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Ausgabe:

1889 Nr. 2

Spalte:

40

Autor/Hrsg.:

Zschimmer, W.

Titel/Untertitel:

Eine Gustav-Adolfs-Reise durch Apulien und Sicilien 1889

Rezensent:

Eck, Samuel

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Seite 1

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39 Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 2. 40

eines ruffifchen Beamten in Riga 18461 fowie die vortrefflichen
,allerunterthänigftenBerichte' undDenkfchriften
des Generalgouverneurs (1848 — 61) Fürften Suvvorow
(S. 254 ff. 299 f. 321 ff.). Die jüngft in zudringlicher
Dreiftigkeit erhobene Forderung: audiatur et altera pars,
findet hier eine für den unberufenen Mahner gewifs
wenig erwünfchte Befriedigung. Denn gerade Ruften
find es, welche in beredten Worten als Anwälte des
Deutfehthums auftreten, unter ihnen neben dem mit be-
fonderer Liebe gezeichneten, weitherzigen und weitblickenden
, Fürften Suworow, kein Geringerer als Alexander II.
Ihm werden die Balten, trotz aller offenbaren Fehler feiner
Regierung wie feiner Perfönlichkeit, gewifs immer ein
dankbares Andenken bewahren.

Scheinbar find die einzelnen Abfchnitte des Buches
lofe an einander gereiht. Aber bei näherem Zufehen
findet man bald, wie der Verfaffer in gefchickter Weife
drei Angriffe verfolgt, deren einheitlicher Ausgangspunkt
ebenfo wie ihr gemeinfames Findziel fich Anfangs unter
mancherlei einzelnen, zufammenhangslofen Mafsregeln
verbirgt, um erft allmählich deutlicher hervorzutreten.
Die Geheimpolizei mit ihrer brutalen Gewalt Hellt den
erften Fühler dar, den die ruffifche Gefellfchaft, an die
unbedingte Selbftherrfchaft des Zaren gewöhnt, nach dem
eigenartigen Leben an der Oftfee ausftreckt. Es folgt
der Angriff auf die Schule, und endlich derjenige auf die
Kirche. Regelmäfsig find die Angreifer zum Voraus
eines leichten Sieges gewifs. Ebenfo regelmäfsig werden
diefe Einzelangriffe zurückgefchlagen. Vereint marfchiren
die getrennten Colonnen heute: ein Zar, eine Sprache,
ein Glaube. Dagegen fcheint die Abwehr nicht noth-
wendig ein ebenfo einheitliches Gepräge annehmen zu
müffen. Gegenüber jener vollen Identität von Recht,
Cultur und Glaube fcheint fich hier eine nothwendige
Abftufung in der Schätzung jener Güter und damit zugleich
eine abgeftufte Entschiedenheit in ihrer Verteidigung
zu ergeben. Allein diefes Buch im Ganzen und
namentlich ein Abfchnitt desfelben ift in hohem Grade
geeignet, die richtige Betonung diefer evangelifchen
Werthunterfcheidung auf ihr gehöriges Mafs zurückzuführen
. Auf S. 40 — 79 befpricht Verfaffer auf Grund
von zeitgenöffifchen Nachrichten die Wirkfamkeit der
Frau von Krüdener in Kur- und Livland (1818—23). In
ihr erfcheint ein Mitglied jener innerlichen Kirche, deren
Haupt der Herr ift', eine ,von Gott dem Herrn und Jefus
Chriftus Gefandte, berufen, das wahre Chriftenthurn zu
verbreiten'. Aber diefer Beruf äufsert fich, abgefehen
von communiftifchen Tendenzen, nicht nur in einer ab-
fichtlichen Geringfehätzung aller blofs-rechtlichen Ordnung
, fondern ebenfo in fchwärmerifchen Reden von und
zu der hl. Mutter Gottes, fowie der Abficht, auf ihrem
Gut in Koffe eine griechifch-orthodoxe Kirche zu erbauen
, wiewohl für diefes Project kaum eine Gemeinde
vorhanden war. Der ruffifche Minifter mufs feine Verwunderung
darüber ausfprechen, dafs fie gegen den Bau
einer proteftantifchen Kirche als Grund anführt, ,fie
werde niemals zugeben, dafs in der der hl. Mutter
Gottes geweihten Kirche ein Neolog gegen die Göttlichkeit
des Erlöfers predige' (S. 66). Das ift das Ende.
Ausgehend von einer übergeiftigen Gleichgültigkeit gegen
alle rechtlichen Formen langt diefe evangelifche Prophetin
der hl. Allianz bei einer eigentlichen Verhöhnung der
proteftantifchen Kirche an, und ebnet, fo viel an ihr
ift, der fremden Orthodoxie, noch lange ehe diefe felbft
daran denkt, die Wege. Wem fällt nicht dabei unwillkürlich
Zinzendorf, Herrnhut und der Agitator Ballohd
ein? Stimmen gegenüber, wie man fie wohl hören kann,
die den Kampf um die eigenartige Cultur von demjenigen
um die proteftantifche Kirche gefchieden wiffen
wollen und bis in höchfte kirchliche Kreife hinein fehr
leifetretende Tendenzen verfolgen (dem gegenwärtigen
Generalconfiftorium in Petersburg wird auf S. 358 mit
Recht geringes Lob gefpendet), wird man auf diefe traurigen
, gefchichtlichen Vorfpiele hinweifen dürfen und
müffen. Gottes Wege freilich kennen wir nicht. Aber
es dürfte auch fchwerlich unfer Beruf fein, fie durch-
fchauen oder gar anbahnen zu wollen. Sicher aber ift,
dafs jener einheitlichen Macht gegenüber die evangelifche
Kirche in Baltifchen Landen fo durchweg mit den
Formen deutfehen Rechts und deutfeher Cultur verknüpft
erfcheint, dafs fie nur mit einander gewinnen und
nur mit einander verlieren können. In diefem Sinne gehören
nicht blofs einzelne Abfchnitte diefes Buches (,Aus
den religiöfen Wirren der 40er Jahre', S. 239 — 70, ,Die
Rückbewegung der Convertiten', S. 309—58.) unmittelbar
der Kirchengefchichte an. Der Frage nach einer möglichen
Collifion der Pflichten ift der von tieferu Ernft erfüllte
Verfaffer nicht aus dem Wege gegangen. Wer
feine Antwort lieft, die er auf den letzten Seiten feines
Buches zu geben fucht, wird fich wärmften Mitgefühls
für diefe örtlichen Vorkämpfer deutfeh - proteftantifchen
Lebens und Glaubens nicht erwehren können und
wollen. ,Wir gehorchen, aber wir bleiben flehen'.

