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Ausgabe:

1890 Nr. 10

Spalte:

259-264

Autor/Hrsg.:

Tietzen, Herm.

Titel/Untertitel:

Zinzendorf. Hier ist wer, der weiß nicht mehr, als daß sein Schöpfer sein Heiland ist 1890

Rezensent:

Eck, Samuel

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259 Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 10. 260

liehen Unionsfucht' erfähit. Wollen wir nicht Gott dafür
danken, dafs fchon die Reformationszeit neben den
Männern, welche für die reine Lehre ftritten, auch Männer
hervorgebracht hat, welche in dem Proteftantismus
trotz innerer Differenzen eine einheitliche geiftige Macht
dem Romanismus gegenüber zu fehen lernten? Hat nicht
eins ebenfo fein gefchichtliches Recht wie das andere?
Aber wir hoffen, dafs folcher Widerfpruch im Einzelnen
den Dank nicht verkürzen wird, der dem Verfaffer für
feine werthvolle Gabe gebührt. Hat gerade auf dem
Gebiete des fpanifchen Proteftantismus eine wohlmeinende
, aber ungenügend unterrichtete Dilettanten fchrift-
ftellerei manche Verwirrung angerichtet, fo ift es um fo
erfreulicher, fich hier von einem Kenner zuverläffige Belehrung
ertheilen zu laffen.

Kiel. G. Kawerau.

Tietzen, Herrn., Zinzendorf. Hier ift wer, der weifs nicht
mehr, als dafs fein Schöpfer fein Heiland ift. Gütersloh
, Bertelsmann, 1888. (VIII, 371 S. gr. 8.) M. 5. —;
geb. M. 5. 75.

Kurz nach einander haben uns die letzten Jahre drei
Darftellungen von Zinzendorf's Theologie gebracht, von
B. Becker (Z. im Verh. zu Philofophie und Kirchentum
feiner Zeit. 1886), von Ritfehl (Gefch. d. Pietismus III,
S. 195—438) und endlich die hier zu befprechende.
Tietzen's Arbeit ift zwar um 2, bez. 11Jahre fpäter er-
fchienen als die beiden erftgenannten, und das Vorwort
Hellt es auch in Ausficht, dafs fie derjenigen Becker's
theils widerfprechen, theils diefelbe ergänzen werde. Aber
der Verlauf der Unterfuchung hinterläfst doch den Eindruck
, als ob fie ohne Rückficht auf diefen Vorgänger
nicht nur unternommen, fondern im Wefentlichen wohl
auch zu Ende geführt worden ift. Für den Lefer entliehen
daraus mancherlei Unbequemlichkeiten. Namentlich
die Art, wie über Ritfchl's Darfteilung hinweggegangen
wird, als wäre fie nicht vorhanden, wird man
dem Verfaffer nicht zum Lobe anrechnen dürfen. So
eilig brauchte er es mit feiner Veröffentlichung doch
nicht zu haben, und fo unbedeutend ift jedenfalls die
letzte grofse Arbeit, welche uns Ritfehl gefchenkt hat,
nicht, dafs Tietzen fich die Mühe erfparen durfte, die
Ergebnifse der Gefchichte des Pietismus — nicht nur des
letzten Bandes — mit den eigenen auszugleichen oder
in einer für den Lefer kenntlichen Weife die Gründe anzugeben
, welche ihm jene unannehmbar machen. Denn
zwifchen Ritfchl's Arbeit und der vorliegenden befteht
fchliefslich nur ein durchgehender Gegenfatz. Bedingt
ift derfelbe zunächlt durch die verfchiedene Methode
der Forfchung. Ritfehl hat uns Zinzendorf in einem
grofsen, gefchichtlichen Zufammenhang vorgeführt, als
das in gewiffer Weife abfchliefsende Glied einer langen
Entwickelung. Für Tietzen fcheint es überhaupt ge-
fchichtliche Vorausfetzungen oder Einwirkungen nicht
zu geben. Zinzendorf's Theologie ift eine ,abfolute'
Gröfse. Sieht man von einigen dunkeln Andeutungen
ab, fo würde man aus diefem Buch die gefchichtlichen
Bedingungen nicht zu ermitteln wiffen, unter denen der
Graf gewirkt hat. In diefer Methode flicht Tietzen's
Arbeit in ungünftiger Weife auch gegen diejenige Becker's
ab. Bei dem Letztgenannten erfcheinen die bewegenden,
religiöfen Mächte der Zeit: Orthodoxie, Pietismus, Aufklärung
, wenigftens im Hintergrund von Zinzendorf's
Wirkfamkeit. Mehr wird man freilich nicht fagen dürfen.
Denn für die Bildung der eigenthümlichen chriftlichen
Frömmigkeit und Theologie des Grafen follen die genannten
Erfcheinungen des Proteftantismus doch höch-
ftens eine anregende, aber vorübergehende, in keinem
Falle eine bleibende Bedeutung gehabt haben. Zinzendorf
fleht alfo auch bei Becker den bewegenden Mächten
der Zeit fchlechthin felbftändig gegenüber. Nur

