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Ausgabe:

1889 Nr. 3

Spalte:

58-59

Autor/Hrsg.:

Kober, Johs.

Titel/Untertitel:

Christian Friedrich Spittler‘s Leben 1889

Rezensent:

Krauss, Alfred

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57 Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 3. 58

dem Vatikan' dar. Zuerft wird (S. 1—22) der ,Gefangene'
uns vorgeführt, der trotz feiner Gefangenfchaft bei die-
fem ,Weltfchaufpiel' dennoch ganz ungehindert als ,Hohe-
priefter. Prophet und König' auftrat, nämlich im erften
Acte bei der .goldenen Meffe' als Hohepriefter, im zweiten
bei der ,Canonifation' als Prophet und im dritten
bei der .Weltausftellung' als König. ,Es hat gehegt der
Löwe aus Juda' verkündigte begeiftert die vatikanifche
Zeitung Campana del Mezzodi (Mittagsglocke) S. 12.
,Durch feine dimostrazionc mondialc, wie durch alles,
was mit derfelben zufammenhängt, hat der Vatikan vor
aller Welt eine Erklärung abgegeben, welche er durchaus
nicht beabhchtigte, nämlich die, dafs der „Gefangene"
des Vatikan vollkommen frei ift. Von allen denjenigen,
welche ein Intereffe daran haben, ward diefe Erklärung
ftillfchweigend notirt' (S. 22).

,Die Erfolge' lautet der Titel des zweiten, nicht
weniger lehrreichen Abfchnittes (S. 23—41). Sie waren
keineswegs fo grofsartig, wie man die Welt glauben
machen wollte, denn ,aus der Zahl der Pilger erhellt die
Thatfache, dafs 999,0oo der etwa 200 Millionen Katholiken
hch weder um den Papft noch um fein Jubiläum gekümmert
haben. Die Zahl der deutfchen Pilger, welche
Ende Februar d. J. zum Jubiläum nach Rom kamen, beträgt
nur 672!' (S. 32). Und doch hatten die Eifenbahn-
verwaltungen den Fahrpreis um 5O°/0 ermäfsigt! Auch
erlebte man im Vatikan die bittere ,Täufchung', dafs
kein einziges gekröntes Haupt hch, wie man beftimmt
erwartet hatte, zum Jubiläum einheilte, nicht einmal Dom
Pedro von Brahlien; der König von Italien aber ,hat dem
Papft weder Glückwunfeh noch Gaben gefchickt. Diefe
vor aller Welt, vor der ganzen katholifchen Kirche ge-
fchehene That des Königs von Italien mag anderen
Fürften zur Befchämung gereichen. Er erklärt damit auf
gut deutfeh diefes: Kein Katholik hat die Pflicht, die
Beftrebungen, welche der Papft mit feinem Jubiläum verfolgte
, zu unterftützen .... König Umberto hat einft
die Augen aller feiner Unterthanen auf hch gezogen, als
er, wie ein wahrer Landesvater, zu Neapel erfchien und
dort die entfetzlichhen von der Cholera heimgefuchten
Quartiere befuchte. Seit jenen Tagen umgiebt ihn die
Liebe und Verehrung feines ganzen Volkes, und keine
Stimme hat es gewagt, den edlen König deshalb zu
tadeln, weil er das Jubiläum des Papftes einfach

ignorirte.....Vielfach ift aufserhalb Italiens die

Meinung verbreitet, dafs der Papft und St. Petrus bei dem
italienifchen Volk den Mittelpunkt des religiöfen Be-
wufstfeins und des religiöfen Gewiffens bilden. Wer das
behauptet, fagt die Unwahrheit. Nirgends auf Erden
hat man ein fo geringes Intereffe für den Papft,
als in Italien, das gilt hauptfächlich von dem ganzen
Süden des Landes' (S. 34. 35). Darum kümmert man hch
aber im Vatikan nicht, fondern vergöttert den Papft gerade
fo, wie einft das alte Rom feine Cäfaren vergötterte.
Er wird ,Alto Santo', ,Löwe aus Juda', ,Stern aus Jakob',
der .Grundftein' genannt. ,In ihm erfüllt hch Jer. (foll
heifsen Jef.) 60: Diefe alle kommen verfammelt zu dir'.
Er ift der ,Uomo portentoso' (wunderbare Mann), er wiederholt
Gethfemane und Golgatha'. Er ift ,fo unveränderlich
wie Gott', der .hchtbarc Gott auf Erden', der
, Vicc-Dio' (S. 39), der ,G enius des Chriftenthums' (S. 4°)-
Was der Papft in Wirklichkeit ift, zeigt Trede mit
freimüthiger Wahrheitsliebe im dritten, ,Leo XIII.' über-
fchriebenen Abfchnitte (S. 42—72). Nach feinem Urtheil
fehlt dem Papfte die ,wiffenfchaftliche theologifche Bildung
' (S. 45. 64—71), ift er auch kein wirklicher Beförderer
von Kunft und Wiffenfchaft' (S. 46—53), ermangelt
feine ,Mildthätigkeit' ebenfalls des Ruhmes (S.
53—58) und läfst feine .Charakterftärke' fehr zu wünfehen
übrig (S. 58—63). ,Was bleibt nach, wenn alle den Papft
umringenden Weihrauchwolken in Dunft zerrinnen? Was
bleibt nach, wenn Prunk und Pracht von ihm abfallen,
wie dürre Blätter? — Es bleibt die Perfon eines ge-

