahrhundert
durch reichliche Almolenfpenden geübt wurde,
infofern viel von ihrem Werth verlor, als die Wohltähter
von der Tendenz beherrfcht wurden, fich damit felbft
etwas zu leiften, ein gutes, den Himmel verdienendes
Werk zu thun und fich des Befitzes zu entledigen, der
als ein Hindernifs des vollkommenen Chriftenlebens ange-
fehen wurde. Daraus erklärt es fich ferner, dafs man nicht
dazu kam, den Armen gründlich zu helfen, und dafs durch
das ungeordnete planlofe Almofengeben die Aufgabe der

für die Mafshaltung von Z.'s Contemplation von gröfs- > chriftlichen Gemeinde verdunkelt wurde, den Bettel

ter Bedeutung gewefen ift. Das Zwitterbild löft fich fo
doch in eine Einheit auf, aber freilich nicht in die Einheit
lutherifcher Volksfrömmigkeit, fondern in diejenige
mönchifcher Frömmigkeit auf evangelifchem Boden.

Ich glaube es mir hiernach erfparen zu dürfen, auf

durch eine organifirte Armenpflege zu bekämpfen.

Mit überführender Klarheit weift der Verfaffer es
nach, dafs durch die grofse Wendung, die in der Reformationszeit
fich vollzog, das Motiv der mittelalterlichen
Liebesthätigkeit aufser Kraft gefetzt und durch ein neues

die weiteren Abfchnitte in Tietzen's Buch näher einzu- | Motiv: nämlich durch die aus dem Glauben hervorgehen
. Durchweg findet der Lefer in einer Fülle faft zu | gehende dankbare Liebe verdrängt wurde. Der Verfaffer