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Ausgabe:

1890 Nr. 8

Spalte:

207-217

Autor/Hrsg.:

Paulsen, Friedr.

Titel/Untertitel:

System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre 1890

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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207

Theologifche Literaturzeitung. 1890. Nr. 8.

208

nifche Wirkungen, fondern um organifche Bildung handelt
, hat doch R. felbft hervorgehoben.

Giefsen. J. Gottfchick.

Paulsen, Prof. Friedr., System der Ethik mit einem Um-
rifs der Staats- und Gefellfchaftslehre. Berlin, Hertz,
1889. (XII, 868 S. gr. 8.) M. 11. —

Dies Werk zerfällt, nach einer Einleitung S. 1 —17,
die über Wefen, Aufgabe, Methode der Ethik orientirt,
in 4 Bücher. Das 1. S. 23—167 giebt einen Umrifs der
Gefchichte der Lebensanfchauung und Moralphilofophie
des Abendlandes. Das 2. S. 169—366 Unterfucht die
Grundbegriffe und Principienfragen. Das 3. S. 369—573
ftellt die Tugend- und Pflichtenlehre dar. Das 4. S. 574
bis 861 befpricht die Formen des Gemeinfchaftslebens.

Das 1. Buch führt gewiffermafsen auf das Problem
hin, welches unfere Zeit der Ethik ftellt, indem es die
gefchichtlichen Factoren der vielfach gemifchten An-
fchauungen und Beftrebungen derfelben darlegt. P. bezeichnet
die antike Lebensanfchauung, wie fie im Grunde
den Philofophen und dem Volk gemeinfam fei, als eine
naiv naturaliftifche. Die Vollendung des Menfchen als
Naturwefen in der Cultur, insbefondere im Erkennen fei
das höchfte Ziel. Die Lebensanfchauung des urfprüng-
lichen Chriftenthums bilde als eine fupranaturaliftifche
hierzu den reinen Gegenfatz. Es fordere die Ertödtung
des natürlichen Menfchen, trage den Charakter der Enthaltung
von der Welt und der Abwendung von der
Cultur an fich. Der Punkt, von welchem diefe radicale
Umwälzung vor fich gehe, fei die Gewifsheit, dafs dies
Leben nicht das wahre fei, die Hinwendung zum Jen-
feitigen. Die Bekehrung der alten Völker zum Chriften-
thum erklärt fich P. daraus, dafs in Folge der politifchen
Entwicklung allem, was bisher als Tugend gefchätzt
ward, der Boden entzogen war, dafs in Folge deffen das
tieffte Verlangen nicht mehr auf die Erhaltung des natürlichen
Lebens ging, fondern dafs man weltmüde nach
Erlöfung trachtete. Seine Werthfehätzung diefer Bekehrung
hat P. angedeutet, indem er das Chriftenthum
mit dem Buddhismus in Parallele ftellt und meint, die
Erlöfungsreligion fcheine die geiftige Schöpfung des
Greifenalters eines Volkes zu fein. Wenn nun das Chriftenthum
weiterhin in ein pofitiveres Verhältnifs zu Welt
und Cultur getreten, fo fei vom Standpunkt des urfprüng-
lichen Chriftenthums das Urtheil nicht zu widerlegen, dafs
diefe Wandlung eine Verderbung des Chriftenthums fei.
Aber der Hiftoriker muffe diefelbe als die Bedingung
dafür anerkennen, dafs das Chriftenthum nicht blofs die
Euthanafie der alten Völker, fondern ein Lebensprincip
für die mittelalterliche Welt geworden, die dem Eingehen
des Chriftenthums auf die antike Cultur und auf die
Culturtendenz der jugendlichen Völker die eigenthüm-
liche Schönheit moralifcher Bildung verdanke, die fie
verglichen mit dem Alterthum befitze (hochfinniges Rechtsgefühl
, Barmherzigkeit, Verinnerlichung des Verhältnifses
zur Frau, Umgeftaltung des Verhältnifses zwifchen Herren
und Sklaven. Einheit der Völker in der Kirche). Die
Lebensanfchauung der modernen Zeit ftehe dann unter
dem Einflufs der beiden entgegengefetzten Tendenzen,
des antiken Naturalismus und des chriftlichen Supra-
naturalismus, doch habe die naturaliftifche Tendenz das
Uebergewicht. Auch die Reformation habe, freilich ohne
Luther's Abficht, dazu mitgewirkt, dem Leben der Menfchen
die Richtung auf das Diesfeits, die Erde, die Cultur
zu geben und es von der Richtung auf das Jenfeits und
die Erlöfung zu entwöhnen. Die neue Zeit fuche den
Himmel aui Erden. Cultur, vor allem technifch wirth-
fchaftliche Cultur, begründet auf wiffenfehaftliche Er-
kenntnifs und gesichert durch vollkommene politifche
Einrichtungen, fei ihr Programm. Das eigentlich Chrift-
liche fei den Wortführern der neuen Zeit durchweg