Rumpenheim. S. Eck.

Zsc himmer, Superint. Dr. W., Eine Gustav-Adolfs-Reise
durch Apulien und Sicilien in Briefen. Halle, Strien,
1888. (V, 132 S. 8.) M. 2.—

Eine Guftav-Adolfs-Reife, aber nicht zum Befuch von
Gemeinden der Waldenfer oder der Chiesa libera, fondern
zur Sammlung zerftreuter Deutfeher evangelifchen
Glaubens, hat den um die Arbeiten der Diafporacon-
ferenz wohlverdienten Superintendenten Zfchimmer-Beich-
lingen im Winter 86,87 nach Apulien und Sicilien geführt.
Die erfte Anregung ging von den evangelifchen Pfarrern
in Rom und Genua aus. Der Berliner Oberkirchenrath
hatte die Sache in die Hand genommen, der Central-
vorftand der G.-A.-Stiftung die, freilich ungenügenden,
Mittel geboten. In Briefen an einen Freund in der Heimath
berichtet Zfch. über Erlebnifse und Ergebnifse
feines Aufenthalts im Süden. Wohlthuend berührt
ebenfo die Freude, mit der ihm überall herzlicher Empfang
bereitet, wie die Willigkeit, mit der auf feine
Abfichten eingegangen wird. Wer die Schwierigkeiten
und Opfer ermifst, mit denen Gemeindegründungen in
der Diäfpora verknüpft find, wird es als einen reichen
Erfolg zu fchätzen wiffen, dafs durch halbjährige Arbeit
die Bildung dreier Gemeinden in Bari, Meffina und Palermo
gefichert erfcheint. Dafs von all' den fchönen
Dingen, um deretwillen der Deutfche fonft über die Alpen
geht, in dem Büchlein weniger die Rede ift, brauchte
kaum wie entfchuldigend bemerkt zu werden. Für die
lebendige und anziehende Schilderung des Lebens der
deutfehen Kreife wird jeder Lefer dem Verf. herzlich
Dank wiffen, und ebenfo jeder den Wunfeh des Verf.'s
theilen, dafs fich die anfpruchslofen Blätter geeignet er-
weifen möchten, in höherem Grade als bisher unfern
Blick und unfere Sorge auf ,die Hausgenoffen, d. i. die
Deutfehen' in Italien zu richten.

Eine faft aufregende Neuigkeit, freilich älteren Datums
, wird auf S. 20 mitgetheilt. ,Merkwürdiger Weife
war der Cardinal Pecci der einzige italienifche Prälat,
der im J. 1870 bei der Abftimmung über das Unfehlbarkeitsdogma
mit Non placet ftimmte'. Zu feinem eigenen
Schaden hat er das leider doch nicht gethan. Er fäfse
fonft heute fchwerlich als Gefangener im Vatican. S.
Hafe, Polemik4, S. 185, Anm. 91.

Rumpenheim. S. Eck.

Dreyer, Superint. Dr. Otto, Undogmatisches Christentum.

Betrachtungen eines deutfehen Idealiften. Braunfchweig,
Schwetfchke & Sohn, 1888. (VIII, 100 S. gr. 8.) M.

2. —

Von diefer Schrift ift jüngft, noch in dem Jahr ihres