fchickten Diplomaten mit traditionellem Einhufs, es bleibt
die politifche Bedeutung des päpftlichen Stuhles, die
es veranlafst haben mag, dafs auch proteftantifche Fürften
hch beim Jubiläum vor dem Papft verneigten. Der
Diplomat auf dem Stuhle Petri hafst und verdammt die
Proteftanten und Türken, wenn he ihm aber Ehre und
Gaben bringen, hat er he gern' (S. 71;. Wir wollen als
gute Proteftanten diefen Hafs des Papftes geduldig hinnehmen
. Es wird beffer fein, als wenn wir ihm huldigen.
Trede's treffliche Charaktcriflik Leo's XIII. aber fei jedem,
der hch eine genaue Kenntnifs vatikanifcher Verhältnifse
erwerben will, zur Berückhchtigung beftens empfohlen!
Zu bemerken bleibt uns nur, dafs Luther: ,Ein' fefte
Burg ift unfer Gott' nicht in feiner ,Gefangenfchaft' auf
der Wartburg gedichtet hat. Das Lied ift früheftens im
Jahre 1527, vielleicht aber erft 1529 verfafst (Vergl.
Köftlin, Martin Luther Bd. 2. S. 182. 650. 728. 3. Aufl.).

Crefeld. F. R. Fay.

Kober, Johs., Christian Friedrich Spittler's Leben. Mit Spitt-
ler's Portrait in Stahlft. Bafel, Spittler, 1887. (XIV,
356 S. gr. 8.) M. 4. —; geb. M. 5. 60.

Ein langes Leben, von 1782 bis 1867 reichend, von
1 dem in vollftem Mafse gilt, dafs es köftlich gewefen,
weil es voller Mühe und Arbeit war. Ohne akademifche
I Vorbildung als igjähriger Jüngling aus Württemberg nach
Bafel als zweiter Secretär der deutfchen Chriftenthums-
gcfellfchaft berufen und heben Jahre fpäter dehnitiv als
j deren erfter Secretär angefleht, wirkte Spittler bis an
! fein Lebensende in diefem Centrum füdweftdeutfehen
Pietismus in unermüdlichfter Weife theils als Comitemit-
glied, theils als Stifter für die mannigfaltigften Werke
der innern und äufsern Mifhon, und jetzt noch geben
blühende Anhalten Zeugnifs von feiner nimmer raffenden
Thätigkeit. Es genügt, an die unter feiner Beihülfe in's
Leben gerufene BafelerMifhonsanftalt, an Beuggen, an
fein eigenftes Werk, die Chrifchona, an Maienbühl, an die
Pftngftweide, an die Anftalten in Jerufalem und an die
abyfhnifche Mifhon zu erinnern. FYeilich gediehen nicht
alle feine faft unzählbaren ,Gründungen'. Aber der erfahrene
.Bettler' liefs hch niemals entmuthigen, und feine
Freunde, unter denen in Bafel wohl alle pietiftifch Ge-
finnten und auch Andere hch befanden, fchoffen ftaunens-
werthe Summen für die Verwirklichung feiner nie ausgehenden
Pläne zufammen. Dazu kam eine ausgedehnte
Correfpondenz und der Verkehr mit fo vielen hervorragenden
Männern und Frauen, die in der Schweiz, in
Württemberg, in Baden, im Elfafs und weit darüber hinaus
ihm gehnnungsverwandt waren. Dafs es viele Kämpfe
und Auseinanderfetzungen mit Gegnern und mit Gleich-
ftrebenden gab, ift felbftverftändlich. Ich nenne nur de
: Valenti, de Wette und Jofenhans.

Dies alles erzählt uns der Verf. als warmer Verehrer
des chriftlichen Liebeshelden. Seine Sprache ift ganz
diejenige, welche das Volk an den Mifhonsfeften zu hören
liebt und zu hören bekommt. Dafs Spittler (S. 343) nicht
immer den geraden Weg zur Erreichung des Zwecks
gegangen fei, will er nicht zugeben. Ueberhaupt liebt
er es, wo nur möglich, wunderbares Eingreifen Gottes
zu fehen und Spittler felbft, der grofse Klugheit befafs,
fand für alle feine Entfchlüffe, wann he zur Reife gediehen
waren, immer einen Wink von oben und eine
fpecielle göttliche Ermächtigung. Eine Stelle (S. 133)
ilt hierfür fehr lehrreich. Es handelte hch um ein be-
fonderes Anwefen für die bisher in Beuggen untergebrachte
, aber immer gröfser werdende Taubftummenan-
1 Malt. ,Bald da bald dort zog Spittler ein Angebot in
| Erwägung, konnte aber immer keinen klaren Wink vom
Herrn darin hnden, bis ihm eines Tags ein fchönes Gut
in Riehen von einem reichen Bafeler um mäfsigen Preis
I angeboten wurde. Die Verwandtfchaft, hiefs es, wünfehe