fremd. Nachdem fie aber ihr Programm ausgeführt,
rege fich der Zweifel, ob denn durch alle Fortfehritte der
Cultur die Menfchen beffer und glücklicher geworden
feien, ja überhaupt werden könnten. Die fich angefichts
deffen aufdrängende Frage, ob etwa die Erlöfungsfehn-
fucht und die Abwendung von dem irdifch-zeitlichen
Leben mit feinen Gütern und Zwecken auch über unfere
Welt komme und die europäifche Völkerfamilie fich dem
Greifenalter nähere, beantwortet P. nicht direct, da die
Antwort von dem individuellen Lebensgefühl abhänge.
Aber man wird eine indirecte Antwort und einen Ausdruck
feines Wunfehes und feiner freilich unficheren
Hoffnung darin erblicken dürfen, dafs er einen ,rein
theoretifchen Hiftoriker' nach Abwägung der Anzeichen
abfterbenden und neu fich regenden Lebens die Ver-
muthung wagen läfst, dafs bei den europäifchen Cultur-
völkern auf das Knabenalter nicht direct das Greifenalter
folgen, fondern dafs nach der noch nicht einmal
ganz erfolgten Emancipation derfelben aus der Schule
die eigentliche Entwicklung ihres Eigenlebens erft eintreten
werde. Zum Schlufs beantwortet er die Frage
nach dem Verhältnifs des modernen Geiftes zum Chriftenthum
. Mit dem kirchlichen Dogma, fowie mit der prak-
tifchen Lebensanfchauung des urfprünglichen Chriftenthums
, mit feiner Weltenthaltung, Culturfcheu und Sehn-
fucht nach dem Jenfeits ftehe er in Widerfpruch. Aber
darum fei das Chriftenthum nicht ausgeftorben und nicht
im Begriff auszusterben. Sondern gewiffe Züge desfelben
feien dem Gemüthsleben der europäifchen Völker unverlierbar
eingegraben. Die Idee des Reiches Gottes, aus
der die Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller
Menfchen und Völker flammen, durchdringe wie ein allgegenwärtiges
Element das moderne Leben. Ferner habe,
von den beim Mittelalter erwähnten Einflüffen abgefehen,
das Chriftenthum das Verftändnifs dafür geöffnet, dafs
das Leiden eine für die volle Entwicklung des innern
Menfchen nothwendige Thatfache fei, dafs Sünde und
Schuld eine wefentliche und fehr ernft zu nehmende
j Seite des Menfchenlebens feien, dafs die Welt lebe durch
den freiwilligen Opfertod des Unfchuldigen und Gerechten
. — Es ift ja unverkennbar, dafs diefe gefchicht-
liche Charakteristik zugleich erkennen läfst, in welcher
Weife der Verf. den Werth der verfchiedenen Lebensströmungen
unferer Zeit fchätzt. Es ist deutlich, dafs
die christlichen Ideen von der Erlöfung und von einem
über das Diesfeits hinausreichenden Ziel des Lebens ihm
keine bleibende Bedeutung haben, dafs die Entfaltung
der Kräfte des Menfchen als Naturwefens in der Cultur
ihm den Inhalt des vollkommenen Lebens bedeutet, und
dafs er diefen Standpunkt nur der Erweiterung und Bereicherung
durch die humane Anfchauungsweife des
Chriftenthums für bedürftig hält. Das zeigt fich auch in
feiner Beurtheilung der modernen Moralphilofophie. Wenn
Hobbes und Spinoza im Gegenfatz zur Moral der Selbstverleugnung
die Selbfterhaltung zum Grundbegriff machen,
fo ift ihm dies nur infofern der Ergänzung bedürftig,
als zur Anerkennung kommen müffe, dafs der Selbsterhaltungstrieb
der Individuen fich gar nicht ausfchliefslich
auf die Erhaltung ihres ifolirten Eigenlebens, fondein
ebenfo unmittelbar auf die Erhaltung des Wefens richtet,
deffen Glied fie find, der Gattung. Und er rühmt Shaftes-
bury, dafs er diefe Ergänzung vollzogen, indem er die
Gesundheit des Seelenlebens in dem harmonifchen Zu-
fammenwirken der wohltemperirten Triebe, in der geordneten
Oekonomie der felbftifchen und focialen Affecte
findet, dafs er die Grundanfchauung der antiken Ethik
erneuert habe, erweitert und bereichert durch die christliche
Empfindungs- und Anfchauungsweife.

Dafs die hiftorifche Charakteriftik, aufweiche fich diefe
Anfchauung vom vollkommenen Leben gründet, wirklich
zutreffend fei, wird man doch beftreiten müffen. Es dürfte
fchon zweifelhaft fein, ob das Lebensideal der griechifchen
Philofophie, das mehr und mehr die Herrfchaft über die