j eine fette Grundlage bleibt, wenn alles Andere wegfällt,
übrig: die ,lutherifche Volksfrömmigkeit' (Becker S. 529)-
Das ,Heimathsrecht im Lutherthum' will auch Tietzen
dem Grafen nicht wegdisputiren laffen (Vorwort VI)-
Hier tritt der fachliche Gegenfatz zwifchen Becker-Tietzen
nnd Ritfehl hervor. Denn des Letzteren Darftellung
läuft, kurz gefagt, darauf hinaus, dafs Zinzendorf's Frömmigkeit
ihr Heimathsrecht im Katholicismus, genauer im
j Mönchthum befitzt. Aber diefer Gegenfatz fcheint kein
durchgängiger zu fein. Denn das Schlufscapitel von
Ritfchl's Darftellung (Cap. 54 ,Die Theologie Z.'s') läfst
den Grafen als theoretifchen Vertreter einer Theologie
erfcheinen, die gefchichtlich ohne Zweifel Andeutungen
Luther's folgt. Wie aber Ritfehl felbft diefes Capitel mit
einer Bemerkung einleitet, die auf Ueberrafchungen vorbereitet
, fo bleibt dem Lefer am Ende derfelben kaum
etwas Anderes übrig, als der verzweifelte Seufzer: zwei
Seelen wohnen, ach, in feiner Bruft! Denn das Doppelbild
, welches die praktifch-mönchifche Frömmigkeit des
Grafen neben einer theoretifch-lutherifchen Theologie
desfelben bietet, wirkt um fo unheimlicher, als Ritfehl
die Frage unentfehieden läfst, ob Zinzendorf in feinen
theologifchen Grundfätzen felbftändig verfahren oder von
Luther direct abhängig fei (a. a. O. S. 417). Das Problem
, das hier entfteht, kann zur Rechtfertigung von
Tietzen's Unternehmen dienen, nachzuweifen, dafs Zinzendorf
,ein Theolog aus einem Gufs ift'. Denn find
jene Grundfätze wirklich die Ergebnifse felbftändiger
religiöfer Denkarbeit, fo ift die Annahme faft nicht zu
umgehen, dafs zwifchen Zinzendorf's Frömmigkeit und
feiner Theologie ein näheres Verhältnifs beftehen mufs,
als auf welches die Darftellung Ritfchl's dem Anfchein
nach fchliefsen läfst.

Tietzen theilt feinen Stoff in drei Abtheilungen:
I. Chriftus für fich, II. Chr. für uns, III. Chr. in uns. Der
erfte Abfchnitt behandelt alfo die Perfon Chrifti. Deutlich
treten in ihm einmal die Abweifung aller metaphy-
fifchen Speculation, namentlich über das Trinitätsdogma,
ferner eine fcharfe Hervorhebung der wahren und vollen
Menfchheit des Herrn, endlich die Abficht hervor, die
Gottheit Chrifti aus feinem irdifchen Lebenswerk zu gewinnen
oder an demfelben nachzuweifen. Unter die
Zahl der eigentlichen Kenotiker darf daher Zinzendorf,
wie es noch zuletzt von H. Schultz (Gottheit Chrifti S. 279)
gefchehen ift, nicht mehr gerechnet werden. Aber diele
Ausführungen fieht man durchkreuzt von einem Satz,
der an die Spitze des Ganzen geftellt ift: ,hier ift wer,
der weifs nicht mehr, denn dafs fein Schöpfer fein Heiland
ift'. Becker (a. a. O. S. 380 f.) hatte den religiöfen
Gedanken nachgewiefen, der diefem Satze zu Grunde
liegt. Ritfehl (a. a. O. S. 420t.) hatte diefen Gedanken
anerkannt, aber die Uebertreibung aufgedeckt, welche
in der Umftellung von Subject und Praedicat vorliegt.
Tietzen aber will es erklären, ,aus welchem Grunde und
mit welchem Recht' Z. eben diefen Satz zum Ausgangspunkt
für feine Theologie genommen habe. Diefen Vernich
kann ich nur als gefcheitert anfehen. Denn das
Schema der griechifchen Chriftologie, welches von dem
im Voraus feftftehenden Gottesbegriff zu der gefchichtlich
erfcheinenden Perfon des Heilands fortfehreitet, ift
der genaue Gegenfatz zu dem von Z. felbft empfohlenen
Verfahren: in der gefchichtlichen Perfönlichkeit, die alfo
den Ausgangspunkt bilden mufs, die Gottheit, im Sohne
den Vater, im Heiland den Schöpfer zu finden. Ich
darf geftehen, dafs ich es mir trotzdem viel Muhe habe
koften laffen, in Tietzen's Beweisführung die Punkte aufzufinden
, welche dies Urtheil als unrichtig zu erweifen oder
doch zu mildern geeignet wären. Aber es heifst überall
kurzweg: fo ift es; und der arme Kopf des Lefers
zermartert fich an dem unerfüllbaren Verlangen, Unvereinbares
dennoch zu vereinigen. Oder ift es mehr als
ein Pythifches Orakel, wenn Tietzen S. 47, nachdem er
eben treffende Ausführungen Z.'s über die Gottheit